Loe raamatut: «Angriff auf die Demokratie»

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Andre Wolf:

Angriff auf die Demokratie

Lektorat:

Andreas Görg

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz

ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-491-2

ISBN E-Book 978-3-99001-492-9

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Demokratie muss wehrhaft sein!

Inhalt

Das schleichende Gift

Was ich mir mit diesem Buch vornehme

Der Angriff auf die Demokratie

Zunehmendes Schweigen in Eleutheria

Die Not bringt uns ins Taumeln!

Wohin gehen wir?

DAS SCHLEICHENDE GIFT

Vor Empörung riss es mich vom Schreibtischsessel hoch. Wie konnten die Kindergärtnerinnen so etwas zulassen? Die Männer mit dem weißen Lieferwagen direkt vor dem Kindergarten. Rumänisches Kennzeichen. Die kleinen Kinder vertrauensselig, angelockt, kommen zum hüfthohen Zaun. Wo war die Aufsicht? Den Zorn der jungen Mutter, deren Posting ich auf Facebook las, konnte ich nachfühlen. Sie und ihre Kinder wohnten in meiner Nachbarschaft. »Wenn ich meine Kleinen im Kindergarten abgebe«, schrieb sie offensichtlich wutentbrannt, »erwarte ich, dass sie beschützt werden. Was da hätte passieren können, nicht auszudenken.«

Zu ihrem Posting gab es eine ganze Reihe von Kommentaren: »Als Frau traue ich mich sowieso kaum noch aus dem Haus. Aber wenn es um Kinder geht, sofort die Polizei rufen.«

»Die Polizei ist doch machtlos«, kommentierte ein Mann, den ich ebenfalls aus der Nachbarschaft kannte. »Ich habe einen Cousin bei der Polizei. Der kann ein Lied davon singen. Die Kinder werden nach Osteuropa gebracht. Organmafia. Es wird alles immer schlimmer!«

Als ich diese Zeilen las, war ich noch jung und gerade meiner Ortsgruppe auf Facebook beigetreten. Ich wohnte damals in einem kleinen Ort in Deutschland. Etwa 20.000 Einwohner, alles recht überschaubar. Eigentlich war ich auf Facebook, um mich mit anderen Menschen über mein damaliges Hobby – Autotuning – auszutauschen. Der Ortsgruppe war ich eigentlich nur beigetreten, weil ich neugierig war und wissen wollte, was die Menschen in meiner Nachbarschaft beschäftigte. Dass da praktisch vor meiner Haustür beinahe Kleinkinder entführt worden waren, um ihnen die Organe zu entnehmen, erschütterte mich tief. Aufgewühlt lief ich vor dem Computer auf und ab. Ja, so naiv war ich damals.

Aber nach ein paar Minuten kam mir die Sache dann doch komisch vor. Was war eigentlich passiert? Da hatte ein weißer Lieferwagen vor dem Kindergarten geparkt. Männliche Besatzung, rumänisches Kennzeichen, soll schon mal vorkommen. Hatten die Männer irgendetwas Auffälliges getan, um die Kinder zum Zaun zu locken, etwa Süßigkeiten angeboten? Davon war keine Rede. Wie kam die junge Mutter eigentlich darauf, dass es da eine Entführungsabsicht gegeben hatte? Woher wollte sie eigentlich so genau wissen, dass die Kindergärtnerinnen nicht ohnehin ein Auge auf die Kinder auf der Spielwiese gehabt hatten? Und wieso waren mir diese ganzen Ungereimtheiten nicht sofort aufgefallen?

Ich setzte mich also, naiv wie ich bei meinen ersten Gehversuchen auf Facebook war, wieder an den Computer und begann zu recherchieren. Das war mein erster Faktencheck.

Zum allerersten Mal in meinem Leben recherchierte ich, ob die Aussagen von irgendwelchen Menschen im Internet überhaupt der Wahrheit entsprechen konnten. Gut, zugegeben, meine Recherche war noch recht unbeholfen. Über die Eingabe von passenden Schlagworten in eine Suchmaschine wollte ich herausfinden, ob in unserem Ort wirklich eine versuchte Kindesentführung mit einem weißen Lieferwagen gemeldet worden war. Heute würde ich diese einfache Suche gar nicht mehr als Recherche bezeichnen. Doch wie ich heute mit ein wenig Abstand weiß, war mein Ansatz zumindest vom richtigen Impuls getragen: Bei dramatischen Inhalten kurz zurücklehnen und die Sache nüchtern prüfen. Nur so lässt sich einer Falschmeldung überhaupt auf die Spur kommen.

Das Ergebnis meiner Nachforschungen in diesem Fall war erschütternd. Nicht nur in unserem Ort hatte eine versuchte Kindesentführung mit Hilfe eines weißen Lieferwagens aus Rumänien angeblich stattgefunden, sondern laut Social-Media-Posting in unzähligen anderen Orten. An meinem ersten Eindruck zeigt sich, wie unbedarft mein Vorgehen war. Immerhin konnte ich dieses Suchergebnis nicht so recht glauben.

Also suchte ich weiter und kam dann doch recht schnell zu dem Schluss, dass diese gesamte Geschichte nichts anderes als ein Schauermärchen sein konnte, welches von Ort zu Ort weitererzählt wurde. Überall waren angeblich Rumänen im weißen Lieferwagen, aber nirgends gab es Meldungen über konkrete Kindesentführungen. Trotzdem gab es überall dieselben Reaktionen. Eltern waren verunsichert, schimpften über Schulen, Erzieher oder die Polizei. Also überall dasselbe Ergebnis, obwohl nirgendwo wirklich ein Kind mit einem weißen Lieferwagen entführt worden war.

Erst viel später wurde mir klar, warum gerade diese Geschichte über die vermeintliche Kindesentführung im weißen Lieferwagen in vielen Städten und Ortschaften so leicht Verbreitung findet. Diese Geschichte, die zunächst völlig unpolitisch klingt, hat tatsächlich einen handfesten politischen Kern. Wie ich mittlerweile weiß, steckt hinter diesen Gerüchten um Kindesentführer aus Südosteuropa tatsächlich ein brutales politisches Motiv. Doch dieses bemerken die meisten Fake-Weiterverteiler gar nicht, da sie in ihrer eigenen Gefühlslage gefangen sind.

Diese Befangenheit bekam ich recht schnell zu spüren. Hat schon mal irgendwer einer Mutter widersprochen, die Angst um ihre Kinder hat und aus diesem Grund eine Falschmeldung glaubt? Möchte sich jemand einer Löwin entgegenstellen, die ihre Jungen in Gefahr sieht? In meiner Naivität schrieb ich ihr, dass die Geschichte eine Art Kettenbrief sein dürfte, der bereits an verschiedenen Stellen auf Facebook zu finden sei.

Ihre erste Antwort war nahezu ein Schlag ins Gesicht: Wie könne ich sie nur als Lügnerin darstellen und ob ich es gut finden würde, dass Kinder entführt werden?

Klassischer Fall. Der Überbringer der Nachricht wird zum Schuldigen gemacht und als das Böse dargestellt, womit er sich für den weiteren Gesprächsverlauf disqualifiziert. Doch ich ließ nicht locker und verlinkte ihr Presseberichte der Polizei aus anderen Orten, die bereits beschrieben, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. Die Polizei! Das musste doch wirken. Schon wieder einer meiner naiven Gedanken. Nein, auch mit einer Pressemitteilung der Polizei im Gepäck war die junge Löwin nicht zu überzeugen. Ich fragte sie, ob sie denn den Lieferwagen gesehen und einen Entführungsversuch beobachtet hätte. Das hatte sie jedoch nicht. Die Angaben hätte sie von ihrer Freundin bekommen und die würde sie ja nicht belügen. Ihre Freundin hätte das auf Facebook gepostet und da könnte ich das ja lesen.

Zu meinen zehn Minuten Recherche kamen mittlerweile fünfzehn Minuten Streitdialog, der nun kurz vor seiner Auflösung stand: Die Freundin hatte mittlerweile das Posting gelöscht. In diesem Moment fanden meine Argumente auf einmal einen Zugang zu der jungen Mutter. Die Kombination aus sachlicher Recherche, einer nüchternen Pressemitteilung der Polizei und der nicht mehr existenten Warnung ihrer Freundin konnten die junge Frau überzeugen, dass es doch keinen Entführungsversuch vor unserem Kindergarten gegeben hatte. Wir konnten uns versöhnlich noch einen schönen Tag wünschen. Jedoch blieb ein schaler Nachgeschmack, als sie zum Schluss schrieb:

»Es ist ja zum Glück nichts passiert, aber besser einmal zu viel gewarnt als zu wenig!«

Genau an dieser Stelle errang die Falschmeldung am Ende doch noch einen ganz kleinen, heimlichen Sieg. Eine gewisse manipulative Botschaft ist hängengeblieben: Wir haben Glück gehabt, dass nichts passiert ist. Beinahe wäre es passiert. Daher ist es gut, wenn wir einander warnen. So als müssten wir ständig in berechtigter Angst leben.

Damit hat die junge Frau ihr Verhalten vollends gerechtfertigt. Die Manipulation hat bei ihr gewirkt. Diese Manipulation, dieses Einpflanzen der Grundangst und des Misstrauens, beeinflusst uns in unserem Verhalten. Solche Verhaltensmanipulationen finden an vielen Stellen auf Social Media statt. Es ist eine schleichende Manipulation, die wir anfangs gar nicht bemerken. Leider bemerken viele Menschen auch weiterhin nicht, was da eigentlich mit ihnen passiert. Bis es zu spät ist. Bis Angst und Misstrauen zu ihrer Grundhaltung geworden sind. Diese Grundhaltung bildet eine gewaltige Hürde in der Kommunikation. Rationale Argumente können diese Hürde kaum noch überwinden.

In unserem Umfeld

Diese massive Störung der Kommunikation führt mitunter zu Katastrophen auf zwischenmenschlicher Ebene. Diese Katastrophen passieren in unserem sozialen Umfeld. Die meisten von uns haben bereits leidvolle Erfahrungen damit gemacht. Manchmal spaltet diese schleichende Manipulation sogar die kleinste gesellschaftliche Zelle, die Familie.

Damit war meine alte Schulfreundin Nadine konfrontiert. Zu spät bemerkte sie das schleichende Gift, das ihren Mann Stephan über wenige Monate hinweg befiel.

Nadine und ich gingen viele Jahre lang gemeinsam zur Schule und waren all die Jahre gut befreundet. Über die Freundschaft hinaus ergab sich nie eine Beziehung, auch wenn es von außen manchmal so aussehen konnte. Es war halt so eine Best-Buddies-Beziehung. Wir gingen gerne miteinander einen trinken oder machten irgendwelchen Quatsch. Umso weniger verstand ich, warum Nadine ausgerechnet Stephan heiratete.

Stephan war das totale Gegenteil von mir. Er war extrem solide, dachte in seinen frühen Zwanzigern schon an Familie, Haus und ans Bäume-Pflanzen. Auch seine berufliche Laufbahn war sehr solide. Vielleicht war es das, was Nadine immer wollte. Am Ende eine Sicherheit, eine Familie, Geborgenheit und ein Heim. Bei mir sah das aufgrund meines Studiums völlig anders aus. Es war stets ungewiss, wo ich beruflich landen würde, und genauso ungewiss, wo ich überhaupt leben würde. Wahrscheinlich spürte Nadine, dass ein Verbleib in meinem Heimatort keine sonderlich reizvolle Option für mich war.

Letztendlich heirateten die beiden, bekamen eine Tochter, Stephan baute ein Haus und nahm dafür auch ein Darlehen auf. Also alles völlig normal und solide. Auch mein Leben lief in etwa so, wie ich es befürchtet hatte. Wie nicht anders zu erwarten, verließ ich meinen Heimatort, zog weit weg, ins Ausland, studierte, war in der Privatwirtschaft für IT und Kommunikation zuständig und landete letztlich als Faktenchecker bei Mimikama in Wien.

Als ich dann wieder einmal auf Heimaturlaub war, traf ich nach langen Jahren Nadine wieder.

Es war ein grauer Novembernachmittag. Die Blätter waren bereits von den Bäumen gefallen. Der leicht modrige Geruch des faulenden Laubs lag über der Stadt. Die Sonne war seit Tagen nicht zu sehen gewesen und die feuchtkalte Luft wies darauf hin, dass der Winter vor der Tür stand. Eigentlich nicht das richtige Wetter für einen Spaziergang durch die Innenstadt. Aber da ich selten zu Besuch war, wollte ich auch rausgehen. Es war also Zufall, dass ich Nadine traf.

Ich bemerkte sie zuerst. Sie sah alles andere als glücklich aus. Gebeugt, bedrückt. Immerhin zauberte die Wiedersehensfreude ein Lächeln in ihr Gesicht. Wir nahmen uns an diesem Nachmittag spontan Zeit und setzten uns in ein Café. Gemütliches Ambiente. Auf den Tischen standen Kerzen, der Raum hatte eine angenehme, fast schon zu warme Temperatur. Die dick gepolsterten Sitze waren wie die Temperatur im Raum: angenehm, aber doch ein klein wenig zu viel. Jedenfalls ein angenehmer Ort, um ein ausgedehntes Gespräch zu führen. In dieser Atmosphäre bemerkte ich recht schnell, dass irgendetwas mit Nadine nicht stimmte.

Nach anfänglichem Small Talk brach sie unvermittelt in Tränen aus. Leise schluchzend erzählte sie von ihrem anfänglich guten Leben, von einer stabilen Normalität, bis zu diesem verfluchten Tag. Dem Tag, als Stephan seine Arbeit verlor. Sparmaßnahme des Unternehmens. Stephan war daraufhin viel zu Hause, machte viel an Haus und Garten und das war auch gut so.

Doch leider verlief seine Jobsuche nicht so, wie er sich das erhofft hatte. Das wirkte sich natürlich auch auf seine Laune aus. Er fragte sich, warum ausgerechnet er es jetzt so schwer hatte. Dazu kam der Druck wegen dem Hauskredit und der selbstauferlegte Druck, als Mann seine kleine Familie ernähren zu müssen. Stephan suchte im Internet nicht nur nach Jobs, sondern auch nach Antworten, die ihm seine Misere erklärten. Antworten, die er auf Social Media fand, die seine Erwartungshaltung erfüllten.

Stephan konsumierte Informationen, die sein vermeintliches Scheitern in einem anderen Licht darstellten. Da war die Rede davon, dass die Regierung lieber Fremde ins Land holen würde, anstatt den eigenen Bewohnern Arbeit und Sicherheit zu bieten.

Verschiedenste Verschwörungsmythen bekam Stephan auf Facebook oder YouTube zu Gesicht. Da hieß es, die Bevölkerung würde ausgetauscht werden, die eigenen Traditionen würden wegen einer gewollten Islamisierung absichtlich zerstört, der Staat, in dem Stephan lebte, würde gar nicht wirklich existieren. All diese vielen Geschichten veränderten Stephan. So erzählte es mir Nadine, während sie mit zitternden Händen ihre Kaffeetasse hielt.

Ihre Stimme war schwach, nicht so laut und forsch wie früher, sondern offensichtlich geprägt durch die letzten Jahre. Ihr Kaffee war wohl mittlerweile längst kalt, da sie während der langen Erzählung selten und immer nur in kleinen Schlucken aus der Tasse trank. Ihr Wesen kam mir verändert vor. Früher hätten wir niemals einen ganzen Nachmittag in einem Café verbracht. Wir wären trotz der Kälte draußen herumspaziert und hätten unsere Probleme mit einer Dose Bier in der Hand diskutiert und zerpflückt. Nun saß Nadine da, starr und verheult, und breitete ihr ganzes Leid vor mir aus.

Sie erzählte mir, Stephan sei jetzt ein sogenannter Reichsbürger. Reichsbürger würden die Souveränität und Autorität des Staates nicht anerkennen. Deswegen wolle Stephan auch keine Steuern mehr zahlen. Er habe mittlerweile sogar eine Art Fantasieausweis, mit dem er sich als Bürger des Deutschen Reichs ausweise. Die Bundesrepublik Deutschland? Gäbe es für ihn nicht! Die sei doch nur eine GmbH. Eine Firma. Ein Marionettenstaat, gelenkt von den Siegermächten. Das Volk werde nur unterdrückt. Angela Merkel wäre eine Diktatorin und Freiheit gäbe es in diesem Regime für niemanden.

Stephan bezog sein vermeintliches Geheimwissen über YouTube-Videos, aus diversen WhatsApp-Gruppen und über Facebook-Seiten, deren Betreiber anonym blieben. Aber das spielte für Stephan keine Rolle, denn es waren ja die »Merkel-Propaganda« und die Lügenpresse, welche die Wahrheit zu unterdrücken versuchten.

Anfangs war es für Nadine eigentlich immer nur peinlich, wenn Stephan auf Familienfesten die wilden Geschichten erzählte, die er aus dem Netz bezog. Oder wenn er wieder mal das neueste YouTube-Video im Freundeskreis zeigte und laut behauptete, Merkel sei doch die Tochter von Adolf Hitler.

All das war Nadine zwar unangenehm, doch sie liebte Stephan. Außerdem war ihre Existenz vom Funktionieren ihrer Ehe abhängig. Das glaubte Nadine zumindest damals. Doch als dann irgendwann die Polizei vor der Tür stand, merkte Nadine, dass es langsam zu viel wurde. Stephan hatte sich geweigert, ein Bußgeld zu zahlen. Er sagte den Polizisten ins Gesicht, dass sie hier überhaupt keine Befugnisse hätten. Sie wären keine Vertreter der Obrigkeit, sondern würden für eine GmbH arbeiten.

Neben den wachsenden wirtschaftlichen Problemen der kleinen Familie tat sich nun also noch ein größeres Loch auf. Stephan kam immer häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Nadine tat ihr Möglichstes, um mit der Situation einigermaßen zurechtzukommen. Um den wirtschaftlichen Ruin abzuwenden, nahm sie zwei Aushilfsjobs an. Zudem übernahm sie noch den Haushalt und die Betreuung der kleinen Tochter, da Stephan sich vollends in seine Online-Welt verkroch.

Nadine stellte ihre Kaffeetasse ab. Tränen liefen ihr einmal mehr über die Wangen. Ihr Mascara war verschmiert. Krampfhaft suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Ich stand auf und nahm sie in den Arm. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Verschwörungsmythen sogar Familien zerstören können. Vor allem nicht die Familie einer sehr lieben Freundin.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Nadine sich wieder gefasst hatte. Das endgültige Ende war für sie an dem Punkt erreicht, als Stephan ihr verbieten wollte, ihre kleine Tochter gegen Krankheiten impfen zu lassen. Zwar lassen sich gegen das Impfen von kleinen Kindern auch vernünftige Gründe anführen. Doch Stephans Gründe waren völlig absurd. Er meinte, Impfungen seien ein Instrument der Kontrolle. Regierungen würden Impfungen fordern, um Kinder bereits früh gleichzuschalten, sodass sie keinen eigenen Willen entwickeln würden. Als es um ihre eigene Tochter ging, war bei Nadine die Grenze überschritten. Sie packte ihre wenigen Sachen, nahm ihre Tochter und zog zu ihren Eltern.

Immerhin erwies sich die Scham, die Nadine mit sich trug, als völlig überflüssig. Ihr soziales Umfeld, insbesondere ihre Eltern, hatten längst bemerkt, dass mit Stephan etwas grob im Argen war. Nun stand sie vor den Scherben ihrer Ehe. Vor einem Haus, dessen Zwangsversteigerung bevorstand. Die Gelder reichten hinten und vorne nicht mehr. Stephan weigerte sich, rechtsverbindliche Ansprüche seitens der Bank zu begleichen. Seiner Meinung nach waren all die abgeschlossenen Verträge ungültig.

Von Stephan war sie mittlerweile auch formell geschieden. Kommunikation gab es, wenn überhaupt, nur mehr schriftlich. Wohin es für Nadine gehen würde? Das wusste sie nicht. Die Hände an die leere Tasse geklammert saß sie da. Sie hatte den Ort verloren, an den sie hinwollte: ihren Mann, ihr Haus, ihr Heim, ihre Familie. Was blieb, war Zukunftsangst.

Wir unterhielten uns noch eine Weile über allerlei unverfängliche Dinge. Dabei vergaßen wir etwas die Zeit. Draußen wurde es bereits dunkel. Leichter Nebel hüllte die Häuser mit seinem weißgrauen Schleier ein. Zeit zu gehen, Zeit, sich erneut zu verabschieden. Es war kein leichter Abschied. Das Gespräch hinterließ bei mir einen Kloß im Hals. Das spätherbstliche Wetter passte genau zu meiner Stimmung. Ich krempelte den Kragen meiner Jacke hoch, um meinen Hals vor der feuchten Kälte zu schützen. Vor dem Café blieb ich stehen und blickte Nadine auf ihrem Weg in die Ungewissheit nach.

WAS ICH MIR MIT DIESEM BUCH VORNEHME

Mein Treffen mit Nadine ist nun genau ein Jahr her. Wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen, auch nicht mehr gesprochen. Vieles hat sich verändert in den letzten zwölf Monaten, vieles ist jedoch gleichgeblieben. Draußen liegt wieder ein grauer Schleier am Himmel. Das Jahr neigt sich dem Winter zu. Es war bisher kein angenehmes Jahr, sondern ein Jahr mit vielen Irritationen und einer völlig neuen globalen Situation.

Seit Anfang des Jahres hat das Coronavirus uns alle im Griff. Das Coronavirus und vor allem die Maßnahmen dazu. Gesellschaftlich hat sich einiges verändert. Das Virus und die Maßnahmen haben zu einer Radikalisierung sehr vieler Menschen beigetragen. Der enorme Anstieg an Falschmeldungen auf Social Media ist unübersehbar.

Ein messbarer Indikator für diesen Anstieg sind die eingehenden Fragen der Nutzer auf unserer Website. Kurz erklärt: Wer sich die Arbeit bei Mimikama so vorstellt, dass wir das Internet nach Falschmeldungen durchsuchen, liegt falsch. Das können wir unmöglich leisten, das übersteigt unsere Ressourcen bei weitem. Bereits vor Jahren haben wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben unsere Leserinnen und Leser gebeten, uns Falschmeldungen oder Fragestellungen zu Inhalten auf Social Media zu senden. Diese Anfragen beantworten wir dann entweder per Mail oder in Form von Artikeln auf unserer Website.

Anhand der Menge der Anfragen zu bestimmten Themen können wir die Menge an Falschmeldungen relativ gut einschätzen. Bei gleichartigen Fragestellungen können wir sogar die Verbreitung einer Falschmeldung einschätzen. Zum Vergleich: Zu ruhigen Zeiten enthält unser Posteingang ca. 120 Anfragen am Tag. Da ist alles bunt gemischt. Von Fake-Shops im Internet bis hin zu Virenanhängen in E-Mails. Auch Hinweise auf Fake News und Verschwörungsmythen bekommen wir per Mail.

Nach Anschlägen oder Katastrophen können wir einen kurzfristigen, jedoch starken Anstieg der Anfragen an uns beobachten. Das ist typisch und damit rechnen wir mittlerweile bereits. Im Fahrwasser solcher Vorfälle tauchen häufig Falschmeldungen auf, die Unsicherheit schaffen. Dann haben wir über einen Zeitraum von zwei bis vier Tagen einen Anfragestrom von ungefähr 200 Anfragen am Tag.

Dann kam Corona. In den ersten Wochen hatten wir eine Sondersituation, die nicht nur kurzfristig angedauert hat. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen explodierte die Menge der Anfragen an uns auf über 450 Anfragen am Tag. Sie waren größtenteils monothematisch, sodass wir die Schwerpunkte der Falschmeldungen auf Social Media gut erkennen konnten.

Es waren nicht nur Falschmeldungen. Vor allem die Verbreitung von Verschwörungsmythen hat dazu geführt, dass Menschen sich von Fakten abwenden, ihren Blick auf unbewiesene Mythen richten und sich radikalisieren. In unzähligen Diskussionen bin ich damit konfrontiert. Wissenschaft zählt häufig nicht mehr viel, Meinungen überwiegen vielfach. Meinungen, die leider allzu oft auf falschen Angaben basieren oder aus Verschwörungsmythen resultieren.

Auch an mir selbst habe ich Veränderungen bemerkt. Ich bin nicht mehr so offen und kommunikativ, wie ich es vor einem Jahr noch war. Oder vor zwei Jahren. Der viele Hass und die vielen Lügen haben mich verschlossener gemacht. So habe ich mir während der Lockdown-Phasen angewöhnt, abends teilweise stundenlang zu laufen. Ich laufe alleine, um mit mir und auch meinen Gedanken ins Reine zu kommen. Vieles, was in diesem Buch steht, habe ich in diesen Stunden bereits in meinen Gedanken geschrieben.

In diesen Stunden habe ich mich häufig gefragt, wie es soweit kommen konnte. Eine wichtige Rolle spielen dabei natürlich Social Media als Trägermedien. Social Media sind zu einem Ort geworden, an dem nahezu alle Menschen in unserem Umfeld teilnehmen. Mit Social Media meine ich nicht allein den Dinosaurier Facebook oder das eitle Twitter, sondern alle Plattformen, auf denen Menschen digital miteinander kommunizieren. Denn das zeichnet Social Media aus. Auch WhatsApp und YouTube gehören dazu. Wer von sich behauptet, bei Social Media nicht mitzumachen, übersieht wahrscheinlich die eine oder andere Plattform. Social Media sind im Internet mittlerweile allgegenwärtig.

Aber Social Media allein sind nicht die Ursache für die Radikalisierung. Sie sind lediglich die Plattformen, auf denen immer mehr Menschen radikale Inhalte versenden und empfangen. Daher ist die Frage berechtigt, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen sich auf einmal durch Falschmeldungen und Mythen radikalisiert haben. Auch in meinem Freundeskreis habe ich bemerkt, dass einige Menschen tatsächlich überzeugt sind von völlig schwachsinnigen und skurrilen Mythen.

Seit mittlerweile über sieben Jahren übe ich die Tätigkeit des Faktenprüfens aus. Dabei konnte ich beobachten, dass die Falschmeldungen zunehmend politisch motiviert sind. Ich kann mich noch recht gut an das Jahr 2014 erinnern. Es war im Februar, als ich zum ersten Mal eine Falschmeldung entlarvt habe, die Rechtsextreme verbreitet haben. Im Grunde war das nicht schwer. Es ging um die »Eingliederungshilfe«. Rechtsextreme haben behauptet, allen Flüchtenden würden über 2.000 € »Eingliederungshilfe« zustehen. Doch das ist Unsinn. Sie haben den Begriff absichtlich falsch interpretiert. Bei dieser Eingliederungshilfe handelt es sich um eine finanzielle Unterstützung für Menschen mit wesentlicher körperlicher oder geistiger Behinderung. Sie hat also nichts mit Asylbewerbern zu tun. Dennoch war dieser Artikel wichtig: Zu diesem Zeitpunkt habe ich zum ersten Mal bemerkt, wie Manipulation von Menschen mithilfe von bewusster Fehlinterpretation eines Begriffes funktioniert.

Seitdem ist mir die stetig zunehmende Intensität aufgefallen, mit der Rechtsextreme Social Media nutzen, um manipulative Inhalte und Desinformationen zu verbreiten. Doch wer sind diese »Rechtsextremen«? Wir müssen uns von dem alten Bild des Skinhead-Springerstiefel-Nazis verabschieden. Nein, den finden wir auf Social Media kaum vor. Wir haben es mit einer ganz anderen Gruppe von rechtsextremen Aktivisten zu tun. Sie wissen sich gut im Netz und auf Social Media auszudrücken. Bei der Mehrzahl lässt sich eine mittlere oder höhere Bildung vermuten. Diese Gruppe beinhaltet vor allem Männer, jüngere und ältere gleichermaßen. Sie treten meist rechthaberisch und verbal aggressiv auf und nutzen bewusst die Probleme und Ängste der Bevölkerung, um ihre Ideologien darin einzubetten.

In der rechtsextremen Ideologie ist die Ungleichheit das zentrale Element. Die Vorherrschaft gebühre einer durch Biologie und »Rassenzugehörigkeit« oder »Kultur« bestimmten Gruppe. Diese müsse zum Besten aller Menschen die anderen beherrschen und naturgemäß die Gleichwertigkeit aller Menschen ablehnen. Um die Herrschaft über die Minderwertigen zu etablieren oder zu schützen, seien auch Gewalt und Unterdrückung legitim.

Mit diesem Selbstverständnis agiert auch die Neue Rechte. Neue Rechte, das ist ein Sammelbegriff für intellektuelle, zumeist männliche Konservative. Sie lehnen demokratische Werte ab und versuchen, mit ihren Schriften und Ideologien das demokratische System zum Sturz zu bringen. Sie wissen, dass sie strategisch vorgehen müssen. Der grobe Umsturz hat keine Priorität, weil er einstweilen zu wenig Chancen auf Erfolg hat. Daher konzentriert sich die Neue Rechte auf kulturelle und mediale Vorbereitung des Umsturzes. Daran arbeiten sie beharrlich und erfolgreich seit vielen Jahren.

Sie präsentieren ihre Ansichten als »normal«, obwohl dahinter menschenverachtende Ideologien stecken. Wenn sie diese Inhalte über alltägliche Themen vermitteln (wie eben mit einem weißen Lieferwagen), entstehen Anknüpfungspunkte zu Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Viele sind Männer wie Nadines Ex-Mann Stephan, ursprünglich eher konservativ und mit ausgeprägtem Ego, dann aufgrund sozialen Abstiegs oder einer anderen Lebenskrise radikalisiert. In ihrer Wut werden sie zum harten Kern der neuen rechtsextremen Szene.

Ebenfalls eine Rolle spielen die Social-Media-Auftritte von Politikern der rechtspopulistischen Parteien. Die Accounts von deren Spitzenpolitikern sind von enormer Wichtigkeit. Das konnten wir beispielsweise beim Bruch zwischen HC Strache und der FPÖ erkennen. Beide Seiten haben Anspruch auf Straches reichweitenstarken Facebook-Account erhoben. Auch die Löschungen der Social-Media-Auftritte von US-Präsident Trump haben gezeigt, wie wichtig Social Media für die Politik der Rechtspopulisten sind. Über Social Media haben sie eine direkte Verbindung zu ihrem Wahlvolk, ohne von den Medien abhängig zu sein.

Durch diese direkte Verbindung können die parlamentarischen Arme der Rechtsextremen ungefiltert für die stetige Ausweitung des Sagbaren sorgen. Provokationen beherrschen die Veröffentlichungen von Rechtspopulisten und Extremisten. Damit schaffen sie eine moralische Desensibilisierung. Was 2015 vielleicht noch als skandalös galt, können heute die meisten Menschen nur mehr müde belächeln.

Aber es sind nicht nur Falschmeldungen und Provokationen, die schleichend den Diskurs vergiften. Auf Social Media greifen die Rechtsextremen vorzugsweise jene Menschen an, die sich gegen Falschmeldungen zur Wehr setzen oder sich für die Werte der Demokratie einsetzen. Angesichts von Untergriffen aller Art schwindet die Diskussionsfähigkeit auf Social Media. Gerade wenn es um politische Themen geht, steht nicht mehr der Kompromiss oder die Arbeit an einer Lösung im Vordergrund. Stattdessen verwenden die Rechtsextremen Lügen und menschenverachtende Strategien, um ihre Gegner zum Schweigen zu bringen.

Diese Vorgänge, die ich in diesem Buch im Detail erläutern werde, zeugen von einem recht beängstigenden Comeback der extremen Rechten. Mehr als 75 Jahre nach Ende des Dritten Reiches treten Rechtsextreme wieder offen in der Mitte der Gesellschaft auf. Sie halten Reden auf Demonstrationen. Sie waren beim Sturm auf das Kapitol in den USA dabei. Ich habe das Gefühl, je weiter wir uns zeitlich vom Holocaust und dem Dritten Reich entfernen, desto lauter werden Rechtsextreme. Über Social Media dringen sie mit ihren Botschaften in den letzten Jahren immer massiver in die Mitte der Gesellschaft ein.

Dies gelingt ihnen umso besser vor dem Hintergrund der Coronakrise, die uns alle in eine völlig neue Situation gebracht hat. Die Angst ist allgegenwärtig. Angst vor gesundheitlichen Problemen, Angst vor wirtschaftlichen Folgen. Dazu kommt die diffuse Angst vor vielerlei Dingen, die Mythen und Falschmeldungen den Menschen nahebringen. Ja, viele Menschen haben Angst. Die Rechtsextremen nutzen Angst und auch Frust als starke Emotionen, um Menschen auf Social Media und darüber hinaus zu manipulieren.