Loe raamatut: «Das Enneagramm»
Richard Rohr & Andreas Ebert
Die 9 Gesichter
der Seele
Claudius
Bildquellen
S. 25, S. 95, S. 132 James Dean, S. 155, S. 211, S. 230 akg-images, Berlin
S. 81 Hände, Katze, S. 103 Skyline, S. 121 Auge, S. 141 Leuchtturm, Bücherstapel, S. 161 Felsen, Fallschirm, Kletterer, S. 179 Sonnenblume, S. 197 Justitia, S. 215 Mann, lesend, Wolken
Erwin Wodicka – BilderBox.com
S. 118, S. 177 KNA-Bild, Bonn
S. 132 Marilyn Monroe_klein Photo Archiv Schweitzer, Hans-Peter Hösl, München
S. 192 Stefan Siegert, Hamburg
S. 197 Martin Luther King Picture-alliance/KPA/TopFoto
S. 289 Archiv Martin Lagois
Für die folgenden Sprachen wurden bisher Lizenzrechte vergeben:
Englisch, Estnisch, Französisch, Holländisch, Italienisch, Koreanisch, Kroatisch, Norwegisch,
Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch, Slowenisch, Spanisch, Thai, Tschechisch und Ungarisch.
Diese durchgesehene Neuausgabe entspricht im Wesentlichen den früheren Ausgaben.
Fehler wurden beseitigt, einige Angaben aktualisiert, wichtige neuere Literatur angegeben.
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
46. Pbck.-Auflage, 2010
© Claudius Verlag München 1999
Birkerstr. 22, 80636 München
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Sibylle Schug, München
Satz: Marktsatz Media GbR, München
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN: 978 - 3-532 - 60008-5
Wir sind schon Gottes Kinder,
aber es ist noch nicht erschienen,
was wir sein werden.
Wir wissen aber: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein;
denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
1. Johannes 3,2
Ein Affe sah durch das klare Glas einer Flasche eine Kirsche und wollte sie stehlen. Er streckte seine Hand durch den Flaschenhals und schloss die Faust um die Kirsche, aber nun konnte er die Hand nicht mehr zurückziehen. Da tauchte der Jäger auf, der die Falle gestellt hatte. Der Affe war von der Flasche so behindert, dass er nicht davonlaufen konnte, und so wurde er gefangen. „Wenigstens habe ich noch die Kirsche in der Hand“, dachte er. Aber im gleichen Moment gab ihm der Jäger einen festen Klaps auf den Ellenbogen, die Hand des Affen öffnete sich und fuhr aus der Flasche. So hatte der Jäger nun die Frucht, die Flasche und den Affen.
Aus dem Buch vom Amu darja (Sufismus)
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit wieder gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis
Dem Andenken unserer Mütter
ELEANORE DREILING-ROHR † 1994
RENATE APFELGRÜN-MAYR † 1998
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Zitate
Widmung
Vorwort: EIN SPIEGEL DER SEELE
Erster Teil: DER SCHLAFENDE RIESE
Eine dynamische Typologie
Das Geheimnis der Zahl 153
Durchbruch zum Ganz Anderen
Ein Kardinal wacht auf
Ernüchterndes Aha-Erlebnis
Begabte Sünder
Die Wahrheit ist einfach und schön
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Obsessionen
Der Weg zur eigenen Würde
Irrwege und Auswege
Die drei Zentren: Bauch – Herz – Kopf
Die neun Gesichter der Seele
Zweiter Teil: DIE NEUN MUSTER
Muster EINS
Muster ZWEI
Muster DREI
Muster VIER
Muster FÜNF
Muster SECHS
Muster SIEBEN
Muster ACHT
Muster NEUN
Dritter Teil: TIEFENDIMENSIONEN
Umkehr und Neuorientierung
Fallen und Einladungen
Wurzelsünden und Geistesfrüchte
Untertypen: sexuell – sozial – selbsterhaltend
Idealisiertes Selbstbild und Schuldgefühle
Versuchung – Vermeidung – Abwehr
Unreif – „normal“ – gereift
Die Flügel
Die Pfeile („Misstrost“ und echter Trost)
Wachsen mit dem Enneagramm
Selbststudium
Partnerschaft
Autoritätsbeziehungen und Familie
Exerzitien und geistliche Begleitung
Gemeindearbeit und Gemeindewachstum
Gesprächsgruppen
Jesus und das Enneagramm
Enneagramm und Gebet
Das Ende der Determination
Eine enneagrammatische Weihnachtspredigt
Die Reue, die keinen gereut – Perspektiven der spirituellen Arbeit (Dietrich Koller)
Anhang: Anmerkungen
Literatur in Auswahl
Namensregister
Bibelstellenregister
Enneagrammmerkheft
Vorwort
EIN SPIEGEL DER SEELE
Im Spätsommer 1989 erschienen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt innerhalb weniger Wochen drei Enneagrammbücher. Eines davon war die erste Auflage dieses Buches. Inzwischen ist es mehr als 400 000 Mal über den Ladentisch gegangen und wurde in fast 20 Sprachen übersetzt. Richard Rohr und ich haben seither viele Vorträge und Tagungen zum Enneagramm gehalten. Der deutsche „Ökumenische Arbeitskreis Enneagramm“ (Celle) mit mehr als 500 Mitgliedern hat in fast 20 Jahren ein reges Vereinsleben entfaltet. Wir hatten Gelegenheit, andere bedeutende EnneagrammlehrerInnen kennenzulernen und von ihnen zu lernen. Einige Erkenntnisse sind neu dazu gekommen, die bestimmte Thesen der 1. Auflage revidiert haben. Das betrifft insbesondere die Entstehungsgeschichte des Enneagramms. Wir sind inzwischen überzeugt, dass die Typologie des Enneagramms nicht aus mittelalterlichen islamisch-sufistischen Quellen stammt, sondern auf die Lehre von den acht bzw. neun Leidenschaften zurückgeht, die der christliche Wüstenmönch Evagrius Pontikus (gestorben 399) erstmals formuliert hat. Darüber hinaus wurden einige sprachliche Glättungen vorgenommen.
Wie ist dieses Buch entstanden? Als ich 1985 Richard Rohr besuchte, der damals noch Leiter der Familienkommunität New Jerusalem in Cincinnati/Ohio (USA) war, erzählte er mir erstmals vom Enneagramm. Er hatte es als „Geheimlehre“ von einem Jesuiten übernommen und benutzte es im Rahmen der Seelsorge seiner Gemeinschaft. Literatur zum Enneagramm war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen.
Im Sommer 1988 hatte ich Gelegenheit, an Richard Rohrs neuer Wirkungsstätte, dem Zentrum für Aktion und Kontemplation in Albuquerque/New Mexico, an einem mehrtägigen Workshop über das Enneagramm teilzunehmen. Inzwischen waren in den USA erste Enneagrammbücher erschienen; zahlreiche PsychologInnen und TheologInnen gelangten zu der Ansicht, dass das Enneagramm ein ausgezeichnetes Werkzeug sei, um Menschen auf ihrem Weg zu spiritueller und psychischer Reifung zu unterstützen.
Nach meiner Rückkehr aus den USA schwankte ich, ob ich eines der in den USA erschienenen Bücher übersetzen oder lieber Richard Rohrs in freier Rede gehaltenen und auf Band mitgeschnittenen Workshop in ein eigenes Buch umwandeln sollte. Ich entschied mich für den zweiten Weg: Richard Rohr war dem deutschsprachigen Publikum durch seine Bücher „Der wilde Mann“ und „Der nackte Gott“ bereits bekannt. Seine nicht immer systematische, aber desto lebendigere Art des mündlichen Vortrags vermittelte das Enneagramm meines Erachtens angemessener als eine trockene Darstellung mit wissenschaftlichem Anstrich.
Zusätzlich habe ich mich seinerzeit bemüht, die in den USA erschienene Literatur zu sichten und zu verarbeiten. Das betraf vor allem den ersten und dritten Teil des Buches. Darüber hinaus hatte ich bereits eine Reihe von eigenen Erfahrungen mit dem Enneagramm gesammelt. Auch sie sind eingeflossen.
Während der Arbeit an diesem Buch erfuhr ich, dass auch in unserem Sprachraum bereits hier und dort mit dem Enneagramm gearbeitet worden war. Einige Jesuiten und die katholischen „Gemeinschaften christlichen Lebens“ (GCL) verwendeten das typologische Modell bei Exerzitien und für die Ausbildung von geistlichen BegleiterInnen. Vor allem der Begegnung mit Hildegard Ehrtmann, die an dieser Arbeit maßgeblich beteiligt war, hat das „Endprodukt“ wesentliche Impulse zu verdanken.
Schließlich ist das Feedback einer ersten deutschen Enneagrammtagung in das Buch eingeflossen, die vom 1989 in Schloss Craheim/Unterfranken stattfand. Fast 70 TeilnehmerInnen, darunter eine Reihe von PfarrerInnen und TherapeutInnen, unterzogen das Konzept einer kritischen Sichtung und gaben mir wertvolle Rückmeldungen.
Besonderen Dank verdient Marion Küstenmacher, die damalige Lektorin des Claudius Verlages. Sie hat die Entstehung des Buches von Anfang an begleitet und mich mit ihrem Enthusiasmus immer wieder angespornt. Inzwischen ist sie selbst eine international geachtete Enneagrammautorin und -lehrerin.
Ich wünsche dem Buch heute wie damals LeserInnen, die bereit sind, den aufregenden und auch mühevollen Weg der Selbsterkenntnis und Umkehr zu wagen. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass ein Modell wie das Enneagramm dazu missbraucht werden kann, sich und andere auf platte Art in eine Schublade zu zwängen und so gerade nicht zu wachsen, sondern zu erstarren. Missbräuchlich angewandt, kann das Enneagramm mehr Fluch als Segen bewirken. Das hat es mit vielen bedeutenden Entdeckungen und Konzepten gemein.
Selbsterkenntnis hat etwas mit innerer Arbeit zu tun, die anspruchsvoll und schmerzhaft ist; Veränderung vollzieht sich unter Geburtswehen. Es gehört Mut dazu, solch einen Weg zu beschreiten. Viele vermeiden den Weg der Selbsterkenntnis, weil sie Angst haben, die eigenen Abgründe könnten sie verschlingen. ChristInnen vertrauen darauf, dass Christus alle Abgründe des Menschseins durchlebt hat und mit uns geht, wenn wir die ehrliche Auseinandersetzung mit uns selbst wagen. Weil Gott uns bedingungslos liebt – samt unserer dunklen Seiten –, brauchen wir uns selbst nicht auszuweichen. Im Licht dieser Liebe kann der Schmerz der Selbsterkenntnis der Beginn unserer Heilung sein.
Die MeisterInnen und SeelenführerInnen aller bedeutenden spirituellen Traditionen des Westens und des Ostens haben gewusst, dass wirkliche Selbsterkenntnis Voraussetzung einer genuinen „inneren Reise“ ist. Teresa von Avila, die große christliche Mystikerin, schreibt in ihrem Hauptwerk „Die innere Burg“:
„Nicht wenig Elend und Verwirrung kommen daher, dass wir durch eigene Schuld uns selber nicht verstehen und nicht wissen, wer wir sind. Erschiene es nicht als eine schreckliche Unwissenheit, wenn jemand keine Antwort wüsste auf die Frage, wer er ist, wer seine Eltern sind und aus welchem Lande er stammt? Wäre dies ein Zeichen viehischen Unverstands, so herrschte in uns ein noch unvergleichlich schlimmerer Stumpfsinn, wenn wir uns nicht darum kümmerten zu erfahren, was wir sind, sondern uns mit diesen Leibern zufriedengäben und folglich nur so obenhin, vom Hörensagen, weil der Glaube es uns lehrt, davon wüssten, dass wir eine Seele haben. Aber welche Güter diese Seele in sich bergen mag, wer in ihr wohnt und welch großen Wert sie hat, das bedenken wir selten, und darum ist man so wenig darauf bedacht, ihre Schönheit mit aller Sorgfalt zu bewahren.“1
Das Enneagramm entspringt einer Sichtweise der menschlichen Seelenstrebungen, deren Wurzeln zumindest bis ins frühe Mönchtum der „Wüstenväter“ zurückreichen, vielleicht sogar in vorchristliche Zeit (Pythagoras). Möglicherweise wurde es später durch die islamische Weisheitstradition des Sufismus mündlich weitertradiert. Beweise dafür gibt es allerdings bis heute nicht. Obwohl es also genuin christlich sein dürfte, speist es sich auch aus vorchristlichen Quellen und hat vermutlich seinerseits außerchristliche mystische Traditionen beeinflusst. Gerade die sogenannten mystischen Strömungen der großen Religionen kommen sich sowohl im Blick auf die religiösen Erfahrungen, die sie vermitteln, als auch im Blick auf die Deutungen und Einsichten, die sie formulieren, erstaunlich nah. Das ist einer der Gründe, weshalb es heute EnneagrammanhängerInnen mit dem unterschiedlichsten weltanschaulich-religiösen Hintergrund gibt. Das Enneagramm scheint ein Instrument zu sein, das eine Verständigungssprache zur Verfügung stellt, die nicht konfessionell vorbelastet ist. Es kann eine Brücke sein, die man von unterschiedlichen Seiten aus begehen und in deren Mitte man sich begegnen kann. Zahlreiche internationale Enneagrammtagungen mit VertreterInnen diverser psychologischer und weltanschaulicher Schulen haben das in den letzten zwei Jahrzehnten eindrücklich bestätigt. So dient das Enneagramm auch dem interkulturellen und interreligiösen Dialog.
Das mystische Menschenbild lässt sich in etwa so formulieren: Der Mensch baut vor allem in seiner ersten Lebenshälfte sein „empirisches Ich“ auf, das auch als die Summe seiner Einstellungen und Verhaltensmechanismen verstanden werden kann. Die Überidentifikation mit solchen Rollen, Angewohnheiten und Charakterzügen ist das Haupthindernis bei der Suche des Menschen nach seinem (wahren) „Selbst“.
Alle mystischen Wege bieten Methoden an, dieses illusionäre, falsche Ich zu entlarven und sich von ihm zu lösen – sei es durch Erkenntnis, Askese, gute Werke oder Meditation. Immer geht es dabei um ein Nicht-Anhaften, um Des-Identifikation und Loslassen. Ein Text des deutschen Mystikers Johannes Tauler bringt es auf den Punkt:
„Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht, hat das menschliche Ich für sich selbst nichts. Das Ich hätte gerne etwas und es wüsste gerne etwas und es wollte gerne etwas. Bis dieses dreifache, Etwas‘ in ihm stirbt, kommt es den Menschen gar sauer an. Das geht nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit. Sondern man muss sich hineinzwängen und sich daran gewöhnen mit emsigem Fleiß. Man muss dabei aushalten, dann wird es zuletzt leicht und lustvoll.“
Das Neue Testament ruft zur „Prüfung der Geister“ (1. Johannes 4,1) auf. „Prüfet alles und das Gute behaltet“, sagt Paulus (1. Thessalonicher 5,21). Er traut seiner Gemeinde die Fähigkeit zu, zu entscheiden, was sie sich kritisch aneignen kann und was nicht. ChristInnen steht prinzipiell die ganze Welt und alles, was in ihr gut, wahr und schön ist, zur Verfügung: „Alles gehört euch – ihr aber gehört Christus!“ (1. Korinther 3,21 ff.).
Paulus selbst und der Evangelist Johannes haben in ihren Schriften Vorstellungen und Bilder der gängigen griechischen Religionsphilosophie übernommen und „getauft“.2 So beschreibt Johannes Christus als den inkarnierten Logos (Johannes 1). Die Vorstellung vom Logos besagte, dass es eine Art Weltvernunft gibt, die hinter allem Sichtbaren steht und in allem waltet. Logos bezeichnet ziemlich genau das, was Esoteriker „höheres Bewusstsein“ nennen. Johannes scheut sich nicht, diesen damals „esoterisch vorbelasteten“ Begriff zu übernehmen. Er besetzt ihn neu und erklärt so seinen ZeitgenossInnen das Evangelium in sprachlichen Kategorien, die sie verstehen.
Im Christentum wird die Erlösung vom falschen Ich als Gnadengeschenk Gottes verstanden; umstritten ist, inwieweit der Mensch sich selbst vorbereiten, disponieren, öffnen oder auf diese Gnade einstellen kann. Dieses Problem wird meist so gelöst, dass gesagt wird: Der Mensch soll so tun, als hinge alles von ihm ab. Im Nachhinein wird er verstehen, dass Gottes Geist es war und nicht er selbst, der ihn motiviert und befähigt hat zu suchen, zu kämpfen und zu beten („vorlaufende Gnade“). Paulus hat dieses unauflösbare Ineinander und Miteinander von eigenem Kampf und Gottes Gnade formuliert: „Arbeitet an eurer Erlösung mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in seiner Gnade beides in euch bewirkt: das Wollen und das Vollbringen.“ (Philipper 2,12 f.).
In den östlichen Religionen wird der Anteil des Menschen an seiner Erlösung stärker betont, obwohl der Aspekt der Gnade – zum Beispiel im Buddhismus – durchaus vorhanden ist. Die pauschale Behauptung vieler ChristInnen, die östlichen Wege seien nichts als Selbsterlösung, zeugt von grober Unkenntnis. ChristInnen neigen dazu, sehr vollmundig von der allein wirksamen Gnade zu reden, suchenden Menschen aber eine Antwort schuldig zu bleiben, wenn sie nach Wegen fragen, wie sie diese lebensverändernde und erlösende Gnade erfahren können. Heute berichten viele Menschen davon, dass Wege des Ostens ihnen geholfen haben, ihren verschütteten Glauben neu zu entdecken oder ihr Gebetsleben zu vertiefen. Seriöse spirituelle LehrerInnen des Ostens wie der Dalai Lama verweisen ihre Adepten an die eigene christliche Tradition zurück. Viele müssen erst Umwege machen, um dann staunend zu entdecken, dass es auch in der christlichen Tradition all das zu entdecken gibt, was östliche Weisheit lehrt.
Übrigens hat die Kirche zu allen Zeiten außerchristliche Sichtweisen „getauft“: Im 20. Jahrhundert waren es vor allem humanwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich zum Verstehen innerseelischer (und gesellschaftlicher) Vorgänge als hilfreich erwiesen haben. Schon 1927 hat der konservative norwegische Theologe Ole Hallesby die Vorstellung des griechischen Arztes und Philosophen Hippokrates von den vier Temperamenten aufgegriffen und für die christliche Seelsorge fruchtbar gemacht.3 In den letzten Jahrzehnten wurden Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“4 von der christlichen Seelsorge rezipiert, obwohl Riemanns Beschreibung von vier Angsttypen auf astrologischen Vorstellungen aufbaut. Trotz ihrer nichtchristlichen Herkunft haben sich solche Modelle als hilfreiche Werkzeuge der Seelsorge erwiesen. Umso mehr gilt das für das Enneagramm, das genuin christliche Wurzeln hat.
Am Ende der Bibel malt der Seher Johannes das Bild des neuen Jerusalems, der zukünftigen Gottesstadt. In diesem Zusammenhang schildert er, wie die Völker der Erde ihre Gaben in diese Stadt bringen (Offenbarung 21,26). Dieses Bild besagt, dass alles, was in den Gedanken und Erfahrungen der Völker und Religionen wertvoll ist, dem einen Gott gehört. Wir können diese Gaben dankbar in Anspruch nehmen. Der Weisheitstransfer zwischen den Religionen ist einer der wesentlichsten Beiträge zum Weltfrieden.
Ich glaube, dass uns das Enneagramm helfen kann, zu einer tieferen und echteren Gottesbeziehung zu finden. Wer Augen hat, kann in ihm zugleich das eigene Angesicht, das Angesicht Gottes und – wie auf einer Ikone – das Angesicht Christi entdecken. Paulus schreibt: „Der Herr ist der Geist; und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wir aber schauen mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden dadurch in sein Bild verwandelt von einer Herrlichkeit zur andern, wie es vom Herrn des Geistes gegeben wird“ (2. Korinther 3,17 f.).
Als Spiegel der Seele bleibt das Enneagramm ein Werkzeug, das irgendwann beiseitegelegt werden kann. Das Enneagramm ist ein Wegweiser. Wegweiser zeigen den Weg; gehen aber müssen wir selbst. Es freut mich, dass in den letzten 20 Jahren – soweit mir bekannt ist – niemand der Versuchung erlegen ist, das Enneagramm zu einer neuen absoluten Heilslehre hochzustilisieren oder Enneagrammzirkel mit Sektencharakter ins Leben zu rufen. Denn auch das Enneagramm ist nur ein Erkenntnismodell – wenn auch ein erstaunlich umfassendes. Unser Erkennen aber bleibt zeitlebens „Stückwerk“, wie Paulus sagt (1. Korinther 13). Bis Gott uns und die Welt vollendet, ist es ratsam, das zu erkennen und zu tun, was sich erkennen und tun lässt – und den Rest Gott zu überlassen.
München, Frühjahr 2009
Andreas Ebert