Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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Die konsularischen Obliegenheiten Eugen Bethusy-Hucs müssen sich tatsächlich in Grenzen gehalten haben, da er Reiswitz in den folgenden Tagen und Wochen bei mehreren Ausflügen begleitete. Am 07.09. hatten beide zusammen den mehr als 2.000 Meter hohen Bjelasnica-Berg bestiegen. Der Weg zum Gipfel – wahrscheinlich von Ilidža aus – führte durch „richtigen Urwald“, so Reiswitz in einer Postkarte an Fräulein Fresenius vom 09.09.24. Im Tagebucheintrag vom 07.09.beschrieb er detailliert die Pflanzenwelt, die er beim Aufstieg gewahrte. Auf dem Gipfel angekommen packte er dann die mitgebrachte „Vossische Zeitung“ aus: „Ich hatte irgendwie Sehnsucht nach Charlottenburg.“149

Am 12.09. stand ein Familienausflug auf der Tagesordnung. Zunächst fuhr man nach Tarčin, westlich von Sarajevo. Von dort aus begann der Aufstieg nach „Mečkina Luka“150, an dem alle fünf Bethusys nebst Kindermädchen teilnahmen. Man ritt auf Maultieren, erneut durch einen „Urwald“, und übernachtete in einer Berghütte bis Montag, den 15.09.

Drei Tage vorher hatte anscheinend ein Bär der Lokalität einen Besuch abgestattet. Der die Ausflügler beleitende Forstmeister hatte zunächst Schwierigkeiten, ein Pferd zu bekommen, doch schließlich gab ihnen ein reicher Bauer nicht nur ein Pferd, sondern auch noch seinen Sohn als Begleiter. Reiswitz war beeindruckt von der „Stille des Waldes“, dem Alter und der Größe der Bäume. Aber nicht nur die Natur hinterließ bei ihm einen prägenden Eindruck. Die serbischen Bauern, so schrieb er an Fresenius, arbeiteten noch „wie zu Noahs Zeit, od. wie die Wilden Afrikas. Kaum ein einziger kann lesen u. schreiben.“ Ihr Pflug sei aus Holz und „dreschen tun sie, indem sie ein Pferd um einen Holzpflock herum über das Getreide, das darum liegt jagen. Von Dünger weiß man noch gar nichts u. Zeit haben sie immer. Sie führen ein völlig biblisches Leben.“

Ferner notierte er Völkerkundliches: „Bosnien ist bewohnt von Slawen. Aber aus diesen Slawen sind 2 total verschiedene Rassen geworden, die zum Islam übergetreten sind, die sogenannten ‚Türken‘ sind ehrlich, freundlich, kultiviert, wohnen nur an Stellen mit schöner Aussicht, haben die Städte gebaut und bewohnen sie überwiegend, geben z.B. Sarajevo den charakteristischen Stempel, sind in jeder Beziehung angenehme Menschen. Sie sind durch ihre Religion zu einer völlig eigenen Rasse geworden. … Die, die ihrem alten Glauben treu blieben, das sind die ‚Serben‘. Im Zustand unserer Merovinger Zeit … übertüncht europäisch, rasch degenerierend; (weil die Kultur der Slawen ja erst erwacht …) die Eigenart dieser Slawen, welche europäische Kultur und Zivilisation übernehmen, ist so stark, daß sie z.B. die Mode völlig eigen umformen; sie werden aber von den anderen Slawen verachtet u. es bekommt ihnen auch nicht sich in jene anorganische Jacke gezwängt zu haben. Entweder degenerieren sie vollkommen od. die alte Haut bricht wieder durch. Ein ‚Serbe‘ wird nie mit einem ‚Türken‘ zusammen im selben Lokal sitzen“. Bosnische Serben und Muslime seien wie Hund und Katze.

Sofort nach seiner Rückkehr von dem Ausflug nach Tarčin nahm Reiswitz sein Studium der Landessprache wieder auf, las das 1916 erschienene Buch „Die Türkei: Bilder und Skizzen von Land und Volk“ des Offiziers in osmanischen Diensten Franz Carl Endres (1878–1954)151 und notierte am 18.09.24, dass er Leopold von Rankes im Jahre 1829 erschienene „Serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mittheilungen“ (1829) zum Teil gelesen habe.152 Einen Tag danach gibt das Tagebuch darüber Auskunft, dass er Michail Lermontovs (1814–1841) romantisches Gedicht „Der Dämon“ gelesen hat, dessen Handlung im Kaukasus angesiedelt ist. Am 14.10. wiederum las er über byzantinische Geschichte.

Am 21.09.153 machte Reiwitz dann eine Exkursion nach Taorina, wo es aus einem festlichen Anlass viele Trachten zu sehen gab. Dem „Knes-Dorfschulzen“ mussten alle Frauen des Ortes die Hand küssen. Die Männer trugen alle Pistolen „so groß wie Kanonen“ die sie dann alle „vor Freude in die Luft“ abfeuerten. Das ganze Spektakel wirkte wie ein „Kriegszug“ auf ihn.

Die vielen Eindrücke, die er in den ersten Wochen von Sarajevo und Umgebung gewonnen hatte, gaben ihm schon am 12.09.24 Anlass zu folgendem Vergleich: „Hier ist kein Analogon zu Italien, sondern hier beginnt der Orient. Er setzt mit dem Geruch von Hammelfett ein, zudem sich weiterhin Kameldung in Kleinasien gesellen soll. Ich glaube auch, dass Italien ganz andere Nächte hat, sicher voll von Schönheit, aber nicht so voll von Märchen und Zauber. Sarajevo ist eben eine erste Türkenstadt, während die Dörfer, durch ich gestern mit dem Rade fuhr, slawischer waren; Diese weißen Mauern, Stufen und Stiegen im Mondschein, diese Veranden mit Gittern u. monotoner leiser Musik; diese türkischen Friedhöfe mit weißen Grabsteinen; wirr, ungepflegt u. gespenstisch, wenn der Mond auf jene Wiesen der weißen wirren Steine scheint.“ Vier Tage später fügte er in ähnlich romantisierendem Ton hinzu: „Dieses Land lähmt nicht, aber es versetzt mich in eine bisher nicht gekannte Ruhe der Kontemplation u. erregt die Phantasie bis an ihre Grenzen.“

Am 12.10.24 schilderte er, dann bereits in Dubrovnik angekommen, in einem längeren Brief an seine Freundin in Hessen, zusammenfassend seine bisherigen Erlebnisse in Bosnien. Zunächst berichtete er über eine Radtour mit „Gen“ von Sarajevo in das mehr als hundert Kilometer entfernte Višegrad, welche Reiswitz als „anstrengend“ bezeichnete. Am 01.10. war er nach Jablanica gefahren, um sich dort mit dem Konsul zu treffen zwecks Besteigung des „wilden“ Prenj-Berges. Gänzlich „wild“ wird es wohl nicht gewesen sein, da in der Baedeker-Ausgabe „Dalmatien und die Adria“ aus dem Jahre 1929 bereits Bergtouren im Prenjgebirge beschrieben sind, mit Nennung von Hütten. Allerdings heißt es dort auch: „Bergstock und Bergschuhe angenehm, von Hause mitzubringen; Mundvorrat nötig.“154 Reiswitz jedenfalls war vollauf begeistert und schrieb, dass „diese Tour, im Herzen der Herzegovina, das Grandioseste meiner ganzen Bosnien-Reise war.“

Am 03.10. hatte er Sarajevo nach mehr als einmonatigem Aufenthalt verlassen und war zunächst nach Mostar, „eine Oase mitten im uneigentlichsten trostlosesten Karst“, weitergereist, wo er zwei Tage blieb. Besonders auffällig war für ihn der Kontrast zwischen der unwirtlichen Umgebung der Stadt und der blauen Neretva.

In seinem Brief vom 12.10. lobte er ausdrücklich die „Genialität, mit der die Österreicher Straßen und Eisenbahnen durch diese wilde Welt bauten“. Von seiner Weiterreise am 05.10. um 4 Uhr morgens aus von Mostar nach Dubrovnik mit dem Zug war er besonders begeistert, vor allem, als sich eine Stunde vor Ankunft der Blick auf die „unbeschreiblich blaue Adria“ eröffnete.155 Von Gravosa aus brachte ihn ein Wagen in die eigentliche Stadt, in das von ihm gebuchte Hotel Odak, über welches der Baedeker des Jahres 1929 notiert: „Am Meer, östlich von der Altstadt, 10 Minuten vom Uhrturm, mit Aussicht auf Lokrum. 85 Betten.“

Erst nach einer Woche Dubrovnik, am 12.10., erkannte Reiswitz, „was so schön“ war an diesem Ort: „Bisher hat der Kontrast von Märchen zu Wüste zu Schönheit mich so geblendet, dass … die Begriffe versagten.“

Er setzte den Brief nach einem langen Gedankenstrich fort: „Wo sitze ich? Am offenen Fenster meines Zimmers. Es liegt im zweiten Stock, mit dem Blick auf die Adria u. Lacroma [Lokrum], über denen sich der vollkommende Nachthimmel wölbt; hell vom Mond beschienen. Der Mond scheint so hell, daß ich bei seinem Lichte schreiben könnte.“ Er beschrieb die Terassen und Bänke des Hotels, direkt am Meer, die „üppige Vegetation an Palmen, Kakteen, u. immergrüne Gewächse; an Blumen, Aloe“.

Nach diesen romantischen Bemerkungen wurde er deutlich prosaischer und erwähnte, dass sein Zimmer lediglich 2 Mark und ein Mittagessen „wie im Bristol in Berlin“ nur 1,25 bis 1,75 Mark koste.

Er fügte hinzu, dass er hier „arbeiten kann, als ob alle Arbeit nur ein Bad sei“. Um welche „Arbeit“ es sich handelte, verriet er nicht. Wohl aber berichtete er, dass er bedingt durch die „guten Empfehlungen“, mit denen er nach Dubrovnik gekommen sei, „viele Menschen kennenlerne“.

In Reiswitz’ Briefen und Postkarten an Fräulein Fresenius über die ersten beiden Monate seines Bosnienaufenthaltes zeigt sich ein neugieriger, durchaus aufgeschlossener und genau beobachtender Reisender, dem besonders die Natur und die Menschen ins Auge fielen. Er erwähnte zwar kurz die Besuche im Landesmuseums von Sarajevo, doch schien dieses zunächst keinen größeren Eindruck auf ihn gemacht zu haben, obwohl der auf vier Gebäude verteilte und 1912 fertiggestellte Komplex im Baedeker mit einem Sternchen als „besonders beachtenswert“ versehen war und im linken Flügel des nördlichen Gebäudes eine vorgeschichtliche Sammlung beherbergte. In der hauseigenen Fachzeitschrift erschien zum Zeitpunkt von Reiswitz’ Aufenthalt in Sarajevo der Artikel eines gewissen Georg Wilke mit dem Titel „Über die Bedeutung einiger Symbole an den Bogumilendenkmälern“. Dieses Thema sollte für Reiswitz kurze Zeit später eine besondere Bedeutung erlangen. Wilke nennt als eines der bogumilischen Symbole das Hakenkreuz und deutet es als als indogermanische Repräsentation des Mondes.156

Von den Naturschönheiten beeindruckten Reiswitz besonders die Karstlandschaften und Berge. Doch auch die Stadt Sarajevo hinterließ einen positiven Eindruck. Ganz anders empfand dies ein knappes Jahr später der Journalist Max Fischer (1893–1954), welcher ein guter Bekannter von Reiswitz war. In einem zweiteiligen Bericht über eine Reise nach Dalmatien und Italien urteilte Fischer, der bereits 1913 der Stadt einen Besuch abstattete: „Die einst so gepflegten Straßen sind verwahrlost, die Zahl der Bevölkerung ist zurückgegangen; die Verwahrlosung fast aller Gebäude übertrifft selbst die Berliner Zustände der Inflationszeit; die Verelendung aller Schichten ist offenkundig. … In keinem Ort Jugoslawiens, den ich auf meiner Reise berührte, äußerte sich bei den verschiedenen Schichten der Bevölkerung die Unzufriedenheit so einmütig und unverblümt wie hier in Sarajevo.“157

 

Wie anders hatte Reiswitz die Stadt wahrgenommen! Allerdings fehlte ihm jegliche Reiseerfahrung, da er bis 1924 außerhalb der deutschen Grenzen lediglich das Land seiner Geburt, die Schweiz, und die Tschechoslowakei bereist hatte. Während die Lektüre der Briefe Reiswitz’ an Fräulein Fresenius den Eindruck erweckt, als herrschte in Sarajevo ein morgenländisches, pastorales Idyll mit scheuen Musliminnen und flötenspielenden Hirten, so ergibt sich in dem 1922 erschienenen Band „Von Belgrad bis Buccari“ des Journalisten und Jugoslawienkenners Hermann Wendel ein anderes Bild. Er schrieb wie folgt über Sarajevo: „Aber die westliche Zivilisation ist fressende Säure; vor ihr löst sich alles Romantische, Mittelalterliche und Orientalische in Nichts auf. Heute geht man durch wohlgepflasterte Straßen mit hohen Häusern und geleckten Ladenscheiben und am Kai der Miljacka mit wuchtigen Amtsgebäuden entlang wie in Agram oder Laibach, wie durch Wien oder Budapest. Nur die verhüllten Frauen wandeln als Gespenster einer versinkenden Zeit über den europäerhaften Hintergrund dieser Stadt“.158 Der Sozialdemokrat Wendel, so sein Biograph, „begrüßte die Gründung des südslawischen Staates“ und „sprach sich für eine enge wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit“159 mit Deutschland aus und erhielt 1928 die Ehrendoktorwürde der Universität Belgrad – im gleichen Jahr, in dem er zusammen mit Reiswitz, den er im Laufe des Jahres 1927 persönlich kennenlernte, in Bosnien unterwegs war. Seine „Belgrad bis Buccari“ Schrift wurde sogar im westlichen Ausland, von einem der herausragendsten Südosteuropakenner, gelobt. Robert William Seton Watson (1879–1951), der 1922 den Lehrstuhl für „Slavonic Studies“ an der Londoner School of Slavonic and Eastern European Studies besetzte, bescheinigte Wendel im Juni desselben Jahres „intimate first hand knowledge of Jugoslav history, politics and literature“.160

Ganz in den Bereich des Sentimental-Romantischen und Klischeehaften zu verbannen sind Reiswitz’ Beobachtungen aber wohl nicht, obwohl ihm die sozialen und wirtschaftlichen Zustände in Sarajevo nicht sofort ins Auge sprangen, zumindest nicht in seinen Briefen an Fräulein Fresenius. Auch Wendel kommentierte anerkennend, wie Reiswitz, das gut ausgebaute Straßen- und Eisenbahnnetz: „So auf der Eisenbahn gemächlich durchs Land schaukelnd, auf glatten Straßen ohne Furcht vor Hals- und Beinbruch im Wagen rollend, … beginnt man etwas wie aufkeimendes Wohlwollen für die Oesterreicher zu empfinden. Sie haben Bahnen gebaut, sie haben Straßen gebaut – alles was recht ist!“161 In der folgenden Passagen tauchen die von Reiswitz beobachteten verschwiegenen Höfe der festungsähnlichen Häuser auf: „Auch kommt man in den Vorstädten an verschlossenen, abweisenden Landhäusern mit geschützten Veranden und verborgenen Gärten vorbei“.162

Wie informierte sich Reiswitz vor Antritt seiner ersten Balkanreise über Südslawien? Konkrete Quellen dazu liegen nicht vor, zumindest nicht aus der Zeit vor Reisebeginn. Folgenreich war aber sein erster direkter Kontakt mit Hermann Wendel im Februar 1927, etwas mehr als zwei Jahre nach Abschluss seiner ersten Fahrt. In einem Brief vom 04.02.27 schrieb Reiswitz: „Herr Horovic, Vertreter der südslawischen Studenten an der Universität Wien, macht mir Mut, endlich einmal an Sie zu schreiben. Wohl alle Ihre Bücher über Südslawien u. die Südslawen habe ich gelesen und verdanke Ihnen unerhört viel. Und so war es schon lange mein Wunsch, mit Ihnen Fühlung zu nehmen; zumal, da ich unter meinen Landsleuten keinen kenne, der wirkliches Wissen von den Südslawen … besäße.“

Bis zum Beginn von Reiswitz’ Jugoslawienreise im August 1924 hatte Wendel, geboren 1884 in Metz, bereits mehrere Ganzschriften über Serbien und Jugoslawien verfasst und den Balkan mehrfach bereist. So schrieb er im Geleitwort seines Buches „Südosteuropäische Fragen“ im September 1918: „Nicht unerwähnt bleibe, daß ich Land und Leute auf dem Balkan nicht nur vom Schreibtisch her kenne. 1909, 1910, 1911, 1912 tat ich mich in Serbien, Bulgarien, Montenegro und der europäischen Türkei um …“163 Während der Balkankriege hatte er als Korrespondent direkt aus Belgrad berichtet.164 Sein zweites Jugoslawienbuch erschien 1920 („Aus und über Südslawien“), ein Jahr später dann „Aus dem südslawischen Risorgimento“ und „Von Marburg bis Monastir“, gefolgt von „Von Belgrad bis Buccari“ im Jahre 1922. Ein Jahr später brachte er die beiden letztgenannten Bücher in einem Sammelband unter dem Titel „Kreuz und quer durch den südslawischen Süden“ heraus. Im Jahre 1924 hätte Reiswitz vor Reiseantritt vielleicht sogar noch die im selben Jahr veröffentlichten Bücher „Südslawische Silhouetten“ und „Die Habsburger und die Südslawenfrage“ studieren können.

Wendel selbst wiederum war, so der 2007 verstorbene serbische Literaturwissenschaftler Zoran Konstantinović165, stark beeinflusst durch den Philologen und Historiker Heinrich Gelzer (1847–1906), welcher im Jahre 1900 eine südslawische Einigung anregte: „Es wirkt unwiderstehlich komisch, wenn man sieht, wie die slawischen Gelehrten sich aufs hitzigste darüber herumstreiten, ob gewisse Kantone Ostmacedoniens serbisch oder bulgarisch seien. Die Bevölkerung selbst weiss es nicht. Man sieht, wie gewaltig diese völkerabsperrenden Schranken sind. Diese nationale Verbitterung, welche die einzelnen Balkanstaaten zerklüftet, ist ein Beweis für die politische Inferiorität der heutigen, in den Einzelstaaten herrschenden Generation. Vielleicht wird aber das neue Jahrhundert ein neues Geschlecht und neue Männer ans Ruder bringen, welche sich nicht in erster Linie als Serben, Bulgaren, Griechen, Rumänen u. s. f. fühlen, sondern welche in der Weise der Vorzeit das alte Banner des orthodoxen Glaubens wieder aufrichten. Wenn es möglich wäre, in diesem so siegreichen Zeichen wieder eine Solidarität der christlichen Balkanvölker zustande zu bringen, so wäre das ein Element von welthistorischer Kraft und würde eine glänzende Zukunft für diese so reichbegabten Völker verbürgen. Wenn sich aber die einzelnen Nationen und Natiönchen immer mehr in den unerquicklichen und geradezu selbstmörderischen Bruderfehden festbeissen, dann ist ihr Schicksal besiegelt“.166 Gelzer berücksichtigte in seinem obigen Ruf nach südslawischer Einigung allerdings nur die christlichen Ethnien, die Muslime in Bosnien zum Beispiel ließ er unberücksichtigt.

Wendel war sehr daran gelegen, dass es zu einem Umdenken in der deutschen politischen Öffentlichkeit kam. Bereits vor Ende der Kampfhandlungen 1918 mahnte er, dass „die saubere und glatte Teilung der Balkanvölker in solche, auf die wir ein Maschinengewehr richten müssen, und solche, mit denen wir einen Zwetschgenschnaps drinken dürfen, in gefährlicher Weise zum ungeschichtlichen Denken verführt“.167 Seiner Ansicht nach waren die „Benennungen wie Serben, Bulgaren, Kroaten, Slowenen in der scharfen Ausprägung von heute erst Bildungen des neunzehnten Jahrhunderts.“ Eine Stadt wie Ohrid werde, so Wendel, noch im 17. Jahrhundert mal Serbien, mal Bulgarien und mal Makedonien zugeordnet.168 Die südslawische Einigung war für Wendel ein Prozess, der letztlich unaufhaltsam sei, und der von Deutschland unterstützt werden solle, da auch Deutschland auf dem Weg zur Reichsgründung 1871 eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habe: „Solche Bewegung lässt sich hemmen, aber nicht ersticken, und wie die deutsche Nation die ihr von der Geschichte gestellte Aufgabe trotz der Selbstsucht der eigenen Dynastien und trotz der Eifersucht der fremden Mächte bewältigte, dringen Südslawen und Balkanvölker zu ihrem Ziele durch.“169

An dem Einschub über die „Selbstsucht der eigenen Dynastien“ ist indirekt bereits ein weiteres Merkmal von Wendels Südslawophilie erkennbar, nämlich seine Bewunderung für die demokratische Veranlagung der Südslawen, besonders diejenige der Serben: „Für Wendel war es Serbien, wo man die höchsten Anstrengungen für eine demokratische Gestaltung des Lebens unternahm, wo eine zutiefst entwickelte bürgerliche Courage zum Ausdruck kam und man Zeuge eines praktischen Positivismus werden konnte: in jedem Dorf befand sich eine Schule, in jeder Bauernhand eine Zeitung und in jedem Kopf eine ausgeprägte und klare politische Meinung.“170

Damit hob sich Wendel ab von den übrigen Journalisten, Philologen und Schriftstellern im deutschen Sprachraum der frühen 1920er Jahre, die sich mit Jugoslawien befassten, da in deren Texten – so sie überhaupt Serbien und den Serben positiv zugeneigt waren – oft der Serbe als tapferer Soldat im Vordergrund stand, dessen militärisches Heldentum im Ersten Weltkrieg angesichts der erfolgreichen Landesverteidigung gegen die österreich-ungarische Übermacht in der Anfangsphase der Kampfhandlungen 1914, angesichts der Rückeroberung Belgrads nach der kurzzeitigen Einnahme durch die k.u.k. Truppen, angesichts des opferreichen Marsches der serbischen Streitkräfte über Albanien nach Korfu außer Zweifel stand.

Diese Haltung vertrat auch klar der Publizist Friedrich-Wilhelm von Oertzen (1898–1944), der langjährige Freund und Untermieter von Reiswitz in der Carmerstraße 10 in Berlin-Charlottenburg, in seinem Beitrag „Der große Krieg und der südslawische Soldat“ für den von Franz Thierfelder (1896–1963) in Verbindung mit dem Südost-Ausschuss der zwölf Jahre zuvor gegründeten „Deutschen Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums“,171 kurz „Deutsche Akademie“, 1935 herausgegebenen Sammelband „Das Königreich Südslawien“.172 Sein Beitrag schließt mit den Worten: „Der deutsche Soldat hat in seinem serbischen Kriegsgegner einen Kameraden auf der andern Seite kennengelernt, gegen den zu fechten nicht leicht, und gegen den zu siegen deshalb besonders ehrenvoll war, weil ihm hier ein Gegner gegenüberstand, der ganz Hervorragendes auf militärischem Gebiet leistete.“173

Dieser Meinung schloss sich der Slawist Gerhard Gesemann (1888–1948) an, der ebenfalls im Thierfelder’schen Sammelband vertreten war, dessen selbsterklärtes Ziel es war, eine „Quelle sachlicher Unterrichtung über den südslawischen Staat der Gegenwart“ zu sein.174 Gesemann vertrat diese Meinung auch in seinem im selben Jahr erschienenen, dem serbischen Geographen Jovan Cvijić (1865–1927) gewidmeten Kriegstagebuch „Die Flucht“.175 Der in erster Ehe mit einer Serbin176 vermählte Gesemann war zur Zeit der ersten Balkanreise Reiswitz’ gerade ordentlicher Professor an der Deutschen Universität in Prag geworden. Gesemann gilt für die Zeit zwischen den Weltkriegen als der „beste Kenner der serbischen Volksepik, Sprache und Literatur und der bedeutendste Übersetzer serbischen Schrifttums ins Deutsche.“177 Der Serbe war für Gesemann der Idealtyp des tragischen, heroisch-patriarchalischen Menschen. Im Jahre 1928 unterschied er, auf den Balkan bezogen, in einer „Volkscharaktertypologie“ zwischen der balkano-byzantinischen, der italo-romanischen, der mitteleuropäischen, der mohammedanisch-türkischen und der patriarchalischen Zone. Die letztere umschließe Montenegro und Serbien südlich von Save und Donau. Grundlage der patriarchalischen Ordnung sei die Hausgemeinschaft, die Zadruga. Für Gesemann bestand eine „ausschlaggebende Bedeutung der patriarchalischen Volksmassen für die leibliche und geistige Struktur des serbokroatischen Gesamtvolkes“.178

Gesemann hat seine Studie ausdrücklich ausgerichtet an Jovan Cvijić179, der seit 1893 an der Hochschule und späteren Universität Belgrad lehrte. Cvijić sah den Balkan auf geodeterministischer Grundlage als ein humangeographisch zusammenhängendes Gebilde.180 Gesemann zitierte Cvijić ausführlich in seiner „Volkscharaktertypologie“. Bezogen auf die zivilisatorische Überlegenheit des patriarchalischen, also serbischmontenegrinischen, bzw. „dinarischen“ Typs heißt es: „Das sind die fruchtbarsten und expansivsten Stämme, aus denen fast ununterbrochen die Ströme der Siedlungen fließen und die benachbarten Landschaften überschwemmen. Alle sind zur Hauptsache Viehzüchter, Menschen voll Kraft und Stärke, meistens sehr hochgewachsen …: der schönste Schlag auf der Balkanhalbinsel. … Es gibt unter ihnen kaum degenerierte Typen. Noch mehr … verdienen sie Sympathie durch ihre feste, gebirglerische Moral, durch ihre ritterlichen, oft vornehmen Eigenschaften, durch ihr tiefes Empfinden für die Gemeinschaft und durch ihre Aufopferung, die vor den höchsten Opfern nicht zurückschreckt.“181 Gesemann formulierte hier eng angelehnt an Cvijićs 1918 im Pariser Exil erschienene Schrift „La péninsule balkanique. Géographie humaine“.

 

Wann genau Reiswitz die Péninsule gelesen hat, ist nicht eindeutig, aber nach seiner ersten Balkanreise, am 16. Oktober 1926, erhielt er von Cvijić die schriftliche Erlaubnis, sein Werk ins Deutsche zu übertragen und zu veröffentlichen.182 Daraufhin wandte sich Reiswitz am 20.11.26 an den Oldenbourg-Verlag, sogar an dessen Leiter persönlich: „Sehr geehrter Herr Oldenbourg! Seit 1918 liegt ein Werk des damaligen Rektors der Belgrader Universität, Prof. Jovan Cvijić, vor. … Dieses Buch enthält nach meinem Urteil die tiefgründigste und aufschlussreichste Zusammenfassung und Erklärung der historischen sowei der akuten Balkanprobleme und verdient darum unbedingt übersetzt zu werden. Ich möchte nun an erster Stelle Ihnen den Verlag … anbieten.“ In seiner Wortwahl folgte Reiswitz nahezu wörtlich den Formulierungsvorschlägen, die ihm sein Freund, der Orientalist Hans Heinrich Schaeder (1896–1957) geliefert hatte.183 Nach einer Vorstellung der Person und akademischen Karriere von Cvijić erläuterte Reiswitz dann den Sinngehalt des Werkes: „Das Buch … behandelt zunächst die so verwickelte Geographie der Balkanhalbinsel; entwirrt dann auf dieser im weitesten Sinne geographischen Grundlage das ethnographische Durcheinander der Balkanhalbinsel und gipfelt dann endlich in einer umfassenden sociologischen und psychologischen Charakterologie der vielen, verwirrend vielen Stämme, die auf der Balkanhalbsinsel neben-, durch- und übereinander leben. Das ganze Werk ist von einer bewunderungswürdigen Objektivität, selbst an den für einen Serben empfindlichsten Punkten, geleitet; und es wird gerade hierdurch zum Standartwerk [sic] jeder historischen Forschung im südöstlichen Europa. – Dass die ‚Péninsule Balkanique‘ noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, ist nur dem Unglücksjahr 1918 zuzuschreiben. Die südslawische Geschichte, – vor allem in ihrer Vermittlerrolle zwischen byzantinischer Zivilisation und westeuropäischer Kultur im Mittelalter; und in ihren sociologischen Rückbildungen der langen Türkenzeit; – dann aber auch in ihren gegenwärtigen Problemen; tritt immer stärker in den Brennpunkt des historischen und auch politischen Interesses. Die eigentliche südslawische Geschichtsschreibung beginnt erst. Und da wird die ‚Péninsule Balkanique‘, die in ihrer Tiefe und Breite eine Fülle von Aufklärungen und Anregungen vermittelt, weit über die zünftige [sic] Wissenschaft hinaus einem lebhaften Interesse begegnen.“

Reiswitz verband hier also klar zwei Aspekte, die Oldenbourg überzeugen sollten. Einerseits biete die Péninsule dem deutschen Leser die Möglichkeit, die Geschichte Südosteuropas besser im wissenschaftlichen Sinne zu verstehen. Andererseits gelte es aber auch für Deutschland, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs politisch Verpasstes aufzuholen, um sich wieder intensiver Südosteuropa zuzuwenden. Zudem sah er den Balkan als Brücke zwischen Ost und West an, als Transmissionsriemen zwischen Rom und Bzyanz, dessen Rolle es zu verstehen und zu würdigen gelte.

Reiswitz’ dem Verleger Oldenbourg gegenüber anvertraute Überlegungen waren durchaus auf der Höhe der Zeit. So wies der deutsche Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929) am 22.03.26 im Reichstag auf Folgendes hin: „Die zum Teil von anderen Seiten [Österreich] genährte ganz falsche Vorstellung von den Balkanstaaten, die Deutschland in der Vorkriegszeit immer zum Ausdruck brachte, hat viel dazu beigetragen, dass Nationen, die sich ihrerseits heldenmütig geschlagen haben, in diesem Weltkampf auf der anderen Seite gestanden haben.“184 Der jugoslawische Außenminister Momčilo Ninčić (1876–1949) brachte gegenüber dem deutschen Gesandten in Belgrad, Franz Olshausen (1872–1962), daraufhin seine Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass Serbien und der Balkan nun endlich in Deutschland mit anderen Augen wahrgenommen würden als vor dem Weltkrieg.185

Reiswitz wies Oldenbourg auch darauf hin, dass Cvijić sein Autorenrecht an der Übersetzung bereits abgetreten habe, doch teile er das „Copyright“ der französischen Ausgabe mit dem Verlag Armand Colin, mit welchem Oldenbourg dann verhandeln müsse. Schließlich stellte Reiswitz noch seinen Arbeitsplan vor, wonach er beabsichtigte, den ersten Teil bis zum 1. Januar 1927 zu übersetzen. Das Gesamtvorhaben könne bis zum 01.07., vielleicht sogar bis zum 01.05.27 abgeschlossen sein. Bescheiden merkte er an, dass er die Bestimmung seines Honorars dem Verlag überlasse. Eine Antwort Oldenbourgs ist im Nachlass nicht überliefert, allerdings geht aus dem Entwurf bzw. der Kopie eines unvollständig überlieferten, undatierten Briefes, den Reiswitz vom Kontext her zu urteilen zu einem Zeitpunkt um Mitte September 1927 herum an den jugoslawischen Gesandten in Berlin richtete, hervor, dass „die Copyright-Verhandlungen zwischen dem französischen Verleger Armand Colin und R. Oldenbourg zu einer Einigung geführt haben.“

Am 16.01.27 verstarb Cvijić in Belgrad, was Reiswitz’ Bemühungen allerdings keinen Abbruch tat. Zum Zeitpunkt seiner ersten Kontaktaufnahme mit Wendel im Februar 1927 hatte Reiswitz bereits tatsächlich, nach eigenen Angaben, die „Roh-Übersetzung“ des ersten Teil des Buches beendet und versuchte nun, Wendel davon zu überzeugen, ihm bei der Suche nach einem Verleger zu helfen: „Wie Ihnen Herr [Aleksandar] Horovic186 nach Ihrem Vortrage im Herrenhause wohl schon sagte, habe ich im November 1926 mit Cvijićs Erlaubnis u. wärmsten Interesse die Übersetzung seiner „Péninsule Balkanique“ begonnen, da ich dieses Werk für ein – wenn nicht für das Standardwerk halte. Heute abend bin ich nun mit der Roh-Übersetzung des ersten Teiles, den ich in diesem Jahre verlegen lassen möchte, fertig geworden. Was wir an Cvijić verloren haben, brauche ich hier nicht zu sagen. Die deutsche Ausgabe von Cvijićs Werk hat durch seinen Tod ihren Schutzpatron verloren, u. die Bitte meines Briefes soll sein, daß Sie hier an Cvijić’s Stelle treten möchten.“

In seiner Antwort auf Reiswitz’ Anfrage vom 14.02.27 drückte Wendel seine Freude darüber aus, dass Cvijić „den Deutschen zugänglich gemacht werden soll“ und bot „Rat und Tat“ an. Bevor er eine Antwort von Wendel erhielt, wurde Reiswitz selbst tätig und sandte am 26.02.27 einen Brief an den französischen Verleger, Armand Colin: „J’ai l’intention de traduire en allemand ‚La Péninsule balkanique‘“. Einen knappen Monat später, am 19.03.27, schlug Wendel dann vor, dass sich Reiswitz an den Verleger der ergänzten serbokroatischen Ausgabe der Péninsule187 wenden solle, um sich die Übersetzungsrechte zu sichern. Am 06.06.27 erkundigte sich Wendel bei Reiswitz nach dem Stand der Dinge in Sachen Übersetzungsrechte und unterstrich die Wichtigkeit von Reiswitz’ Vorhaben: „Was moderne Studien über Slavica [sic] angeht haben uns die Franzosen, die früher mühsam hinterherkeuchten, längst überholt, weil sie den Wert der Sache begriffen haben. Wir sind dichter dran und begreifen nichts.“

Nach dem Tode Cvijićs bemühte sich Reiswitz, neben Wendel auch den Cvijić-Schüler und Nachfolger als Ordinarius für Geographie an der Universität Belgrad, Borivoje Milojević (1885–1967), für sein Vorhaben einzuspannen. Bereits im Februar 1927 hatte er sich deswegen brieflich an den „Leiter des Instituts für Geographie und Geologie an der Universität Belgrad“ gewendet, wobei er seinen Zeilen als Rückendeckung sogar noch „ein beglaubigtes u. begründendes Schreiben des mir seit Jahren bekannten Vertreters der serbischen Studentenschaft an der Universität Berlin, Herrn Aleksandar Horovic“, beigab. Doch war darauf wohl keine Reaktion erfolgt, denn Reiswitz bat Milojević am 13.08.27, unter Hinweis auf sein Vorhaben, mit der Péninsule Übersetzung „in Deutschland weiteren Kreisen als es bisher möglich gewesen ist, das Verständnis für die südslawische Frage zu erleichtern und damit zugleich das Interesse an Südslawien zu steigern“, dass er ihm mitteilen möge, „wer der wissenschaftliche Nachfolger des Herrn Cvijić geworden ist und wer seinen wissenschaftlichen Nachlass188 verwaltet“. Milojević reagierte im für Reiswitz positiven Sinne bereits am 12.09.27 und bot, wie Wendel, „Rat und Tat“ an.