Loe raamatut: «Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen – Kommentar», lehekülg 7

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b. Bestand und Einrichtungen des Staates

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Unter dem Schutzgut „Bestand des Staates“ versteht man die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland[154]; zum Teil wird dafür eingetreten, vom Schutz der verfassungsgemäßen Ordnung zu sprechen[155]. Die Beobachtung der Gesellschaft im Hinblick auf mögliche Gefährdungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist Sache des Verfassungsschutzes[156].

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Einrichtungen des Staates und anderer (auch internationaler und ausländischer) Hoheitsträger sind deren Organe, Behörden, Körperschaften, Stiftungen, Anstalten und ähnliche Sachkomplexe im weitesten Sinne, auch außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung (z. B. öffentliche Universitäten, Schwimmbäder, Theater, Museen, Wohnheime etc.)[157]. Es ist zunächst Sache des jeweiligen Hoheitsträgers, Störungen aufgrund eigener Ordnungsgewalt bzw. auf der Grundlage des Hausrechts abzuwehren[158], nur wenn er dazu nicht in der Lage ist, ist die Zuständigkeit der Ordnungsbehörde gegeben[159].

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Zu den Veranstaltungen werden etwa Staatsempfänge, Manöver, Gelöbnisse[160], Tage der offenen Tür (etwa von Parlamenten) etc. gerechnet[161].

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Zu dem Schutzgut öffentliche Sicherheit gehört die Funktionsfähigkeit der staatlichen Einrichtungen. Polizei und Ordnungsbehörden sind dazu berufen, den ordnungsgemäßen Betrieb der staatlichen Einrichtungen vor Störungen von außen zu sichern, unabhängig davon, ob diese einen Straf- oder Bußgeldtatbestand erfüllen. Zum Teil gibt es insoweit strafrechtliche bzw. ordnungswidrigkeitenrechtliche Schutznormen, sodass zugleich der Gesichtspunkt der Gefährdung des Geltungsanspruchs von Rechtsnormen betroffen ist[162]. Strafrechtliche Vorschriften, welche Bestand und Einrichtungen explizit zum Schutzgut haben, sind insbesondere §§ 105 ff., 113, 123, 240 und 316 b StGB. Die Einsatzfähigkeit der Polizeiorganisation ist Teil der Sicherheit des Staates und seiner Einrichtungen[163].

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Es liegt im Organisationsermessen der Behörden, welche Maßnahmen sie einsetzen und wie sie ihren Betrieb organisieren; Eingriffe privater Dritter von außen können polizei- oder ordnungsbehördlich unterbunden werden[164]. Behörden müssen es nicht hinnehmen, dass ihr Handlungskonzept von Privaten in Frage gestellt oder konterkariert wird[165]. Radar- oder Laserstörwarngeräte sind straßenverkehrsrechtlich verboten (§ 23 Abs. 1 b StVO). Das Ausspähen des polizeilichen Einsatzverhaltens und die Weitergabe entsprechender Daten berührt die Funktionsfähigkeit der Polizei und ist ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit[166]. Auf der anderen Seite ist dann, wenn Grundrechte im Spiel sind, im konkreten Einzelfall genau zu prüfen, ob und inwieweit beschränkende Verfügungen in Betracht kommen[167]. Öffentliche Einrichtungen sind nicht gewissermaßen „sakrosankt“, was Kritik angeht. Die besonders bei der bürgerlichen Revolution 1848 im Mittelpunkt stehende Meinungsfreiheit ist verfassungsrechtlich geschützt und „polizeifest“[168].

c. Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen

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Rechtsgüter sind Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Würde, Vermögen (Eigentum und Besitz)[169]. Geschützt ist das Recht am eigenen Bild, auch bei Beamten im Dienst[170]. Soweit Individualrechtsgüter in subjektiven Privatrechten ihren Ausdruck gefunden haben, sind in erster Linie die ordentlichen Gerichte zuständig.

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In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist in diesem Kontext die staatliche Schutzpflicht insbesondere für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bürger zu beachten[171]. Im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist Selbsthilfe nur insoweit rechtmäßig, wie sie von der Rechtsordnung zugelassen ist, es gibt keine natürlichen, sondern nur gesetzlich zugewiesene Selbstverteidigungsrechte[172]. Aus diesem „Gewaltmonopol“ erwächst die staatliche Verpflichtung, Rechte und Rechtsgüter der Bürger wirksam zu schützen[173]. Daraus folgt nicht nur die Pflicht des einfachen Gesetzgebers, ein Sanktionen- und Zwangsinstrumentarium zur Verfügung zu stellen[174], wobei der Vorbehalt des Gesetzes zu beachten ist[175]. Sicherheit ist als Wert mit Verfassungsrang anerkannt[176]. In der repressiven und präventiven Gefahrenbekämpfung können Behörden und Organwalter die Pflicht treffen, im Wege einer Abwägung der staatlichen Schutzpflicht den Vorrang vor Rechten und Rechtsgütern von (präsumptiven) Tätern zukommen zu lassen (ggf. Ermessensreduzierung auf Null). Dabei kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an; zur Rettung des Lebens eines Kindes kann es, nach äußerst streitiger, aber zutreffender Ansicht, als „ultima ratio“ zulässig sein, dem in staatlicher Gewalt befindlichen (mutmaßlichen) Täter körperliche Gewalt anzudrohen, um den Aufenthaltsort des Opfers zu erfahren (sog. „Fall Daschner“)[177]. Das Verbot der Selbsthilfe verpflichtet den Staat zugunsten des Opfers und seiner Angehörigen, in diese Rechtsgüterabwägung einzutreten. Der a-limine-Ausschluss der Abwägung, wie von manchen[178] gefordert, erscheint jedenfalls kaum überzeugend, weil diese Sicht das Problem zu Unrecht auf ein zweiseitiges Rechtsverhältnis (Staat-Störer) verengt und die praktische Durchsetzung der staatlichen Schutzpflicht zugunsten des Opfers ausblendet. Dies mag anthropologisch und auch rechtspolitisch (die Polizei darf niemals wieder in die Rolle einer „folternden“ Behörde kommen)[179] nur zu verständlich sein, erscheint jedoch in einer spezifisch juristischen Betrachtungsweise als unzulässige Problemnegation. Schützt der Staat nicht wirksam, wird (normativ und rechtstatsächlich) das private Selbstverteidigungsrecht wieder aufleben[180]. Verfassungsunmittelbare Rechtsgrundlagen zum Einschreiten folgen zwar wohl in der Regel nicht direkt aus der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht[181], § 8 PolG dürfte als richtige Rechtsgrundlage in Betracht kommen[182].

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Am Schutz des Lebens besteht ein besonderes öffentliches Interesse. Der Staat und seine Organe sind verfassungsrechtlich verpflichtet, menschliches Leben zu schützen. Die öffentliche Sicherheit ist daher in hohem Maße gefährdet, wenn Konzertbesucher sich durch den Aufenthalt in einem Kellerraum mit nur einem engen Zugang leichtsinnig Gefahren für Leben und Gesundheit im – nicht unwahrscheinlichen Fall – eines Brandes aussetzen[183]. Besondere Schutzpflichten treffen die Polizei, etwa bezüglich Tatzeugen[184]. Bei Vorliegen einer staatlichen Schutzpflicht kann es zu einer Ermessensreduzierung auf Null kommen[185], also zu einer Pflicht bzw. einem entsprechenden Anspruch eines Bürgers, dass die Ordnungsbehörde einschreitet (§ 16)[186] und dass sie ein bestimmtes Mittel anwendet (§ 15)[187] oder nicht anwendet, etwa, im Falle glaubhafter Suiziddrohungen[188], eine Wohnung nicht räumt. Werden diese Pflichten verletzt, drohen ggf. Amtshaftungsansprüche[189].

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Selbstgefährdungen sind immer dann gefahrenabwehrrechtlich relevant, wenn gleichzeitig Dritte gefährdet sind, also etwa beim Passivrauchen. Dem trägt das Nichtraucherschutzgesetz vom 20. Dezember 2007[190] als Sonderordnungsmaterie (§ 12) Rechnung, das freilich zu spät und erst nach einer Grundgesetzänderung und einer recht kraftvollen Intervention des Bundesverfassungsgerichts erlassen wurde[191]. Die jahrzehntelangen Verzögerungen dürften, nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts über die Risiken des „Passivrauchens“, viele tausend Menschenleben gekostet haben.[192] Die Nichtraucher müssen es keinesfalls hinnehmen, nur um der freien Entfaltung der Raucherpersönlichkeit willen in ihrer eigenen Gesundheit gefährdet oder beeinträchtigt zu werden[193]. Rauchen in der Öffentlichkeit, in öffentlichen Gebäuden etc. ist gesetzlich untersagt worden; dies ist auch keine Frage der Konvention, der Höflichkeit, der bloßen „Belästigung“ etc.

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Ist eine Fremdgefährdung auszuschließen, so ist die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung frei, soweit sie vom freien Willen getragen ist, „und ist der Willen nur frei, wenn er die Gefahren kennt. Kennt er sie nicht, ist sein gefährliches Verhalten nicht als Ausdruck grundrechtlich geschützter Selbstbestimmung zu achten, sondern ist er vor der Gefahr zu schützen“[194]. Sogenannter (ernsthafter) Bilanzselbstmord ohne Gefährdung Dritter soll grundrechtlich geschützt sein[195], Appellselbstmord nicht; die Gefahrenabwehrbehörde wird aber regelmäßig davon ausgehen müssen, dass von einer freien Willensbetätigung nicht auszugehen ist[196]. Es geht daher in Fällen dieser Art nicht um die Frage der „Polizeifestigkeit“, eines „Rechts, sterben zu dürfen“[197]. Liegen begründete Hinweise auf Suizidabsichten vor, darf die Polizei eine Wohnungstür öffnen, auch wenn die betreffende Person keine Suizidabsichten hatte (sog. Anscheinsgefahr)[198]. Tauchverbote in besonders gefährlichen Seeregionen rechtfertigen sich zumindest unter dem Aspekt der möglichen Mitgefährdung nichtprofessioneller Retter[199].

10. Schutzgut: öffentliche Ordnung
a. Definition

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Verfassungsmäßigkeit und rechtspolitische Bedeutung des Merkmals der „öffentlichen Ordnung“ als gefahrenabwehrrechtliches Schutzgut sind in der „pluralistischen Massengesellschaft des (post-)industriellen Zeitalters“[200] seit Langem umstritten[201].

Man bezeichnet damit nach überkommener Definition (Begründung zu § 14 PVG) den „Inbegriff der Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben der innerhalb eines Polizeibezirks wohnenden Menschen angesehen wird“[202]; das OVG versteht unter der öffentlichen Ordnung (im Ergebnis wohl übereinstimmend) die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird[203].

Bei den „Regeln“ handelt es sich nicht um – vom Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasste – Rechtsnormen, sondern um Aspekte der Sitte und Moral, in denen die „Wertvorstellungen einer Gemeinschaft ihren Niederschlag gefunden haben“[204].

b. Rechtspolitischer Streit um verfassungsrechtliche Zulässigkeit und Angemessenheit

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Nach dem Regierungsentwurf sollte dieses Merkmal aus rechtsstaatlichen Gründen[205] und weil oft nur unter großen Schwierigkeiten feststellbar sei, ob ein Verhalten die öffentliche Ordnung verletze, ursprünglich nicht aufgenommen werden. In der parlamentarischen Beratung habe sich dann aber doch, so die Einschätzung seinerzeit, der Standpunkt durchgesetzt, dass es aus staatspolitischen Gründen richtiger sei, es bei der bisherigen Generalklausel (§ 10 Abs. 2 Satz 17 ALR, § 14 PVG) zu belassen, da sich Stand und Entwicklungen der Störungen und Gefahren bestenfalls für die Gegenwart und Vergangenheit, nicht jedoch für die Zukunft beurteilen ließen[206].

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Gegen das Schutzgut öffentliche Ordnung werden vor allem[207] drei Argumente vorgebracht[208]:

–es sei überflüssig, weil im Rechtsstaat alle wesentlichen Rechte und Rechtsgüter gesetzlich geschützt und alle Pflichten spezialgesetzlich normiert seien. Die „öffentliche Sicherheit“ in diesem Sinne habe eine rechtliche Dichte erfahren, welche vor einigen Jahrzehnten nicht vorhanden gewesen sei, deshalb könne die öffentliche Ordnung wegen Funktionslosigkeit entfallen;

–es sei rechtsstaatlich bedenklich, weil gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verstoßend: was im Rechtsstaat nicht ausdrücklich verboten sei, sei erlaubt;

–es sei in der Verwaltungspraxis nur schwer administrierbar, denn erstens änderten sich ständig die (letztlich geschützten) Wertvorstellungen[209], zweitens würden die Ordnungsbehörden bei der Subsumtion in sehr anspruchsvolle Subsumtionsarbeiten, auch hinsichtlich der Abgrenzung widerstreitender Grundrechte, getrieben.

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Wesentliche Gesichtspunkte sind heute in der Tat spezialgesetzlich geregelt (insbes. §§ 118 ff. OWiG hinsichtlich sexueller oder sonstiger verhaltensmäßiger „Abirrungen“ in der Öffentlichkeit) bzw. können oder könnten geregelt werden, etwa die baurechtliche Verhinderung der Ansiedlung anstößiger Einrichtungen in Schulnähe[210]. Wenn und soweit Gesetz- oder Verordnungsgeber Sozialnormen aufgreifen und in Rechtsnormen umgießen, wird der Norminhalt verrechtlicht und insoweit zum Bestandteil der öffentlichen Sicherheit[211]. Es geht dann oft um die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen wie den „guten Sitten“. Der einfache Gesetzgeber (Bund und Land) ist im Übrigen gehalten, wesentliche Fragen selbst zu entscheiden. Die Parteien, welche die Regierungsmehrheiten stellen, dürfen sich weder aus der Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen scheuen, für manche Wähler oder Wählergruppen möglicherweise unbequeme Entscheidungen zu treffen, noch darf hingenommen werden, dass Lobbygruppen überfällige Schutzvorschriften jahre- oder gar jahrzehntelang verhindern (Nichtraucherschutz). Insofern ist Rietdorf heute noch zuzustimmen, wenn er schon Mitte der 1950er-Jahre die Strategie verfolgte, die Zurückdrängung bzw. „Ausschaltung der Generalklausel“[212] voranzutreiben, um den einfachen Gesetzgeber stärker in die Pflicht zu nehmen und seiner verfassungsrechtlichen Hauptaufgabe nachzukommen, per Gesetz verbindliche Regeln über die Grundlagen des Zusammenlebens zu treffen (und dieses nicht Verwaltungsbeamten und Richtern in Einzelfallentscheidungen zu überlassen).

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Auf der anderen Seite hat man bei manchen Fallgestaltungen, in denen die öffentliche Ordnung als Schutzgut herangezogen wird, den Eindruck, als sei nicht genügend auf die bereits vorhandenen Regelungen und Verbote geachtet worden, als sei der vorrangige Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit vorschnell und methodisch verfehlt verneint worden. Wenn z. B. die Menschenwürde betroffen ist (etwa bei den sog. Tötungsspielen)[213], geht es um die öffentliche Sicherheit[214]. Wenn Leichen ausgestellt werden, um voyeuristische Gelüste zu befriedigen und dergleichen, kann das Bestattungsrecht verletzt sein[215].

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Soweit eine Verletzung von Rechtsnormen und damit der öffentlichen Sicherheit nicht festgestellt werden kann, mag die Gefahr bestehen, dass das Schutzgut öffentliche Ordnung als Administrativvehikel missbraucht werden könnte, um einer Minderheit bestimmte Sozial- oder Moralvorstellungen zu oktroyieren[216]. Das gilt allerdings auch für Verhaltensweisen, die heute aus politischen Gründen zu Recht oder zu Unrecht als so anstößig empfunden werden wie bestimmte (öffentlich gemachte) Sexualaktivitäten vor 30 oder 50 Jahren[217]: Wenn das Hissen der „Reichsflagge“ in einem vorwiegend von Ausländern bewohnten Stadtteil gesetzlich nicht verboten sein sollte, wird es kaum qua § 14 und öffentlicher Ordnung verboten werden können[218]. Dass jemand rechtsirrig einen Strafrechtsverstoß annehmen könnte (etwa beim Schwenken einer bestimmten Fahne), begründet insoweit keinen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung[219]. Wenn und solange z. B. die NPD nicht verboten ist, kann die Verteilung von Infobroschüren auf öffentlichen Gehwegen grundsätzlich nicht qua öffentlicher Ordnung verboten werden[220].

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Darüber hinaus gilt: Gerade das, was spezialgesetzlich geregelt, aber nicht verboten ist, ist erlaubt: Wenn und soweit Lärmerzeugung nicht gegen das Bundes- oder Landes-Immissionsschutzgesetz verstößt, dürfte sie wohl regelmäßig hinzunehmen sein – wobei die Generalklausel des § 3 LImSchG zu Recht weit gefasst ist. Wenn und soweit Demonstrationen – auch von verabscheuungswürdigen Parteien oder Ideologen – versammlungsrechtlich zulässig sind, dürfen sie auch nicht qua öffentlicher Ordnung verboten werden[221]. Allerdings stellt sich hier mitunter sogleich die ebenfalls schwierige Auslegungsfrage, wie weit die Sperrwirkung einfachrechtlicher Vorschriften reicht. Bei § 118 OWiG und § 183 StGB etwa geht die Rechtsprechung davon aus, dass in der Zurschaustellung des eigenen nackten Körpers in der Öffentlichkeit („Kläger trat seit Jahren nackt in der Öffentlichkeit auf und bezeichnete sein Verhalten als Interaktionskunst“)[222] auch dann ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung liegen kann, wenn die Grenzen dieser Vorschriften nicht erörtert werden bzw. diese nicht überschritten werden[223].

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Bemerkenswert ist auch, wenn die Disposition über das Vorliegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung nach der neueren Rechtsprechung offenbar in der Hand von Grundrechtsträgern zu liegen scheint, etwa im Fall der Obdachlosigkeit. Wenn die „freiwillige“ Obdachlosigkeit nicht gegen die öffentliche Ordnung verstoßen soll, die „unfreiwillige“ aber sehr wohl (Schlagwort: „Unterbringungsunwilligkeit“)[224], obwohl es in erster Linie in einer Sozialhilfeangelegenheit im Verhältnis Fachsozialbehörde – Sozialhilfeempfänger, um Grund und Reichweite von Anspruchspositionen geht, mag eine solche Positionierung juristisch-dogmatisch nicht leicht zu begründen sein.[225] Letztlich dürfte es bei der unfreiwilligen Obdachlosigkeit um die staatliche Schutzpflicht (also öffentliche Sicherheit)[226] gehen, bei der freiwilligen wird eine Eingriffsbefugnis über den Schutz der öffentlichen Ordnung von der heute ganz h. M. verneint.

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Noch problematischer wird es, wenn die Ordnungsbehörden über die öffentliche Ordnung in die Rolle gedrängt werden (sollen), Entscheidungen in hochkomplexen Grundrechtslagen zu treffen. Wenn etwa gesagt wird, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung könnten in der Verletzung und Herabwürdigung des religiösen Gefühls anderer liegen[227], so stellen sich – vor dem Hintergrund im Jahr 2012 aktueller Fälle wie der geschmacklosen und entwürdigenden Darstellung des Papstes in dem Satireblatt „Titanic“ oder dem sog. Mohammed-Video im Internet – erhebliche Auslegungs- und Subsumtionsprobleme, insbesondere zur Frage der Bedeutung von Strafrechtsnormen in dem zu beurteilenden Zusammenhang. Verstärkt werden diese noch, wenn bedacht wird, dass vorbehaltlos gewährte Grundrechte unter dem Aspekt der öffentlichen Ordnung überhaupt nicht einschränkbar sein sollen (gemeint ist: sie sind einschränkbar durch andere Rechte und Rechtsgüter mit Verfassungsrang). Dies hat das Bundesverwaltungsgericht schon 1951 entschieden, indem es der Einschätzung eines emsländischen Ordnungsamtes, der seinerzeitige (heute betulich und harmlos anmutende) Skandalfilm „Die Sünderin“ verletze die öffentliche Ordnung, entgegenhielt, die Freiheit der Kunst unterliege nicht den Schranken der polizeilichen Generalermächtigung[228].

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Mag somit manches dafür sprechen, dass es auf die öffentliche Ordnung in der Praxis regelmäßig selten ankommen wird, so sprechen gute Gründe dafür, sie de lege ferenda als Schutzgut in einer Art Reservefunktion zu erhalten aus dem Gesichtspunkt des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags zur Sicherung des inneren Friedens[229]. Dies betrifft vor allem die Befugnis der Gemeinden, den öffentlichen Raum so zu gestalten, dass Menschen sich unter wechselseitiger Toleranz und Rücksichtnahme nicht unzumutbar belästigen oder behindern. Daher kommen besonders Regelungen in ordnungsbehördlichen Verordnungen in Betracht[230].

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Inhaltlich sollte auf die tatsächlichen Beeinträchtigungen anderer Menschen geachtet werden (und nicht in erster Linie auf sog. sittliche Empfindungen oder subjektive Wertvorstellungen, die im Zweifel entweder durch das Strafrecht oder gar nicht geschützt sind ). Da Alkoholkonsum enthemmt und bei vielen Menschen zu aggressivem, pöbelndem Verhalten führt, erscheint eher unverständlich, wie man die Auffassung vertreten kann, dass Alkoholverbote im öffentlichen Raum nicht auf die öffentliche Ordnung gestützt werden können[231].