Loe raamatut: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41»

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Zeitschrift für kritische Theorie

Heft 40 – 41/​2015

herausgegeben von

Sven Kramer und

Gerhard Schweppenhäuser

zu Klampen

Zeitschrift für kritische Theorie, 21. Jahrgang (2015), Heft 40 – 41

Herausgeber: Sven Kramer und Gerhard Schweppenhäuser

Geschäftsführender Herausgeber: Sven Kramer, Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen

Redaktion: Roger Behrens (Hamburg), Wolfgang Bock (Rio de Janeiro), Thomas Friedrich (Mannheim), Sven Kramer (Lüneburg), Gerhard Schweppenhäuser (Würzburg)

Korrespondierende Mitarbeiter: Rodrigo Duarte (Belo Horizonte), Jörg Gleiter (Berlin), Christoph Görg (Kassel), Frank Hermenau (Kassel), Fredric Jameson (Durham, NC), Per Jepsen (Kopenhagen), Douglas Kellner (Los Angeles, CA), Claudia Rademacher (Bielefeld), Gunzelin Schmid Noerr (Mönchengladbach), Jeremy Shapiro (New York, NY)

Redaktionsbüro: Alle Zusendungen redaktioneller Art bitte an das Redaktionsbüro:

Zeitschrift für kritische Theorie

Leuphana Universität Lüneburg

z. Hd. Prof. Dr. Sven Kramer

Scharnhorststraße 1, Geb. 5

D-21335 Lüneburg

E-Mail: zkt@uni-lueneburg.de

www.zkt.zuklampen.de

Erscheinungsweise: Die Zeitschrift für kritische Theorie erscheint einmal jährlich als Doppelheft. Preis des Doppelheftes: 32,– Euro [D]; Jahresabo Inland: 28,– Euro [D]; Bezugspreis Ausland bitte erfragen. Berechnung jährlich bei Auslieferung des Heftes. Das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn die Kündigung nicht bis zum 15.11. des jeweiligen Jahres erfolgt. Fragen zum Abonnement bitte an folgende Adresse:

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Redaktionsassistenz: Philipp Hammermeister, Julia Menzel

Umschlagentwurf: Johannes Nawrath

Layout und Satz: Simon Gogolin; Fakultät Gestaltung, Hochschule für angewandte Wissenschaften, Würzburg-Schweinfurt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.ddb.de‹ abrufbar.

Aufnahme nach 1995, H. 1; ISSN 0945-7313; ISBN: 978-3-86674-642-8

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorbemerkung der Redaktion

ABHANDLUNGEN

Hans-Ernst Schiller

Politische Pädagogik und die Utopie der Bildung Adorno und Martha Nussbaum im Vergleich

Thomas Jung

»... über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen« Konstellationsbildung durch Begriffstranszendenz? Sprachphilosophische Überlegungen zu einem Motiv Theodor W. Adornos

Karlheinz Gradl

Erblickte Versöhnung Adornos dialektischer Naturbegriff im Hinblick auf Simmel und Lukács

Sebastian Bandelin

Anerkennung und die Kritik der politischen Ökonomie Überlegungen zu Hegels Jenaer Realphilosophie

Hendrik Wallat

Politik als Domestikation Über die moralphysiologische Substanz von Platons politischer Philosophie

Axel Pichler

Es ist ein Traktat! Ist es ein Traktat? Überlegungen zu den Darstellungsverfahren von Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« und ihren philosophischen Konsequenzen

Andreas Greiert

Scheinhafte Einsichten Walter Benjamins Kritik am Historismus

Marc Nicolas Sommer

Was ist kritische Theorie? Prolegomena zu einer negativen Dialektik

EINLASSUNGEN

Gunzelin Schmid Noerr

Arbeit am kulturellen Gedächtnis Der Nachlass Max Horkheimers in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main

Hermann Schweppenhäuser

Das negative Recht der Transzendenz Dem Andenken Herbert Marcuses

Christoph Türcke

Trauerrede bei der Beisetzung von Hermann Schweppenhäuser

BESPRECHUNGEN

Hanno Plass

Kapitalismus und Demokratie Ein Literaturbericht

Kritische Theorie – Neue Bücher des Jahres 2014 in Auswahl

Inhaltsverzeichnis der Hefte 1-41

Autoren

Anmerkungen

Vorbemerkung der Redaktion

Im letzten Doppelheft fragten wir danach, auf welche Art das Private und das Öffentliche einander heute durchdringen und überkreuzen. Nun wurde die Redaktion mit einer sie besonders betreffenden, konkreten Form dieser Überschneidung konfrontiert: Hermann Schweppenhäuser, der Frankfurter Schüler Horkheimers und Adornos, ist im April 2015 verstorben. Er war für die Redaktion der Zeitschrift für kritische Theorie über die Jahre hinweg eine zentrale Bezugsperson, und zwar als Mensch und Mentor ebenso wie als Intellektueller. Ohne ihn, der durch seine Hochschullehre die Kritische Theorie in Lüneburg nachhaltig etablierte, hätte es die ZkT vermutlich ebensowenig gegeben wie den zu Klampen Verlag, in dem diese Zeitschrift erscheint. Dass der Philosoph, der vielen als Herausgeber der Schriften Walter Benjamins bekannt ist, auch ein maßgebliches eigenes Werk hinterlassen hat, bezeugen unter anderem die in dieser Zeitschrift erschienenen Aufsätze.1 In ihnen wirken der für ihn charakteristische, außergewöhnlich breit aufgespannte geistesgeschichtliche und theoretische Horizont, seine sprachliche und denkerische Präzision sowie nicht zuletzt die Unbeirrbarkeit seines an die Wurzel gehenden Denkens. Da für die Redaktion mit seinem Tod persönliche und eine breitere Öffentlichkeit betreffende Faktoren auf singuläre Art ineinandergreifen, haben wir uns entschlossen, neben einer unpublizierten Einlassung Hermann Schweppenhäusers zu Herbert Marcuses 100. Geburtstag auch die Trauerrede Christoph Türckes auf den Verstorbenen zu dokumentieren.

Eine weitere Todesnachricht betrifft Burkhardt Lindner, den Literatur- und Medienwissenschaftler sowie Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, der neben vielem anderen ein exzellenter Kenner der Werke von Benjamin und Peter Weiss war. Er starb im Januar 2015. Im Heft 5 (1997) der ZkT erschien sein grundlegender Aufsatz: »Derrida. Benjamin. Holocaust. Zur politischen Problematik der ›Kritik der Gewalt‹«.

Der vorliegende Band enthält die folgenden Beiträge: Die Abhandlungen setzen mit einem Text von Hans-Ernst Schiller ein, der die Grundzüge des bürgerlichen Bildungsbegriffs sowie dessen dialektische Kritik durch Adorno vergegenwärtigt. Mit Blick auf den Bildungs- und Erziehungsbegriff Martha Nussbaums erkennt er – etwa in der Bedeutung der Empathie mit den Leidenden – Parallelen zu Adorno. Schiller formuliert aber auch die Unterschiede zwischen beiden Konzepten: Nussbaums Position greife vor allem deshalb zu kurz, weil ihr ein Begriff sowohl der sozialen Herrschaft als auch der politischen Ökonomie fehle. – Thomas Jung zeigt, dass für Adornos erkenntnistheoretisches Vorgehen die sprachliche Verfasstheit der Begriffe konstitutiv ist. Das vergegenwärtigt er am Begriff der Konstellation, den er im Lichte einer sprach- und begriffskritischen Argumentation reinterpretiert. Adornos These, man müsse mit dem Begriff über den Begriff hinausgehen, liest Jung so, dass dort, wo sich die Begriffe dem Nichtidentischen zuwenden, in die philosophische Darstellung ein Ausdrucksmoment eintrete und die Philosophie sich inmitten ihres begrifflichen Vorgehens auch künstlerischer Momente wie der Metaphorizität bediene. – Karlheinz Gradl rekonstruiert Adornos dialektischen Naturbegriff vom Abitursaufsatz bis zur Ästhetischen Theorie. Adorno greife zunächst auf Ideen von Simmel und Lukács zurück, überschreite diese aber sukzessive. Mit Blick auf die Wandlungen des transzendenten Gehalts, der in der Betrachtung des Naturphänomens der Landschaft aufscheine, zeigt Gradl, dass noch in der letzten Gestalt von Adornos Naturphilosophie – im Kontext seines Denkens der vollendeten Negativität – mit dem Gedanken des dialektischen Umschlags eine Erlösungsperspektive mitgesetzt sei. – Sebastian Bandelin liefert eine detaillierte und textgenaue Relektüre von Hegels Anerkennungstheorie in dessen Jenaer Realphilosophie, um die Unterschiede zwischen Hegel einerseits und andererseits Axel Honneths sowie Seyla Benhabibs Fortschreibungen dieser Theorie kritisch zu akzentuieren. – Hendrik Wallat legt eine Platonlesart vor, die zwei zentrale Probleme der Dialektik der Aufklärung aufnimmt: die Herrschaft über die Natur – hier: über die Tiere – und die Frage nach dem Eingedenken der Natur im Subjekt. Zunächst rekonstruiert Wallat das Verhältnis von Mensch und Tier bei Platon, indem er dessen Metaphorik – Herde, Hirt und Wächter – ebenso thematisiert wie die Herrschaftslegitimierung im Zeichen der Unterdrückung der Natur durch Domestikation. Sodann knüpft er mit der These, Domestikation sei missglückte Versöhnung, dialektisch an Platon an. Dies verlange nach der Aufhebung der politischen Zoologie sowie nach einem unverstellten Begriff der Versöhnung, in der Tiere und Natur nicht mehr unterdrückt werden dürften. – Axel Pichler greift die Frage nach der Gattungszuordnung von Benjamins Über den Begriff der Geschichte auf, um in einer detaillierten philologischen Betrachtung die Schnittstelle von Benjamins textuellem Vorgehen zwischen philosophischer Thesenbildung und künstlerischem Verfahren zu lokalisieren. Er zeigt, dass Benjamin die Thesen noch auf der Wort- und Bildebene in harter Fügung gearbeitet hat. Sein Fazit lautet daher, dass einzelne Passagen nicht isoliert werden dürften, sondern dass Über den Begriff der Geschichte immer als Ganzes erfasst und bedacht werden müsse. – Andreas Greiert widerspricht Teilen der Geschichtswissenschaft und der Benjaminforschung, die behaupten, dass Benjamin den Historismus nicht nur kritisiere, sondern auch an ihm partizipiere. Der Autor geht zunächst auf die Entwicklung des Historismusbegriffs von Ranke bis Meinecke zurück und legt dann Benjamins Geschichtsbegriff in Abgrenzung zu den referierten Positionen dar. Er resümiert, dass Benjamin seine Kritik am Historismus ebenso radikal wie konsequent durchgeführt habe. – Marc Nicolas Sommer setzt die Serie grundlegender Positionsbestimmungen kritischer Theorie fort, die in vorangegangenen Heften von Hans-Ernst Schiller (Heft 34/​35) sowie Christoph Türcke und Axel Honneth (Heft 32/​33) vorgenommen wurden. Sommer perspektiviert die Frage: Was ist kritische Theorie?, indem er den systematischen, wesenhaften Kern des Kritischen darin zu bestimmen sucht. Dazu weist er zunächst verschiedene Zugänge – wie den verbreiteten deskriptiven – ab, um eine kriterielle Bestimmung vorzuschlagen. Mit Adorno, Heidegger, Merleau-Ponty und Deleuze entfaltet er die These, dass nur jene Theorie als kritisch gelten könne, die die Kritik ihres eigenen Vollzugs umfasse und dabei insbesondere ein reflektiertes Verhältnis zum Irrtum finde.

Die Einlassungen beginnt Gunzelin Schmid Noerr mit einer Stellungnahme zur Freischaltung des Nachlasses von Max Horkheimer auf dem Online-Portal der Universitätsbibliothek Frankfurt. Darüber hinaus thematisiert er an diesem Beispiel grundsätzlich die Funktionen von Gelehrtenarchiven. Dabei hebt er die Archive insbesondere hinsichtlich ihres potenziellen Beitrags für die Arbeit am kulturellen Gedächtnis hervor. – Es folgen die bereits angekündigten Beiträge von Hermann Schweppenhäuser und Christoph Türcke.

In den Besprechungen stellt Hanno Plass Neuerscheinungen zum Thema Kapitalismus und Demokratie von Colin Crouch, Tony Judt, Frank Deppe sowie eine Sonderpublikation der Blätter für deutsche und internationale Politik – mit Beiträgen von Wolfgang Streeck, Elmar Altvater, Claus Offe, Jürgen Habermas und Stephan Schulmeister – vor und ordnet sie kritisch ein.

Mit der Nummer 40 aktualisieren wir außerdem das Gesamtinhaltsverzeichnis der Zeitschrift für kritische Theorie. – Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die neu gestaltete Internetseite der ZkT.2

Hans-Ernst Schiller

Politische Pädagogik und die Utopie der Bildung

Adorno und Martha Nussbaum im Vergleich1

Als Thomas Morus in der zweiten Dekade des 16. Jahrhunderts seine Utopia verfasste, war Bildung ein wesentliches Element seiner Schilderung. Die Gesellschaft, die der fiktive Erzähler Raphael Hydlotheus auf der weit entfernten Insel Utopia kennengelernt hat, zeichnet sich aus durch die Abwesenheit von Geld, Privateigentum und Klassenschranken. Weil jeder arbeiten muss und keiner auf Kosten der anderen müßig sein kann, ist es möglich, die Arbeitszeit auf sechs Stunden am Tag zu reduzieren. Was machen die Leute mit ihrer Freizeit? Sie bilden sich. Am Morgen gibt es verschiedene öffentliche Vorlesungen, zu denen Männer und Frauen strömen, je nach Interesse und Anlagen. Der Besuch ist freiwillig für alle, außer für die in wissenschaftlichen Berufen Tätigen. Abends, nachdem die Arbeit getan ist, widmen sich die Utopier gemeinsamen Beschäftigungen wie Sport und Spiel, Musik und Gesprächen. Auch in Utopia gibt es eine Arbeitsteilung und verschiedene Berufe, welche freilich durch keine festen Schranken getrennt sind. Nicht nur bleibt genügend Zeit und Gelegenheit, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen, sondern es ist auch möglich, von einer handwerklichen zu einer gelehrten Tätigkeit zu wechseln.

In seinem Hauptwerk Das Kapital hat Marx das erste, zeitkritische Buch der Utopia (im Zusammenhang mit der sogenannten ›ursprünglichen Akkumulation‹) rühmend erwähnt. In unserer Perspektive wichtiger aber ist die Tatsache, dass Marx auch in den spärlichen Splittern seiner Utopie auf der Linie des alten Humanisten liegt. Viele Einzelheiten Utopias wie die Arbeitsteilung der Geschlechter oder die Religion interessierten Marx nicht, und er hat sie sicher auch abgelehnt. Dass aber der Zweck einer klassenlosen Gesellschaft, wie bei Morus, darin liegt, den Menschen Bildung und individuelle Entfaltung zu ermöglichen, gehört ins Zentrum seiner Gedanken. Auf einer Basis notwendig zu verrichtender Arbeit, die sich »mit dem geringsten Kraftaufwand« und unter den der »menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn« wird, soll sich ein »Reich der Freiheit«2 erheben, in dem die Entwicklung der menschlichen Kräfte Selbstzweck ist. Beide Aspekte wurden zunächst mit dem Ausdruck einer »Aneignung der Produktivkräfte durch die vereinigten Individuen«3 bezeichnet. Die Entwicklung der menschlichen Kräfte erhält unter den Bedingungen des Privateigentums die Form der Kapitalakkumulation, welche dem als Warenbesitzer vereinzelten Einzelnen jene Kräfte als etwas Fremdes, ihn Beherrschendes gegenüberstellt. In Wahrheit sei der menschliche Reichtum jedoch nichts als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse und Fähigkeiten. Der Ton wird geradezu hymnisch: der wirkliche Reichtum sei das »absolute Herausarbeiten« der schöpferischen Anlagen«, »die völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern«4. Auch Marx stellt sich die Utopie nicht als Schlaraffenland vor; reale Freiheit sei vielmehr travail attractif, »Selbstverwirklichung des Individuums«, nicht amusement, sondern »intensivste Anstrengung«5.

Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass die Marx’sche Utopie auch den Versuch darstellt, der humanistischen Bildungsutopie der allseitigen Entwicklung unter den Bedingungen der Industrialisierung Geltung zu verschaffen. Auch sein spezifischer Begriff der Entfremdung, der weit über das bei Humboldt und Hegel geläufige Konzept einer Entäußerung ans Objekt hinausgeht, ist ohne die Kontrastfolie der Bildungsutopie kaum denkbar. Umgekehrt hat der neuhumanistische Bildungsbegriff sozialphilosophische Implikationen, die auf die Marx’sche Kritik der modernen Produktionsverhältnisse vorausweisen. Bei niemandem wird das deutlicher als bei Wilhelm von Humboldt. Der wahre Zweck des Menschen ist nach Humboldt die verhältnismäßige Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Dazu bedarf es der Freiheit und der Mannigfaltigkeit der Situationen, ein Erfordernis, das bei John Stuart Mill, der sich auf Humboldt beruft, umgedeutet wird in die Notwendigkeit der Existenz verschiedener Klassen.6 Tatsächlich will Humboldt mit dieser Forderung verhindern, dass der Mensch in »einförmige Lagen« versetzt wird. Die bürgerliche Freiheit wird sinnlos, wenn man an eintönige Tätigkeiten gekettet ist. Humboldt weiß natürlich, dass ein Individuum nicht »alles können« kann und dass man sich auf die Tätigkeit, die man ausführt, konzentrieren muss, um eine bestimmte Fähigkeit auszubilden. Ein Mittel, dieser notwendigen Einseitigkeit zu begegnen, liegt nach Humboldt in der Verbindung der Menschen, in der sich einer den Reichtum des anderen aneignen kann. Notwendig sei eine »Vereinigung freier Menschen«7. Außerdem kann der Einzelne im Laufe der Zeit verschiedene Schwerpunkte setzen. Dazu bedarf es aber einer formalen Ausbildung, für die der Staat Sorge tragen muss. Bildung, so würden wir heute nach der UN-Erklärung vom Oktober 1948 sagen, ist ein Menschenrecht. Sie muss allen zugänglich sein, »denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter die Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch und verschroben werden soll.«8 Also meint Humboldt: »Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz sein, wie Tische zu machen dem Gelehrten.«9

Obwohl Humboldt hohe Ämter im preußischen Staatsapparat bekleidet hat, ist sein Bildungsideal niemals unverkürzt verwirklicht geworden. Wirksam wurden seine Vorstellungen durch die Gründung der Universität in Berlin (1809/​1810) und durch jene Elemente des Bildungsbegriffs, die im Sinne sozialer Distinktion funktionieren konnten, nicht zuletzt in Form der Betonung einer inneren Geistigkeit.10 Es ist dieser traditionell gewordene Bildungsbegriff, dem Adorno in der Theorie der Halbbildung die Leichenrede hält. Bildung war gedacht als subjektive Aneignung der geistigen Kultur, in Abgrenzung gegen jene Elemente der Kultur, welche die Bewältigung der äußeren Natur und die Gestaltung der äußeren menschlichen Beziehungen betreffen, jene Elemente also, die man unter dem Begriff der Zivilisation fasste und in Deutschland bald auch aus dem Bereich der eigentlichen Kultur ausgeschlossen hat.11 In dieser Verselbständigung und Verhärtung gegen das äußere Leben geriet der Geist in Widerspruch zu sich selbst; er behauptet sich als das Reich der Versöhnung, das er bestenfalls bedeuten kann, indem er sich seiner Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Strukturen bewusst bleibt.

Wenn also der bürgerliche Bildungsbegriff im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer substanzlosen Hülle wurde, so wird an ihm ein Urteil vollstreckt, das er längst herausgefordert hatte. In der Dialektik der Aufklärung heißt es:

»Mit dem bürgerlichen Eigentum hatte auch die Bildung sich ausgebreitet. […] Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes folgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt sich auf die Elemente des Faktischen. Gedankliche Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen.«12

In diesem Zitat ist die Theorie der Halbbildung in nuce enthalten. Halbbildung ist ein äußerliches Verhältnis zu den tradierten Bildungsgütern, ein Bescheidwissen, das den lebendigen Nachvollzug, die eigentliche Erfahrung, ersetzt. Im Gegensatz zur bloßen Unbildung hypostasiert sie das beschränkte Wissen, überzieht die Welt mit einem Netz von Projektionen. Sie tendiert zu wahnhaften Systemgebilden, zusammengesetzt aus Stücken wirklicher oder vermeintlicher Wissenschaft. Die Triebökonomie des Wahns, die Adorno mit Freud zu entschlüsseln sucht,13 ist die des unterdrückten eigenen Verlangens. Wer wahnhaft sich verfolgt fühlt, will verfolgen, und wen er verfolgt, der repräsentiert seine Wünsche, die er weder zu realisieren noch sich einzugestehen vermag.14 Projektive Mechanismen gehören zur menschlichen Erkenntnis – reflektiert etwa im Kant’schen Schematismus der Verstandesbegriffe – und sind tief in der Gattungsgeschichte verankert. Pathisch aber wird die Projektion durch den Ausfall der Reflexionsfähigkeit. Da der Wahn nur in der Abwesenheit von der Reflexion auf die eigenen projektiven Anteile gedeiht, sind ihm auch die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus günstig. Man meint sich dem finsteren Mittelalter, den Vorstellungen der Wilden und den Spekulationen der Philosophen entronnen und überlegen, aber jene Verhältnisse unterminieren ein Denken, das nach Objektivität strebt, indem sie die Bildung selbst, die nur in der Muße gedeiht, zum ökonomischen Mittel erniedrigen. Der objektive Zusammenhang der Gesellschaft wiederum tritt dem Einzelnen als eine fremde Macht gegenüber, die das Verständnis an der Oberfläche abweist.15 Deshalb gedeihen »die fatalen Konventikel und Panazeen«16: Theosophie, Numerologie, Astrologie etc. und im heutigen akademischen Betrieb unter dem Namen ›Konstruktivismus‹ eine Erkenntnistheorie, die allen bestätigt, dass man gar nicht anders könne, als die Welt willkürlich mit Sinn zu belegen. Denkt man an Humboldts Bestimmung, Bildung sei Durchdringung von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, eine Einheit von Rezeptivität und Einbildungskraft, wird einem der Abstand schmerzlich bewusst.

Ökonomisierung der Bildung bedeutet für Adorno zunächst, dass die Kulturprodukte die Form von Waren annehmen und im Hinblick auf ihre Warenfunktion produziert werden. Kulturindustrie ist der korrespondierende Begriff zur Halbbildung, der sich keiner zu entziehen vermag. In den Bildungsinstitutionen selbst war das ökonomische Prinzip seit langem vertreten durch das Ziel der Ausbildung. Was man in der Ausbildung lernt, soll nützlich sein für einen späteren Beruf, für die Erwerbsarbeit. Seit Ende der 1960er Jahre hat sich in jenen Institutionen – ich spreche über deutsche Verhältnisse – eine Wandlung vollzogen, die für Adorno noch am Horizont gelegen hat. Ausbildung hat sich auf Kosten von Bildung ausgedehnt. Geisteswissenschaftliche Fächer verschwinden aus den Universitäten, wie Martha Nussbaum in ihrem Buch Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities am Beispiel der USA gezeigt hat.17 Ausbildung produziert eine Ware: die Arbeitskraft der Abgänger. Aufgabe der Schulen und Hochschulen ist es, die Produktion des Ausstoßes nach wirtschaftlichen Zielen zu regeln. Die Ausbildung selbst wird zu einem wirtschaftlichen Produktionsprozess, auf den eine rationale Betriebsführung anzuwenden ist: Kosten und Nutzen müssen im richtigen Verhältnis stehen. Dem dienen Regelstudienzeiten und Studiengebühren. Mehr noch: Der Unterricht selbst ist ökonomischen Kategorien unterworfen worden, ohne zu fragen, ob eine solche Subsumtion noch dem Prozess der Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse gerecht werden kann. Seit ihrer Einführung um 1800 war die Notengebung ein Instrument, um die Konkurrenz unter den Lernenden im Hinblick auf ihre späteren Berufsaussichten zu fördern. Die Einführung von ECTS-Graden soll die letzten Schlupflöcher stopfen und verschärft die administrative Sortierung des Menschenmaterials. Der Lernprozess wird der abstrakten Zeit unterworfen, als handele es sich um eine Tätigkeit nach dem Muster der Fabrik- oder Büroarbeit. Vieles von den neuen Errungenschaften ist blanke Ideologie, die der Wirklichkeit nach wie vor nicht entspricht, und gleicht, wie der fürchterliche workload, den Dörfern des Fürsten Potemkin. Dennoch hat auch die Ideologie ihre Wirkung und der indirekte Lehrplan ist keineswegs geheim. Alle Beteiligten sollen lernen, ihre Aktivitäten ökonomisch zu betrachten: nach den Kategorien von Nützlichkeit und instrumenteller Rationalität, von Tauschwert und Konkurrenz. Diese Entwicklungen müssen als eine Verschärfung der Probleme gesehen werden, die Adorno untersucht hatte. Mit Bildung im überkommenen Sinn hat all dies nichts zu tun.

Nach Adorno besitzt der tradierte Bildungsbegriff trotz seiner unwiderruflichen Aushöhlung eine heuristische Funktion. Die Erinnerung an das falsche, weil an Privileg und machtgestützte Innerlichkeit gekettete, Vergangene macht es möglich, die falsche Gegenwart schärfer ins Auge zu fassen. Die Verwirklichung der Bildungsutopie im Sinne von Morus, Humboldt und Marx ist für Adorno kein praktisches Ziel mehr. Das bedeutet freilich nicht, dass er dem Bereich der Bildung keine praktische Bedeutung zumisst oder dass er mit seinen bildungstheoretischen Überlegungen keine praktischen Ziele verfolgen würde – im Gegenteil. Als Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik vermehrt Hakenkreuzschmierereinen zum Beispiel auf jüdischen Friedhöfen auftauchten und durch den Auschwitzprozess von 1963 - 1965 die Haltung zur nazistischen Vergangenheit ein öffentliches Thema wurde, hat sich Adorno mit einer Reihe von Beiträgen zu Wort gemeldet.18 Sie wurden in einem Band mit dem Titel Erziehung zur Mündigkeit gesammelt, der das am meisten verbreitete Buch Adornos sein dürfte. An die Stelle der Bildungsutopie tritt eine politische Präventionspädagogik, die sich der Forderung unterstellt, dass Auschwitz sich nicht wiederholen dürfe. Hauptziel dieser Pädagogik ist die Fähigkeit zur Selbstbesinnung. Im Begriff der Mündigkeit steckt der alte bürgerliche Anspruch auf Autonomie durch Aufklärung, aber die Hoffnung hat sich zurückgezogen darauf, dass Menschen nicht mehr bereit sind, »ohne Reflexion auf sich nach außen zu schlagen.«19

Adornos bildungspolitische Vorschläge folgen seiner bereits auf die 1940er Jahre zurückgehenden Analyse der Persönlichkeitstypen, bei denen sich die Bereitschaft zu einer feindseligen Einstellung gegen ethnisch oder sozial designierte Gruppen findet. Während seine konkreten Handlungsvorschläge zeitgebunden sind, bleiben die allgemeinen Zielsetzungen verbindlich. Adorno hält für das »Allerwichtigste […], der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten.«20 Zu fördern sei »die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.«21 Das gilt zunächst auf der ideologischen Ebene, auf der die Wirksamkeit des Nationalismus besondere Beachtung verdient. Das gilt aber auch auf der Ebene der Alltagspraxis, in der schmerzvolle Initiationsriten eine Rolle spielen: man denke an das Militär, Sportvereine, Schulklassen. Der Sinn solcher Riten besteht darin, dem Individuum die Macht des Kollektivs spürbar zu machen. Sie verstärken die fatale Mischung aus Masochismus und Sadismus, die sich im »Ideal […] der Härte« ausspricht: »Das gepriesene Hart-Sein […] bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin«, zumal den der Anderen. »Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen mußte. Dieser Mechanismus ist ebenso bewußt zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt«22.

Die Unfähigkeit zur Identifikation, zum Mitleid, ist für Adorno die wichtigste psychologische Bedingung für das Mitläufertum in der Nazizeit gewesen.23 Wie wir sehen werden, hat Martha Nussbaum der Förderung von Empathie viel Aufmerksamkeit geschenkt, mehr als Adorno, der über eine allgemeine Empfehlung, sich den Bedürfnissen des Kindes gegenüber aufgeschlossen zu verhalten und Versagung abzubauen, nicht hinausgekommen ist.24 Aber seine Erklärung der Unfähigkeit zum Mitleid ist tiefer angelegt als die Nussbaums und bezieht sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Privateigentum und Konkurrenz eine maßgebliche Rolle spielen. Was man Mitläufertum nenne, sei primär Geschäftsinteresse gewesen: nicht auffallen, seinen Vorteil wahren.25 Die eigentümliche Verbindung von ökonomischem Individualismus – Adorno spricht von isolierten »Monade[n]«26 – und politisch-ideologischem Kollektivismus ist charakteristisch für die moderne Welt, deren kapitalistische Produktion im Rahmen eines Nationalstaats (oder einer Gemeinschaft von Nationalstaaten) stattfindet. Man muss sich zum Beispiel fragen, ob nicht Nationalstaaten notwendig auf exkludierende Kollektivideologien nach außen wie nach innen angewiesen sind. Sie brauchen einen Feind und eine innere Schicht der Nichtdazugehörigen, weil sie die ihr Subsumierten anders nicht vereinigen können. Was man als Verfassungspatriotismus bezeichnet – auch Nussbaum hängt ihm an – könnte sich schnell als eine sympathische Illusion erweisen, eine unmögliche Distinktion. Adorno ist dieser Fragestellung nicht nachgegangen, obwohl er die Unterscheidung von ›gesundem‹ Nationalgefühl und überwertigem Nationalismus entschieden abgelehnt hat.27

Adorno erwähnt eine besondere Form des autoritären Charakters, die er schon in den Studien zum Autoritarismus als »manipulativen Charakter« bezeichnet hatte.28 Dieser Typus ist bereit, andere als amorphe Masse zu behandeln, die es zu manipulieren gilt. Seine Kennzeichen sind Aktivismus, Emotionslosigkeit und ein überwertiger Realismus: Er wünscht sich die Welt keinen Augenblick anders als sie ist, vergöttert die Natur als Reich des Kampfes ums Überleben. Menschen mit manipulativem Charakter sind immer bereit, etwas zu organisieren, »besessen vom Willen of doing things.«29 Ihr Gott ist die Effizienz, ihr Bewusstsein ist verdinglicht. Der Begriff der Verdinglichung geht auf Marx zurück, der damit den Sachverhalt meint, dass Verhältnisse von Individuen die sachliche Gestalt eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Dingen, nämlich von Waren annehmen. Da sich, folgt man Marx, in einem Verhältnis nur die Eigenschaften der Relata betätigen können, wird auch in der einzelnen Ware das gesellschaftliche Verhältnis verdinglicht. Der Begriff, der dies zum Ausdruck bringt, heißt Fetischismus. Er meint, dass der einzelnen Ware, sodann dem Geld und dem Kapital, gesellschaftliche Funktionen wie Wert, universale Tauschbarkeit und Wertvermehrung als natürliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Im Gefolge von Georg Lukács, der den Begriff der Verdinglichung bekannt gemacht hat, ist er auf alle Denk- und Verhaltensweisen ausgedehnt worden, in denen der gesellschaftliche Ursprung eines Gegenstands verdeckt wird. Darüber hinaus kann man nun auch, in Anlehnung an die Psychologie, bei jeder emotionalen Besetzung von Dingen von Fetischismus sprechen. Gesellschaftlich relevant ist die Fetischisierung der Technik, die ein autistisches Element aufweist. Kalt gegen die Menschen, wird die Liebe von Maschinen und Apparaturen absorbiert: Autos, Hochgeschwindigkeitszüge, Computer, Flugmaschinen etc. »Die Mittel – und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch – werden fetischisiert, weil die Zwecke – ein menschenwürdiges Leben – verdeckt und vom Bewußtsein abgeschnitten sind.«30

Žanrid ja sildid

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22 detsember 2023
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360 lk 1 illustratsioon
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9783866746428
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