Magie am Hof der Herzöge von Burgund

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Magie am Hof der Herzöge von Burgund
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Spätmittelalterstudien

herausgegeben von

Gadi Algazi (Tel Aviv) · David J. Collins (Washington) · Christian Hesse (Bern)

Nikolas Jaspert (Heidelberg) · Hermann Kamp (Paderborn)

Martin Kintzinger (Münster) · Pierre Monnet (Frankfurt a. M. / Paris)

Joseph Morsel (Paris) · Eva Schlotheuber (Düsseldorf)

Hans-Joachim Schmid (Fribourg) · Gabriela Signori (Konstanz)

Birgit Studt (Freiburg i. Br.) · Simon Teuscher (Zürich)

Band 6

Diese Arbeit wurde von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum angenommen im Jahre 2012 und unter Verwendung der durch die »Fondation pour la protection du patrimoine culturel, historique et artisanal« freundlicherweise zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Inhalt

  1. Einleitung 1.1. Quellen und Literatur 1.1.1. Quellenlage 1.1.2. Vorbemerkungen zur Forschungsliteratur 1.2. Historische Hinführung 1.2.1. Zur burgundischen Geschichte im 15. Jahrhundert 1.2.2. Der politische Prozess und das Majestätsverbrechen im späten Mittelalter 1.2.3. Der Graf von Étampes (1415 – 1491) und der burgundische Hof

  2. Der Prozess 2.1. Art und Zusammenstellung des Aktenmaterials 2.1.1. Das Aktenmaterial 2.1.2. Die Sprache des Prozesses 2.1.3. Datierung der Prozessakten 2.2. Eine kurze Skizze des Prozessthemas und Datierung der Ereignisse 2.3. Die Akteure 2.3.1. Die Einberufung der Untersuchungskommission 2.3.2. Die Mitglieder der Kommission und ihr Umfeld 2.3.3. Der Mann im Hintergrund: Karl von Burgund, Graf von Charolais 2.3.4. Die Helfer des Grafen von Étampes: Jean de Bruyère und Charles de Noyers 2.3.5. Die Brüsseler Zeugen 2.4. Strategien und Taktiken – Die Rolle der Kommission und der Aussagenden im Processus contra dominum de Stampis 2.4.1. Der Ablauf der Befragungen 2.4.2. Die Überprüfung der Zeugenaussagen 2.4.3. Die Gegenüberstellungen 2.4.4. Die Taktiken Jean de Bruyères während der Befragungen 2.4.5. Die Folter und ihre Rolle im Prozess 2.4.6. Schlussfolgerungen

  3. Vorstellungswelten 3.1. Personen und Praktiken 3.1.1. Zusammenfassung 3.2. Auf der Suche nach Wachsfiguren 3.2.1. Die Verwendung der Wachsfiguren 3.2.2. Aussehen und Material der Formen und Figuren 3.2.3. Die Rolle der Wachsfiguren bei den magischen Praktiken 3.2.4. Zusammenfassung 3.3. Der Graf von Étampes – die abwesende Schlüsselfigur 3.3.1. Der Graf von Étampes im Spiegel der Zeugenaussagen 3.3.2. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

  4. Die magischen Praktiken im Spiegel der Zeit 4.1. Die magischen Künste 4.2. Magie vor Gericht 4.2.1. Der rechtliche Rahmen von Magieprozessen 4.2.2. Magievorwürfe und Zaubereiprozesse im (französischen) Spätmittelalter 4.3. Der Processus contra dominum de Stampis: eine erste Einordnung

  5. Die Folgen 5.1. Erste Maßnahmen 5.1.1. Die Reaktion der Kurie 5.1.2. Der Graf von Étampes und König Ludwig XI. 5.2. Der Graf von Nevers und Étampes im Spannungsfeld burgundisch-französischer Politik 5.2.1. Die Ereignisse des Jahres 1463 im Lichte der burgundischen Chronistik 5.2.2. Zwistigkeiten und Versöhnungsversuche (1464 – 1468) 5.3. Der Graf von Nevers und das Vliesordenskapitel von 1468 in Brügge

  6. Handlungs- und Kommunikationsstrategien 6.1. (Versuchte) Anschläge auf den Grafen von Charolais 6.2. Die Reaktionen Herzog Philipps des Guten 6.3. Burgundische Handlungs- und Kommunikationsstrategien bei Anschlägen in den 1460er Jahren 6.4. Schlussfolgerungen

  7. Schlussbetrachtungen

  8. Anhang

  9. Edition des Processus contra dominum de Stampis

  10. Quellen- und Literaturverzeichnis 10.1. Quellen 10.1.1. Ungedruckte Quellen 10.1.2. Gedruckte Quellen 10.2. Literatur

Meinen Eltern Barbara und Juan Berlin

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich einige gemeinhin übliche, aber deshalb nicht minder ehrliche Worte des Dankes verlieren. Zuallererst gilt der Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dieter Scheler, dem ich nicht nur die Bereitstellung des außergewöhnlichen Aktenmaterials, das meiner Arbeit zugrunde liegt, und einer ersten Rohtranskription zu verdanken habe. Die gemeinsame Begeisterung für das Thema der vorliegenden Arbeit, die Weitsicht und das Augenmaß, mit der er mir bei deren Abfassung sowohl Freiheit ließ als auch Unterstützung bot, werden mir immer in herzlicher Erinnerung bleiben. Weiterer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Nikolas Jaspert (Heidelberg), der das Koreferat übernommen hat und mit dessen Kolloquium ich anregende Diskussionen verbinde. Letzteres gilt auch für Herrn Prof. Dr. Martin Kintzinger (Münster), der die Entstehung dieser Arbeit mit freundlichem Interesse begleitet hat. Für die Unterstützung bei fachlichen Fragen oder mit weiterführenden Hinweisen gilt mein Dank Herrn apl. Prof. Dr. Klaus Oschema (Heidelberg), Herrn Cyrille Chatellain (Paris), Frau Prof. Dr. Simona Slanicka (Basel/Bern) und Frau Dr. Sonja Dünnebeil (Wien). Letzterer gilt besonderer Dank, war sie doch nicht nur durch manchen guten Rat hilfreich; ihr verdanke ich auch die kundige Kollationierung meiner Edition und das Korrekturlesen so manchen Kapitels. Dass sie darüber hinaus eine Mentorin und Freundin geworden ist, ist mir eine besondere Freude. Auf institutioneller Seite möchte ich mich besonders bei den Mitarbeitern der besuchten belgischen und französischen Archive und Bibliotheken bedanken. Stellvertretend für viele andere seien hier Herr Ghislain Brunel (Archives nationale de France) und Herr Michel Vangheluwe (Archives départementales du Nord) und dessen Team für die freundliche Aufnahme und Hilfestellungen in ihren Institutionen erwähnt. Für die Erlaubnis der Nutzung des Archivs des Ordens vom Goldenen Vlies danke ich Herrn Alexander Pachta-Reyhofen (Kanzler des Ordens vom Goldenen Vlies). Zu danken gilt es noch vielen anderen: Meiner Familie und meinen Freunden, für die Geduld und Unterstützung der letzten Jahre. Für die Mithilfe bei der Erstellung des endgültigen Manuskriptes durch Korrekturlesen und Prüfen der Zitate danke ich Herrn Markus Kroll, Frau Jocelyne Jakob und nicht zu vergessen Herrn Prof. Dr. Hiram Kümper, dessen unermüdliche Motivation für dieses Projekt mir viel bedeutet. Für die Vorbereitung der Veröffentlichung gilt es auch, einer ganzen Reihe von Menschen meinem Dank auszusprechen. Zunächst möchte ich mich bei der »Fondation pour la protection du patrimoine, cultur, historique et artisanal« für die Druckkostenförderung und zugleich die große Geduld hinsichtlich der Fertigstellung der Arbeit bedanken. Insbesondere gilt mein Dank in diesem Zusammenhang Herrn apl. Prof. Dr. Klaus Oschema (Heidelberg) und dem Gutachter der Arbeit, Jean-Patrice Boudet (Orléans). Für unzählige wertvolle Hinweise und Anregungen sowie die Inspiration für den Untertitel der Arbeit bedanke ich mich sehr herzlich bei Herrn Prof. Dr. Werner Paravicini. Auch den Gutachtern meiner Arbeit innerhalb des Dissertationsverfahrens, Prof. Dr. Nikolas Jaspert (Heidelberg) und Herrn Prof. Dr. Dieter Scheler (Bochum), sowie von Seiten der Herausgeber aus Herrn Prof. Dr. Martin Kintzinger (Münster) und Herrn Prof. Dr. David J. Collins (Georgetown), danke ich für ihre Gutachtertätigkeit und die vielen unterstützenden Hinweise. An dieser Stelle möchte ich auch Frau Prof. Dr. Gabriela Signori als Hauptherausgeberin der Publikationsreihe für Ihre Geduld danken. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Mann, Mathias Vetter, der mich nicht nur mit seiner ausgesprochenen Gründlichkeit bei den verschiedenen Korrekturphasen unterstützt hat, sondern mir genau das Maß an Unterstützung, Ansporn und Verständnis entgegengebracht hat, das es zur Beendigung dieser Arbeit und der Druckfassung gebraucht hat.

 

Bochum, 22.12.2015

Andrea Berlin

1. Einleitung

Am 8. Mai 1468 wird während der Messe auf dem 19. Kapitel des Ordens vom Goldenen Vlies Johann von Burgund, Graf von Nevers, in einem symbolträchtigen Akt aus dem Ritterorden ausgeschlossen. Ihm wurde vorgeworfen, einige Jahre zuvor mittels magischer Praktiken gegen Herzog Karl den Kühnen, damals noch Graf von Charolais, intrigiert zu haben. Diese Episode hat immer wieder die Verwunderung einzelner Forscher evoziert. So fragte beispielsweise Bernhard Sterchi, ob nicht ein anderer Grund hinter diesen Vorwürfen zu suchen sei und weshalb man bei dem Ausschluss nicht von Verrat sprach, einem Vorwurf, der durchaus auch möglich gewesen wäre und auf den ersten Blick nahe gelegen hätte.1 Eine Antwort hat Sterchi nicht gefunden und auch andere Autoren gehen nicht über diese Verwunderung hinaus. Die in der Forschung geübte Zurückhaltung im Fall Johanns von Burgund ist fraglos mit dem zur Verfügung stehenden Quellenmaterial zu begründen, lagen doch bisher neben den Erwähnungen der Ereignisse im Aktenmaterial des Ordenskapitels nur einige Verweise in der burgundischen Chronistik vor, die allerdings zum Teil sehr vage ausfallen.2

Mit dem in dieser Studie näher untersuchten Aktenkonvulut, dem Processus contra dominum de Stampis,3 liegt nun aber bisher unbekanntes Quellenmaterial vor, das den Vorwürfen gegen Johann von Burgund deutlichere Konturen verleiht. Johann, der zum Zeitpunkt der Ereignisse (1463) noch Graf von Étampes war, wird während eines Prozesses gegen seinen Bediensteten Jean de Bruyère stark belastet, Zaubereien mit Wachsfiguren gegen den französischen König, den damals noch regierenden Herzog Philipp von Burgund und insbesondere auch gegen den Grafen von Charolais, den späteren Herzog Karl den Kühnen, ausgeführt zu haben.

Das Aktenmaterial ermöglicht es uns, einen detaillierten Blick auf die Ereignisse zu werfen, die sich über einen Zeitraum zwischen 1461 bis 1463 erstrecken. Hinter dem Prozessgeschehen scheint dabei das weit verzweigte Geflecht unterschiedlicher Personen und Personengruppen im Umfeld des herzoglichen Hofes auf und es eröffnet sich ein breites Panorama magischer Vorstellungswelten im Burgund des 15. Jahrhunderts. Seine besondere Brisanz erhält das Material aber durch die politische Dimension der Ereignisse. Denn obwohl es sich bei dem Prozess um ein reguläres kirchliches Verfahren handelt, lassen die Prozessakten doch deutlich erkennen, wie der Zaubereiprozess durch Karl von Burgund als politisches Instrument genutzt wird. An das Aktenmaterial sollen insbesondere Fragen nach dem Vorgehen Karls und der Untersuchungskommission im Zuge der Aufdeckung der Zaubereivorwürfe gestellt werden. Die Untersuchungen werden daher ein Augenmerk auf den durch die Kommission geleiteten Prozess und das Prozedere der Befragungen richten sowie auf die in dem Prozess geäußerten Vorwürfe gegen den Grafen von Étampes. Das Material lässt dabei eindrückliche Rückschlüsse auf das Verhältnis in der herzoglichen Familie zu.

Zu den in den Prozessakten geschilderten magischen Praktiken und Vorstellungswelten soll ein weiterer Schwerpunkt in der Arbeit gesetzt werden. Von besonderem Interesse ist hier das sich in den Akten abzeichnende Beziehungsgeflecht, das die Suche nach magischen Utensilien und die Durchführung der Praktiken ermöglichte. Die Ereignisse sollen zudem in das Umfeld der sich ausbildenden Magieprozesse und der Magievorwürfe im franko-burgundischen Raum eingeordnet werden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem höfischen Milieu liegen soll, in dem Magievorwürfe oft politische Implikationen hatten.

So ist auch die Frage nach den politischen Dimensionen des Processus contra dominum de Stampis und den Konstellationen im Haus Burgund keineswegs voneinander zu trennen. Es wird etwa zu fragen sein, inwieweit die Ereignisse Auswirkungen auf das Verhältnis das Grafen von Étampes zu Herzog Philipp dem Guten und seinem Sohn hatten, aber auch, welchen Stellenwert dieses Verhältnis für die zu dieser Zeit ohnehin schon problematische Beziehung des Grafen von Charolais zu seinem Vater hatte. Die angespannte Situation zwischen dem Herzog von Burgund und seinem einzigen Erben führt für diese Untersuchung zu der Annahme, dass die Reaktionen Karls insbesondere durch seine prekäre Machtsituation und das Verhalten seines Vaters bedingt waren. Ein Fokus soll zudem auf die Frage nach einer konkreten Instrumentalisierung des Prozesses durch den Grafen von Charolais und die damit verbundenen Konsequenzen für den Grafen von Étampes gerichtet sein.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht folglich die Aufarbeitung des Prozessgeschehens in seinen politischen Konstellationen und seine Kontextualisierung in der burgundischen Hofgesellschaft sowie den magischen Vorstellungswelten seiner Zeit. Nach einem kurzen Literatur- und Quellenüberblick soll zunächst zur besseren Einordnung der Befunde ein resümierender Blick auf die burgundische Geschichte des 15. Jahrhunderts geworfen und ein Überblick über die Forschung zu politischen Prozessen und dem crime de lèse-majeté, dem Majestätsverbrechen, gegeben werden, bevor – nach einer biographische Skizze zum Grafen von Étampes und seinem Wirken am burgundischen Hof – die Darstellung des Prozesses erfolgt.

1.1. Quellen und Literatur
1.1.1. Quellenlage
1.1.1.1. Der Processus contra dominum de Stampis

Im Mittelpunkt dieser Studie steht ein Konvolut von Abschriften aus dem späten 15. Jahrhundert, das man als Ganzes nach einer Notiz auf dem Umschlagblatt als Processus contra dominum de Stampis bezeichnen kann. In diesem frühen Vertreter des Aktenzeitalters werden Schriftstücke verschiedener Provenienz zu dem besagten Gerichtsprozess (hier: kopial) zusammengeführt.4 Der Forschung war dieses Material bislang gänzlich unbekannt, was eine Konsequenz aus der Überlieferungssituation ist. Ursprünglich dem Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies (AOGV) zugehörig ist es vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem AOGV entliehen und nicht zurückgegeben worden. Ein Konvolut mit Unterlagen von Payer von Thurn, in dem sich die Akte fand, erwarb der Doktorvater der Autorin, Dieter Scheler, in den 1960er Jahren im Wiener Antiquariatshandel.5 Die Prozessakten wurden im März 2013 wieder an das Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies zurückgegeben, wo sie im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien unter der Signatur HHStA, AOGV, Akten, Karton 5, Dossier: Ausschließung Nevers (Türck’sche Systematik 2. Partie, § 2, 11 C) zu finden sind.

Der Processus liegt mit dieser Arbeit erstmals vollständig ediert und kommentiert vor. Zur Erschließung dieses außergewöhnlichen Stücks burgundischer Rechts- und Politikgeschichte waren aber selbstverständlich weitere archivalische und gedruckte Quellenbestände aus den ehemaligen burgundischen Landen, in der Hauptsache also aus Archiven und Bibliotheken des heutigen Frankreichs und Belgiens, heranzuziehen.

1.1.1.2. Herangezogene Archivbestände

Zur Erschließung einzelner Aspekte in der Prozesshandschrift, besonders aber zur Analyse des Verhältnisses des Grafen von Étampes zum burgundischen Hof und zu Ludwig XI., konnten die französischen Archive nützliches Material liefern. Statt auf viele einzelne, sei hier einführend besonders auf die Aufsätze von Pierre Cockshaw, Bertrand Schnerb oder Sébastien Hamel verwiesen, die zur Orientierung in der burgundischen Archivlandschaft zu empfehlen sind und auf zahlreiche weiterführende Literatur hinweisen. Für die deutschsprachige Suche sollen hier beispielhaft Werner Paravicini, Holger Kruse und Sonja Dünnebeil genannt werden.6

Insbesondere sind hier die Bestände der Archives départementales du Nord in Lille hervorzuheben. Dort steht mit den sogenannten Écroes (escroes), die in der französischen Forschung häufig als états journaliers bezeichnet werden, eine Quellengattung zur Verfügung, die unter anderem auch die Zeit des Grafen von Étampes am burgundischen Hof betrifft.7 Sie werden von der historischen Forschung vor allem in zwei große Gruppen unterteilt, nämlich die escroes de la despense (de bouche), also die Sachausgaben, und die escroes des gaiges, die Tagegelder oder, wenn man so will, Personalausgaben. Bei den escroes de gaiges muss man allerdings – wie Paravicini bereits anmerkte – in Rechnung stellen, dass diese zwar prinzipiell den gesamten Hofstaat des entsprechenden Tages verzeichnen, dies allerdings nur insofern, als auch Tagegelder bezogen wurden. Personen, die sich auf Dienstreise befanden oder anderweitig Geld von einem jeweils anderen Hof erhielten, tauchen in diesen Listen nicht auf. Auch Unregelmäßigkeiten können vorkommen.8 Die Bestände nicht nur in Lille, sondern auch an anderen Orten haben zudem unter starken Verlusten gelitten, sodass man nur mit einer lückenhaften Überlieferungssituation arbeiten kann. Für den Grafen von Étampes etwa sind zwar Écroes der 1440er und 1450er Jahre überliefert, aber auch diese sind offenbar nicht vollständig erhalten.9

Neben den Écroes gibt es noch einen weiteren Quellenbestand in den Archives départementales du Nord, der den Grafen von Étampes direkt betrifft. Unter der Signatur Cumulus wird unter anderem Rechnungs- und Verwaltungsschriftgut für die Picardie aus den 1450er Jahren verwahrt. Diese Bestände sind noch größtenteils unerschlossen. Lediglich Marie Thérèse Caron hat den Bestand stichprobenhaft für ihren Aufsatz über den Grafen von Étampes verwendet.10

Die Bestände der Archives départementales du Nord konnten schließlich drittens für nähere Untersuchungen das Bistum Cambrai betreffend genutzt werden. Einige der einschlägigen Texte sind allerdings nur in Abschriften des 17. Jahrhunderts erhalten. Die gesichteten Dokumente gaben sowohl Aufschluss über den Bischof von Cambrai, der die Untersuchungskommission des Processus contra dominum de Stampis eingeleitet hatte, als auch über rechtliche Vereinbarungen, die das Bistum mit Herzog Philipp dem Guten getroffen hatte, sowie den Verbleib der Komplizen des Grafen von Étampes, Jean de Bruyère und Charles de Noyers.

 

Die im Zuge der Recherchen aufgesuchten weiteren regionalen Archive konnten hingegen nur vereinzelte Aspekte zum Wirken des Grafen von Étampes beleuchten. Die Archives départementales du Côte d’Or in Dijon erlaubten kleinere Einblicke in die Förderung des Grafen durch Philipp den Guten, die Archives départementales de Nièvre liefern hinsichtlich des Grafen von Étampes insbesondere Informationen zu seiner Tätigkeit als Graf von Nevers seit 1464. Die auch insgesamt vergleichsweise spärliche Überlieferungssituation ist, wie bei so vielen französischen Départementsarchiven, auf einen Brand aus den Revolutionsjahren – in Fall der Archives départementales de Nièvre im Jahre 1793 – zurückzuführen, bei dem besonders die Akten der Rechnungskammern und damit wichtige Zeugnisse der spätmittelalterlichen Verwaltungsgeschichte verloren gegangen sind.11

Auskünfte über das Wirken des Grafen im Gebiet der Somme-Städte konnte die Bibliothèque municipale d’Amiens geben. Zudem konnten zwei der im Processus benannten Edelleute durch Texte dieses Archivs näher identifiziert werden.

Größere Bestände den Grafen von Étampes betreffend finden sich schließlich in den Archives nationales in Paris, hier insbesondere die Bestände AN J und AN K. Sie liefern Informationen zur Rolle Johanns von Burgund während der Guerre du Bien Public, aber auch zu den nach seinem Tode sich entwickelnden Erbstreitigkeiten zwischen Jean d’Albret, Seigneur d’Orval, und dessen Ehefrau Charlotte de Bourgogne gegen Engelbert von Kleve.12 Zuletzt müssen auch die archivalischen und gedruckten Bestände der Pariser Bibliothèque nationale erwähnt werden, in deren Beständen sich eines der wenigen Dokumente befindet, das direkt mit dem Processus contra dominum de Stampis in Verbindung gebracht werden kann: Es handelt sich dabei um eine Bericht des Seigneur de Mouy, der auf Anweisung König Ludwigs von Guillaume Jouvenel, Seigneur de Treignel und Rat des Königs, sowie von Adam Rolant, Sekretär Ludwigs, aufgezeichnet wird.13 Aber auch die Beziehung des Grafen von Étampes (später Nevers) zu Ludwig XI. lässt sich anhand der dortigen Dokumente, die zu einem großen Teil freilich nur in Abschriften existieren, gut nachvollziehen.

Konsultiert wurden zudem die belgischen Staatsarchive, die Archives générales du Royaume et Archives de la Région de Bruxelles-Capitale sowie die handschriftlichen Bestände der Bibliothèque royale. Außer einigen Hinweisen auf das Umfeld des Grafen von Étampes konnten hier allerdings keine weiterführenden Kenntnisse gewonnen werden, da die mittelalterlichen Bestände des Staatsarchivs durch die Bombardierung Brüssels im 17. Jahrhundert stark dezimiert wurden.14 Dieser Umstand ist insbesondere hinsichtlich der zahlreich im Processus erscheinenden Personen aus Brüssel bedauerlich, die aus diesem Grunde nicht durch zusätzliches Aktenmaterial nachgewiesen werden konnten.

Die burgundischen Bestände in Wien wurden zwar gesichtet; jedoch waren durch diese bereits gut erforschten Bestände keine neuen Erkenntnisse hinsichtlich der Ereignisse um den Processus contra dominum de Stampis zu erwarten. Das dem Bestand des Wiener Haus-, und Staatsarchivs zugeordnete Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies liefert allerdings auch abseits der in Edition vorliegenden Aufzeichnungen zu den Ordensfesten noch weiteres, den Fall Étampes betreffendes Material.15