Loe raamatut: «Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen – Kommentar», lehekülg 6

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6. Gefahrenverdacht, Gefahrerforschungseingriff

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Theoretisch wie praktisch relevant ist die Kategorie des Gefahrenverdachts, der – nach überkommener, heute aber in der Lehre wohl überholter Ansicht – zu einem Gefahrerforschungseingriff führen kann[73]. Die Fallgruppe des „Gefahrenverdachts“ ist dogmatisch umstritten, es wird, so der Befund in einem führenden Polizeirechtslehrbuch, „aneinander vorbeidiskutiert“[74].

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Die traditionelle Ansicht in der polizei- und ordnungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur sieht den Gefahrenverdacht dadurch gekennzeichnet, dass sich die Behörde selbst darüber im Unklaren sei, ob eine Gefahr vorliege, sei es, weil ihr der Sachverhalt unklar erscheine, sei es, weil sie den weiteren Geschehensablauf für ungewiss halte[75]. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sollen Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissenstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, keine Gefahr begründen, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein Gefahrenpotential[76]. Beim Gefahrenverdacht sei ordnungsbehördliches Handeln – auch aufgrund der Generalklausel – nicht ausgeschlossen. Zulässig sei ein sog. Gefahrerforschungseingriff, mit ihm „greift die Polizei nur vorläufig und insoweit ein, als dies nötig ist, um die pflichtgemäße Aufklärung eines zweifelhaften Zustands herbeizuführen“[77]. Der Gefahrerforschungseingriff stelle rechtssystematisch eine Maßnahme mit Eingriffscharakter aufgrund eines nicht endgültig geklärten Sachverhalts dar.

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Da die Verwaltung aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes (§ 24 VwVfG) grundsätzlich nur auf der Grundlage geklärter Sachverhalte tätig werden darf, erscheint die Bedenklichkeit dieser Positionierung recht offensichtlich. Zum Teil wird zur weiteren Begründung darauf hingewiesen, es handele sich bei dem rechtmäßigen Gefahrerforschungseingriff um eine zulässige Abweichung vom Untersuchungsgrundsatz[78]: Das Interesse an der Klärung der Frage, ob und welche ordnungsbehördlichen Maßnahmen erforderlich seien, überwiege das (mögliche) individuelle Interesse des Adressaten an der Vermeidung des Erkundungseingriffs, wobei besonders scharf auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu achten sei.

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Die konkrete Gefahr im Rahmen der Generalklausel erweist sich demgegenüber jedoch als Eingriffsschwelle, die (aus abwehr- und schutzrechtlicher Sicht) ohne rechtsstaatlich zulässige Alternative ist[79]. In der neueren Literatur überwiegt daher die Einschätzung, dass der Lehre vom Gefahrenverdacht und Gefahrerforschungseingriff eine ungenügende Problemdiskussion der Gefahr und eine mangelnde Beachtung der Rollenverteilung im Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung zugrunde liegt. Im Zentrum der Kritik steht, dass in vielen Fällen vorschnell eine „Gefahr“ abgelehnt und ein bloßer „Gefahrenverdacht“ bejaht werde, mit anderen Worten: Man schaffe sich ohne Not selbst die Probleme[80], für die man dann anschließend keine dogmatisch und praktisch überzeugende Lösung mehr finde[81]. Ferner werde nicht bedacht, dass bei Eingriffsmaßnahmen im Vorfeld der Generalklausel spezialgesetzliche Ermächtigungen ergehen müssten, da sonst der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes verletzt sei.

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Dies erscheint überzeugend; zutreffend dürfte daher sein, auf der grundsätzlichen Trennung von Gefahr und Verdacht einer Gefahr zu bestehen, im Wege der Bildung von Fallgruppen aber für eine rechtsstaatlich notwendige Einhegung des Instituts zu sorgen.

Soweit im Einzelfall eine ernsthafte Bedrohung wichtiger Schutzgüter nicht ausgeschlossen werden kann, also eine Gefahr vorliegt, ist die Schwelle der Eingriffsermächtigung überschritten, ein Tätigwerden zulässig[82]. Es liegt in Wahrheit tatsächlich eine Gefahr vor, wobei gilt: je höherwertiger das Rechtsgut ist, umso geringer darf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Schadens sein. Es dürfte richtig sein, wenn in der Literatur darauf hingewiesen wird, dass viele der Fallgestaltungen, die unter dem Gesichtspunkt des Gefahrenverdachts diskutiert wurden bzw. werden, in Wirklichkeit Gefahrenlagen betrafen (Phantomdiskussion)[83]. Hinsichtlich des Mitteleinsatzes ist unabhängig davon ohnehin der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (§ 15), d. h. wenn ein milderes Mittel zielführend ist zur Gefahrenbekämpfung, darf ein stärker belastendes nicht angeordnet bzw. eingesetzt werden. Gegebenenfalls kommt der Erlass einer Duldungsverfügung an den Betroffenen in Betracht[84].

Gefahrerforschungsmaßnahmen ohne Eingriffscharakter sind ordnungsrechtlich zulässig, hier werden als Beispiele genannt: bezüglich der Polizei die „sog. Streifenfahrten auf den öffentlich zugänglichen Seiten im Internet“, Teilnahme eines Polizeibeamten unter falscher Identität an einem „Chat“ bzw. einer „Newsgroup“ im Internet etc.[85] Streng genommen wird nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes für Handlungen ohne belastenden Eingriffscharakter freilich gar keine Rechtsgrundlage benötigt[86].

In den Fällen, in denen weder eine Gefahr vorliegt noch Maßnahmen ohne Eingriffscharakter getroffen werden (sollen), sind wegen des Gesetzesvorbehalts spezialgesetzliche Eingriffsbefugnisse für echte Eingriffe bei Gefahrenverdacht zu verlangen. Die Generalklausel darf insoweit nicht Rechtsgrundlage für Maßnahmen mit Eingriffscharakter sein[87]. Es kommt auch eine Auslegung spezialgesetzlicher Vorschriften in der Weise in Betracht, dass schon an einen „Verdacht“ angeknüpft wird[88]. Als Beispiel für eine spezialgesetzliche Vorschrift mit Eröffnung einer Eingriffsbefugnis vor Entstehung einer echten Gefahrenlage im engen gefahrenabwehrrechtlichen Sinne wird häufig auf § 9 Abs. 2 BBodSchG verwiesen, nach dem ausdrücklich ein Verdacht ausreicht.

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Es erscheint unter einem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt überzeugend, wenn man Eingriffsbefugnisse der Gefahrenabwehrbehörden unter Gesetzesvorbehalt stellt und dem einfachen Gesetzgeber die Aufgabe zuweist, diese nach Anlass und Umfang genau zu formulieren und präzise anzuordnen. Die ohnehin problematische Kategorie des Gefahrerforschungseingriffs darf nicht dazu missbraucht werden, unter dem Deckmantel der ordnungsbehördlichen Gefahrenabwehr leistungsstaatliche Fürsorge bzw. umfassende aufklärende Vorfelderhebungen oder -analysen (etwa in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen) zu treffen. Auch für den Gesetzgeber dürften verfassungsrechtliche Restriktionen in Bezug auf die (bedenkenlose) Vorverlagerung von Eingriffsbefugnissen im Bereich präventiver Gewährleistung bestehen. Diese unterliegen einer Legitimations- und Rechtfertigungslast insofern, als die Zwecke, um derentwillen die Vorverlagerung im jeweiligen Fall erfolgt, von einer Art und einem Gewicht sein müssen, die die Vorverlagerung rechtfertigen[89]. Nach verfassungsrechtlichen Vorgaben und nach dem OBG ist eine unbeschränkte, gedankenlose Statuierung von Vorfeldeingriffsnormen nicht möglich, verfassungsrechtlich und rechtssystematisch dürfte es auch de lege ferenda dem OBG-Gesetzgeber verwehrt sein, derartige Systembrüche einzuführen.

7. Gefahrenvorsorge

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Die Gefahrenvorsorge ist nicht Gegenstand des OBG, weder in § 1 noch in § 14 oder in §§ 25 ff.[90] Das allgemeine Polizeirecht bietet nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Handhabe, allgemeine Gefahrenvorsorge zu betreiben. Die Befugnisse und Ermächtigungen der Verwaltungsbehörden und der Polizei nach dem Polizei- und Ordnungsbehördenrecht umfassen Vorsorgemaßnahmen nicht ausdrücklich. Die Vorschriften lassen sich auch nicht erweiternd in der Weise auslegen, dass der Exekutive ein Einschätzungs- und Entscheidungsvorrang „gleichsam auf der Rechtsfolgenseite“ zugebilligt wird[91]. Echte Gefahrenvorsorgetatbestände unabhängig von einer abstrakten Gefahr[92] können auch nicht im Wege einer ordnungsbehördlichen Verordnung eingerichtet werden, weil dies von § 1 nicht gedeckt ist. Sie müssen ggf. spezialgesetzlich eingerichtet werden und, wie eben umschrieben, verfassungsrechtlich zulässig sein[93]. Es ist dann fachrechtlich zu prüfen, ob dies auf der Ebene eines Gesetzes oder – in der Regel vorzugswürdig – auf Verordnungswege (auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung) erfolgt[94].

8. „Gefahrenarten“ des Gefahrenabwehrrechts: Tatbestandsvoraussetzungen und Eingriffsschwellen („Gefahrstufen“)

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§ 1 Abs. 1 eröffnet den Anwendungsbereich bei einer „Gefahr“. Ordnungsbehörden wie Polizeigesetz und Sonderrechtsmaterien kennen eine Reihe weiterer – die terminologische Bezeichnung fällt durchaus nicht leicht[95] – „Gefahrenarten“ oder „Gefahrstufen“, die Bedeutung als Eingriffsschwellen für bestimmte Handlungen haben:

a. Konkrete Gefahr

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Die konkrete Gefahr ist die Voraussetzung für die Zulässigkeit ordnungsbehördlichen Einschreitens nach § 14:

Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn bei ungehindertem Ablauf des Geschehens in überschaubarer Zukunft mit einem Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann. In tatsächlicher Hinsicht bedarf es in Abgrenzung zu einem bloßen Gefahrenverdacht einer genügend abgesicherten Prognose auf den drohenden Eintritt von Schäden[96]. Inhaltlich übereinstimmend wird z. T. auch formuliert, eine konkrete Gefahr liege vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann.

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Konkrete Gefahren werden mit Einzelordnungsverfügungen oder mit Allgemeinverfügungen (§ 35 Satz 2 VwVfG) bekämpft[97]. Abstrakten Gefahren wird mit ordnungsbehördlichen Verordnungen nach §§ 25 ff. bzw. auf Gesetzesebene – Beispiel Landeshundegesetz – begegnet.[98] Die Grenzziehung zwischen den Handlungsformen Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung ist schwierig und durchaus „fließend“[99].

b. Abstrakte Gefahr

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Der Begriff der abstrakten Gefahr ist der Gegenbegriff zur konkreten Gefahr, was die Frage des Einzelfalls bzw. der allgemein gefährlichen Lage angeht. Mitunter wird synonym der Begriff „allgemeine Gefahr“ verwendet[100]. Darunter wird eine nach allgemeiner Lebenserfahrung mögliche Sachlage verstanden, bei der im einzelnen Fall in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintritt[101].

Es soll eine Lage gegeben sein, in der ein Anlass vorliegt, eine bestimmte Gefahr generell zu bekämpfen[102]. Dagegen kommt es für die abstrakte Gefahr nicht darauf an, dass sich ein entsprechender Sachverhalt aktuell in der Realität nachweisen lässt[103]. Die abstrakte Gefahr unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose.[104]

Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu festgestellt: Eine konkrete Gefahr liege vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden könne, eine abstrakte Gefahr sei gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führe, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflege und daher Anlass bestehe, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen. Das habe zur Folge, dass auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden könne[105]. Beispielsweise geht von unangeleinten Hunden die abstrakte Gefahr der Verletzung von Menschen und Tieren aus[106]. Durch das Auftreten großer Schwärme wildlebender Tauben in Stadtgebieten kann eine erhebliche Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung eintreten, dies bedeutet eine abstrakte Gefahr und kann z. B. ein Fütterungsverbot rechtfertigen[107].

Ordnungsbehördliches Instrument zur Bekämpfung abstrakter Gefahren ist die ordnungsbehördliche Verordnung (§§ 25 ff.), wobei diese im Rahmen des OBG nur ergehen darf, wenn und soweit es um Gefahrenabwehr geht; geht es um Gefahrenvorsorge, müssen spezialgesetzliche Grundlagen geschaffen werden. So soll der Gesetzgeber die „Einführung sogenannter Rasselisten selbst zu verantworten“ haben[108].

c. Gegenwärtige Gefahr

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Gegenwärtige Gefahr (Zeitmoment): Diese soll nach Ziffer 19.11 der Verwaltungsvorschriften (zu § 19) vorliegen, wenn die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder wenn diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit der erforderlichen (an Sicherheit grenzender) Wahrscheinlichkeit bevorsteht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zu dem Begriff der gegenwärtigen Gefahr im Polizeirecht ausgeführt, es müsse sich um eine unmittelbar bevorstehende Gefahr handeln, der Eintritt eines Schadens müsse sofort und fast mit Gewissheit (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) zu erwarten sein[109]. Weitgehend synonym dazu soll der Begriff der „unmittelbaren Gefährdung“ bzw. unmittelbaren Gefahr sein, etwa in § 15 Abs. 1 VersG[110], hiermit soll eine besondere zeitliche Nähe der Gefahrenverwirklichung und ein gesteigertes Maß der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bezeichnet sein[111].

Beispiele: Die Inanspruchnahme eines Nichtstörers ist nach § 19 nur zulässig, wenn eine gegenwärtige (und erhebliche) Gefahr abzuwehren ist[112]. Nach § 55 Abs. 2 VwVG kann Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist[113]. Eine Wohnungsverweisung durch die Polizei nach § 34a PolG kann „zur Abwehr einer von ihr (einer Person) ausgehenden gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer anderen Person“ erfolgen[114]. Vergleiche auch §§ 41, 43 Nr. 1 (Sicherstellung)[115], 50 Abs. 2 PolG[116].

d. Gefahr im Verzug

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Gefahr im Verzug (Zeitmoment): Bei „Gefahr im Verzug“ sieht der (Sicherheits-)Gesetzgeber aus Zeitgründen eine Kompetenzverschiebung oder ein Absehen von bestimmten, ansonsten geltenden (formellen) Anforderungen vor, etwa bei §§ 6 und 20 Abs. 1 bzw. in §§ 1 Abs. 1 Satz 3, 42 Abs. 1 PolG, auch bei § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG.

Prägend ist, dass eine Sachlage vorliegt, bei der ein Schaden eintreten würde, wenn nicht anstelle der zuständigen Instanz (sofort) eine andere Behörde oder Person handeln würde[117]. Zur Verhinderung eines Schadens muss sofort eingegriffen werden, ein Abwarten etwa bis zum Handeln der prinzipiell zuständigen Behörde muss die Effektivität der Gefahrenabwehr in Frage stellen oder jedenfalls einschränken[118]. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Ausnahmecharakter dieser Konstellation beachtet und eingehalten werden[119].

e. Dringende Gefahr

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Dringende Gefahr (Zeitmoment): Eine dringende Gefahr liegt vor, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiven Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein wichtiges Rechtsgut schädigen wird[120].

Verwendet wird der Begriff etwa in Art. 13 Abs. 4 bzw. 7 GG oder in § 41 Abs. 3 PolG. Ob es sich um eine Bezeichnung der gegenwärtigen Gefahr handelt oder um einen Aspekt, der Ausmaß und Wahrscheinlichkeit des Schadens – im Sinne der Erheblichkeit – betrifft (also Schwere- oder Zeitmoment), ist umstritten[121].

f. Erhebliche Gefahr

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Erhebliche Gefahr (Schwerekriterium): Die erhöhte Anforderung an die Gefahr kombiniert der Gesetzgeber mit einer ebenfalls erhöhten Anforderung an die zu schützenden Rechtsgüter; man kann dies als Ausrichtung nach dem Ausmaß des drohenden Schadens bezeichnen.

So ist die Inanspruchnahme des Nichtstörers nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 nur zulässig, wenn eine erhebliche (und gegenwärtige) Gefahr abzuwehren ist[122]. Erheblich ist die Gefahr nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 19.11, „wenn sie einem bedeutsamen Rechtsgut (insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, wichtige öffentliche Einrichtung u. a.) droht“.

g. Gemeine Gefahr

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Gemeine Gefahr (Schwerekriterium): Der Begriff der gemeinen Gefahr, die etwa in Art. 13 Abs. 4 GG angesprochen ist, beschreibt eine Situation, in der die konkrete Gefahr mindestens einem Menschen oder Sachen mit bedeutendem Wert (ab ca. 500 Euro) droht[123]. Die gemeine Gefahr betrifft einen unbestimmten Kreis von Personen oder Sachen und kommt an Bedeutung einer Lebensgefahr nahe[124]. Unterfall ist die Gefahr für Leib oder Leben, etwa nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG: eine Lage, bei der eine nicht nur leichte Körperverletzung oder der Tod einer Person einzutreten droht.

h. Weitere spezialgesetzliche Eingriffs- bzw. Handlungsvoraussetzungen

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Spezialgesetzliche Regelungen insbesondere im Polizei- und Verfassungsschutzrecht: In polizei- und spezialgesetzlichen Vorschriften etwa zur Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden findet man Kombinationen von Elementen des Gefahrbegriffs, etwa die Anknüpfung an die „Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert“ als Voraussetzung für die Zulässigkeit besonders schwerwiegender polizeilicher Eingriffe. Hierbei geht es in erster Linie um die Frage, wie hoch aus verfassungsrechtlicher Sicht die einfachrechtlichen Hürden für die Polizei- bzw. Sicherheitsbehörden (insbesondere die Verfassungsschutzämter) sein müssen. Da dies aufgrund der nur eingeschränkten Verweisung in § 24 indes für die Ordnungsbehörden nicht im Zentrum steht, soll darauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden[125].

9. Schutzgut: öffentliche Sicherheit

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Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen, den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen und Veranstaltungen und sonstiger Träger der Hoheitsgewalt[126].

Inhaltsgleich dürfte die Formulierung sein, unter öffentlicher Sicherheit sei in Anlehnung an die Amtliche Begründung zu § 14 PVG die „Unversehrtheit von Leben, Gesundheit, Ehre, Freiheit und Vermögen des Einzelnen sowie der Bestand und das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen zu verstehen“[127].

Die Schutzgüter sind zum Teil identisch, weil die Rechtssätze, mit denen individuelle Rechte und Rechtsgüter geschützt werden, auch Teil der (objektiven) Rechtsordnung sind. Es geht jedenfalls um den Schutz der gesamten Rechtsordnung vor rechtswidrigen Angriffen[128].

a. Unverletzlichkeit der Rechtsordnung

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Die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung betrifft, was die Rechtsquellenlehre angeht, die gesamte geschriebene Rechtsordnung: Verfassung[129] (Grundgesetz, Landesverfassungen), Gesetze, Rechtsverordnungen[130], Satzungen, Richterrecht, Gewohnheitsrecht. Hinsichtlich der umfassten Rechtsgebiete sind in erster Linie das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht zu nennen, ferner das Öffentliche Recht, Privatrecht, Europarecht und auch die EMRK[131].

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Grundsätzlich stellt der Bruch einer Gesetzesvorschrift mit verbindlicher Verhaltensregel, sei sie öffentlich-rechtlichen, privatrechtlichen oder strafrechtlichen Charakters, eine Störung der öffentlichen Sicherheit dar[132], wobei allerdings sogleich auf folgende den Pflichtenkreis der Ordnungsbehörden eingrenzende Gesichtspunkte und Prinzipien aufmerksam zu machen ist: Subsidiaritätsprinzip, Vorrangigkeit privatrechtlichen Rechtsschutzes, keine originäre/isolierte Straf- oder Ordnungswidrigkeiten-Verfolgungskompetenz der Ordnungsbehörden.

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Als Verhaltenspflichten regelnde Vorschriften werden aus dem öffentlichen Recht etwa zahlreiche Vorschriften aus dem Besonderen Verwaltungsrecht angesehen, also beispielsweise die Regelungen zum Sonn- und Feiertagsrecht (§ 33b GewO: Tanzlustbarkeiten; LÖG NRW vom 16. November 2006[133], Feiertagsgesetz NW vom 23. April 1989[134]), zur gewerblichen sexuellen und sonstigen Aktivität im Gewerberecht (§ 33a GewO; Prostitutionsgesetz; § 120 OWiG), zur Bekämpfung der Spielsucht (§§ 33c ff. GewO), zum Lärmschutz nach Bundes- (BImSchG) und Landesrecht (LImSchG NRW), ggf. in Verbindung mit § 117 OWiG, die Beachtung der Regeln des Nichtraucherschutzgesetzes[135] etc. Ein Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Normen beeinträchtigt stets die öffentliche Sicherheit[136].

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Die Generalklausel des § 14 ist die Eingriffsgrundlage hinsichtlich der Rechtsmaterien des Besonderen Verwaltungsrechts, welche keine eigene spezielle Rechtsgrundlage für Eingriffe enthalten[137]. In der Verwaltungspraxis wichtig sind insbesondere §§ 116 OWiG ff.[138] (Belästigungen durch grob ungehörige Handlungen, Lärmveranstaltung, unzulässige Prostitution[139] etc.), deren fortdauernde Verletzung (Störung) einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit darstellt bzw. darstellen kann, sodass man, was häufiger übersehen wird, nicht mehr auf die öffentliche Ordnung zurückgreifen muss. Was das Verwaltungsrecht angeht, kommt ein ordnungsbehördliches Einschreiten grundsätzlich nicht in Betracht, soweit ein unanfechtbarer Erlaubnisakt vorliegt; falls dieser rechtswidrig ist, muss er zunächst aufgehoben werden[140].

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Beim Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht kommt es auf das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen an, nicht auf die Schuld oder ob es sich um ein Antragsdelikt handelt[141]. Allein die Missachtung eines Gesetzes begründet die Gefahr, auf einen konkreten Gefährdungs- oder Verletzungserfolg kommt es nicht an (Beispiel: Nachts bei rotem Ampelsignal die Straße queren)[142]. Die Ordnungsbehörde ist für die Verhinderung bzw. Bekämpfung insoweit zuständig, als es sich hierbei zugleich um eine Gefahr oder Störung handelt; für die repressive Strafverfolgung ist die Staatsanwaltschaft zuständig. Wenn und soweit die Verletzung besonderer privater Rechte unter besonderen strafrechtlichen Schutz gestellt ist (Beispiel Unterhaltungspflichtverletzung), handelt es sich nicht allein um private Rechtsverfolgung auf dem Gebiet der Privatrechtsordnung; der Grundsatz der Vorrangigkeit der privatrechtlichen Rechtsverfolgung tritt dann zurück.

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Der Staat darf nicht über das Gefahrenabwehrrecht missliebige, aber nicht verbotene politische Aktivitäten behindern. Polizei- oder ordnungsbehördliche Verbote erlaubter politischer Aktivitäten dürfen nicht an eine (angebliche) Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung anknüpfen[143]. Es gilt das Parteien- und Vereinsprivileg (Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG).

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Das Teilschutzgut Privatrechtsordnung ist vom Anwendungsbereich zwar nicht gänzlich ausgenommen, allerdings sind die Vorrangigkeit der Rechtsverfolgung auf privatrechtlichem Wege und die Privatrechtsautonomie der Privatrechtssubjekte in einer freiheitlichen Rechtsordnung zu beachten[144]. Die Gefahrenabwehr ist grundsätzlich und in erster Linie auf das öffentliche Interesse bezogen, nicht auf die privaten Rechtsverfolgungsinteressen Einzelner[145]. Nach 1.11 der Verwaltungsvorschriften zu § 1 OBG soll der Schutz privater Rechte nur dann in den Bereich der den Ordnungsbehörden obliegenden Gefahrenabwehr fallen, wenn das zu schützende Recht hinreichend glaubhaft gemacht ist[146], gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist[147] und die Gefahr besteht, dass ohne ordnungsbehördliche Hilfe die Durchsetzung des Rechts nicht möglich ist oder wesentlich erschwert wird. Diese Restriktionen sind sinnvoll und geboten, weil dadurch das öffentliche Interesse an Beweissicherung und Feststellung der materiell richtigen Rechtslage geschützt wird, während andererseits der Vorrang der privaten Rechtsverfolgung und -durchsetzung betont wird. Die ordnungsbehördliche Tätigkeit ersetzt nicht die zivil- oder strafrechtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten und Rechtsbehelfe, welche Privaten zustehen[148], wobei auf der anderen Seite stets auf den Schutz durch öffentlich-rechtliche oder strafrechtliche Vorschriften zu achten ist[149]. Ganz allgemein wird man sagen können, dass die Ordnungsbehörde immer dann berechtigt ist, ein Eingreifen zum Schutz eines Einzelnen abzulehnen, wenn der Einzelne seine Rechte selbst wahrnehmen kann und ihm das auch zuzumuten ist, insbesondere also, wenn derjenige, der die Hilfe der Behörde in Anspruch nehmen will, sein Recht beim Zivilgericht selbst verfolgen kann[150]. Dies gilt etwa hinsichtlich privater Grenzstreitigkeiten, Streitigkeiten um überhängende Zweige und dergleichen. Hier ist das private bürgerliche Recht (BGB und Nachbarrecht) einschlägig, es besteht eine Zuständigkeit (des Schiedsmanns und) des Zivilgerichts, und der Staat hält nicht noch zusätzliche öffentlich-rechtliche Personalkapazitäten bei den Kommunen bereit, um derartige Zivilrechtsstreitigkeiten öffentlich-rechtlich durch Ordnungsverfügung zu regeln.

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Zum Schutz rein privater Rechte durch die Polizei vgl. auch § 1 Abs. 2 PolG (vor allem Personalienfeststellung, erkennungsdienstliche Maßnahmen[151]). Die Selbsthilfebefugnisse nach §§ 229, 230, 561, 860 und 910 BGB schließen den polizeilichen Aufgabenbereich nicht aus, da sie das staatliche Gewaltmonopol nicht beseitigen wollen[152]. Bei dem Verlangen nach Feststellung von Personalien kommt es besonders auf die eigenen Möglichkeiten des Geschädigten an. Es kommt darauf an, ob eine Einschreitenspflicht besteht oder die Ordnungsbehörde pflichtgemäß Ermessen ausüben muss[153].