Loe raamatut: «In deiner Nähe geht es mir gut»
Angelika Walser
IN DEINER
NÄHE GEHT
ES MIR GUT
Warum Freundschaften lebensnotwendig sind
Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung von: Rose Ausländer, Gemeinsam I. Aus: dies., Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2001
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
2017
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung, Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3585-7 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3609-9 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Gemeinsam
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
ROSE AUSLÄNDER
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Warum Freundschaft wichtig ist
Was die Glücksforschung dazu sagt
Warme Insel in einer kalten Welt
Soziologische Aspekte von Freundschaft
Wer ist mein/e Freund/in?
Was Freundschaft ausmacht
Die Merkmale von Freundschaft – kleiner Streifzug durch die antike Philosophie
Wie Freundschaften gelingen: Anforderungen
Von „Sonnenblumen-Augenblicken“ und der Kunst, Freundschaften zu pflegen
Der „Sonnenblumen-Augenblick“ oder Wenn jemand mein Herz berührt
Von der Kunst, Freundschaften zu pflegen
Von Freundschaft und Liebe zwischen Männern und Frauen
Freundschaft – Liebe – Ehe: Einige Bemerkungen zur Problematik der Abgrenzung
Freundschaft – ein heikles Thema zwischen den Geschlechtern
Frauenfreundschaften
Männerfreundschaften
„Harry und Sally“ oder Gewagte Beziehung
Verwendete Literatur
Vorwort
Vor einiger Zeit wartete ich in Wien auf die U-Bahn und las auf einem der angebrachten Bildschirme von der ältesten Wienerin, die ihren 106. Geburtstag feierte. Schön war sie, zurechtgemacht für den Wiener Bürgermeister, der ihr Blumen überreichte und zum Geburtstag gratulierte. Auch geistig war sie laut der U-Bahn-Meldung noch überaus fit. Jedoch auf die Frage, was sie mit ihren 106 Jahren am meisten vermisste, war ihre Antwort: „Ich vermisse so sehr meine Freundinnen. Sie sind alle längst tot!“
Angesichts dieser Worte fiel mir Frau B. ein: Frau B. war über 80 Jahre alt und eifrige Hörerin der Theologischen Kurse, einer bekannten Erwachsenenbildungseinrichtung der Erzdiözese Wien, bei der ich seit vielen Jahren als Referentin tätig bin. Sie fiel mir auf, weil sie praktisch zu jedem meiner Vorträge erschien und immer die Frage stellte, von der ich daheim bei der Vorbereitung immer gehofft hatte, dass sie mir niemand stellen würde. Es waren Fragen, auf die es eigentlich keine Antwort geben konnte, weil sie so schwierig waren: Fragen nach dem Sinn des Lebens, Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu unserer Existenz. Irgendwann nach einem Vortrag kamen wir ins Gespräch. Ich erfuhr, dass sie Jus studiert und dass ihr verstorbener Mann dem ungarischen Hochadel angehört hatte. Dass ihre Familie keinerlei Interesse für ihre Fragen aufbrachte, weil sie – wie sie missbilligend mit einer wegwerfenden Bewegung ihrer zarten alten Damenhände ausdrückte – „allein mit Geldverdienen beschäftigt war“.
Wir wurden Freundinnen. Sie schüttelte den Kopf, wenn ich meine Ideen allzu enthusiastisch vortrug, und warf mir regelmäßig „abgehobene Realitätsverweigerung“ vor. Gleichzeitig wartete sie sehnsüchtig auf meine Besuche, weil ich – wie sie sagte – der einzige Mensch in ihrem Leben sei, mit dem sie noch ernsthaft ein gutes Gespräch führen konnte. „Alle meine Freundinnen sind krank oder dement oder liegen auf dem Friedhof. Frau Doktor, Sie sind die Einzige, mit der ich mich ganz normal unterhalten kann. Kommen’s doch einmal wieder vorbei!“ Wenn ich dann vorbeikam, warteten dicke Torten und Sekt auf mich. Sie selbst aß und trank kaum mehr etwas – „wegen der schlanken Linie“, wie sie sagte. Tatsächlich hatte sie sich gut gehalten und legte auch noch mit knapp 90 Jahren stets höchsten Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Perfekt frisiert, aufrecht und immer Haltung wahrend, entsprach sie meinen zugegebenermaßen klischeehaften Vorstellungen einer Deutschen über die Wiener Dame der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. In meiner Phantasie hätte sie dort vermutlich jederzeit Gastgeberin in einem gepflegten Salon sein können.
Als ich ihr von den Adoptionsplänen erzählte, die mein Mann und ich angesichts unserer kinderlosen Ehe hegten, war sie wahrhaft schockiert: „Frau Doktor, Sie werden doch nicht so ein Bankert von irgendwo aufnehmen, um Himmels willen!“ Was sie nicht daran hinderte, entzückt in den Kinderwagen zu schauen, als wir ein kleines Mädchen adoptiert hatten. Ich besuchte sie und erlebte die Zärtlichkeit und das Wohlwollen einer alten Dame, die – bezaubert von meinem Mädchen – auf allen vieren mit der Kleinen durch die Wohnung robbte und sich gleichzeitig mit mir über die theologischen Neuerscheinungen des vergangenen Monats austauschte.
Eines Tages rief ich sie vergeblich an. Und dann immer wieder. Viele Wochen lang. Bis eines Tages eine fremde Frau am Apparat war und mir barsch mitteilte, dass Frau B. schon längst verstorben sei. Sie habe dringend auf meinen Besuch im Spital gewartet, aber ich hätte mich ja nie gemeldet. Ich war traurig und aufgebracht, verwies auf meine absolute Ahnungslosigkeit und darauf, dass ich unzählige Male vergeblich angerufen hätte. Wieso hatte man mich nicht informiert? Natürlich wäre ich ins Spital gekommen und hätte Frau B. noch einmal besucht. Mit der Zeit kam doch ein halbwegs vernünftiges Gespräch zustande und die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung entpuppte sich als die Stimme ihrer Tochter. „Wissen Sie, meine Mutter hat sehr oft von Ihnen gesprochen. Sie war ja im Umgang nicht ganz einfach!“ Als ich ihr von unseren Torten-Sekt-Orgien erzählte, vom Herumtollen am Fußboden und von den vielen Stunden, die wir diskutiert hatten, konnte sie es nicht fassen. „Meine Mutter war oft depressiv, in sehr düsterer Stimmung, sehr anspruchsvoll. Die Person, von der Sie mir da erzählen, war nicht meine Mutter!“, sagte sie.
Mich beschlich das seltsame Gefühl, dass Frau B.’s Familie möglicherweise nicht allzu begeistert von unserer Freundschaft gewesen wäre. Eine fast 90-jährige Dame der feinen Wiener Gesellschaft hatte mir „Zug’reisten“ Einblick in ihre teilweise vergangene Welt gewährt und ich ihr im Gegenzug meine „jugendliche Frische und die Theologie“, wie sie das vermutlich ausgedrückt hätte. Als ich nach einiger Zeit ihr Grab besuchte, war ich empört: Überall wucherte bereits der Efeu, das Grab war offensichtlich ungepflegt und nicht eine einzige Blume lag dort. Ich entfernte einige Ranken, stellte meinen kleinen Blumengruß ab und bin nie wieder hingegangen. Aber ich habe Frau B. nicht vergessen. Sie war eine außergewöhnliche Frau und ungewöhnliche Freundin. Sie war einer der Menschen, die mir im Laufe meines Lebens beigebracht haben, dass Freundschaft absolut überall möglich ist, ungeachtet des Altersabstands, des Geschlechts, der Schicht und der Bildung. Gegenseitiges Wohlwollen, Interesse füreinander und Neugier aufeinander kennt keinerlei Grenzen.
Frau B. war einer der vielen Menschen, die mich in meinem Leben begleitet haben oder begleiten. Sie alle haben in irgendeiner Form an diesem Buch „mitgeschrieben“. Durch ihr Mitdenken, durch ihre Ideen und manchmal einfach durch ihre bloße Anwesenheit in meinem Leben. Mit ihnen teile ich die wesentlichen Erfahrungen, welche die menschliche Existenz zu bieten hat: Liebe und Leidenschaft, Geburt und Tod, Trauer und Verlust, Zusammenbruch und Neubeginn.
Nur sehr wenige Menschen, denen ich in „freundschaftlicher Beziehung“ verbunden bin, sind mit mir verwandt und einer meiner engsten Freunde ist sogar mit mir verheiratet. Die meisten meiner Freundinnen und Freunde sind mir in meinem Leben einfach „begegnet“, sozusagen „passiert“. Einer von ihnen hat in besonderem Maße zu diesem Buch beigetragen und sollte daher namentlich auch genannt werden: Bernhard Tinkl, der mir den Anstoß für dieses kleine Buch geliefert hat und mit dem ich oft und intensiv über Freundschaft diskutiert habe bzw. immer noch diskutiere. Erwähnen möchte ich ferner meine Sekretärin Astrid Künstner sowie meine Studienassistenten/innen Lukas Zaminer, Rebecca Pillichshammer und Raimund Niklas, die unermüdlich Literatur recherchiert, kopiert und dieses Buch lektoriert haben.
Einige weitere Menschen könnte ich hier erwähnen, mit denen ich seit vielen Jahren eng verbunden bin und deren Türen mir immer offen gestanden sind. Ich kann sie namentlich nicht alle aufzählen und ich möchte niemanden weglassen, denn sie alle waren und sind wichtig. In gewissem Sinn sind sie mein Schutz, mein Schild und mein doppelter Boden. Sie bringen mich oft zum Lachen, wenn ich traurig bin, und nehmen mich so, wie ich bin. Als religiöser Mensch und als Theologin scheue ich mich nicht zu sagen, dass für mich in all diesen Freundschaften „Power in relationship“ spürbar ist. „Power in relationship“ ist die berühmte Definition der feministischen Theologin Carter Heyward für Gott. Die Erfahrung einer Freundschaft ist offen für die ganz persönliche Deutung als Gotteserfahrung. Aus Freundschaften kann man Energie beziehen und Kraft, das Leben anzupacken. Zumindest für mich ist in Freundschaften Gott in einer ganz besonderen Weise erfahrbar. So wie Frau B. hat mir jeder und jede von meinen Freunden und Freundinnen auf seine/ihre Art und Weise beigebracht, dass Freundschaft eines der wichtigsten und größten Dinge im Leben ist. Ihnen allen sei zum Dank für ihre oft jahrzehntelange Begleitung und Geduld mit mir dieses Buch gewidmet.
Ich schreibe es nicht nur als Freundin, die ihren ganz persönlichen Freundschaften viele wichtige Erfahrungen und Einsichten verdankt und die sich deshalb auch erlaubt, die eine oder andere abstrakte Theorie mit einer Geschichte aus ihrem Leben zu verbinden. Ich schreibe es auch als Angehörige der Zunft der theologischen Ethik. Theologische Ethiker und Ethikerinnen denken darüber nach, wie gutes Leben für alle glücken kann. Freundschaft gehört unbedingt zum guten Leben und zum Glück. Sie ist in der theologischen Ethik jedoch meiner Ansicht nach zu wenig thematisiert worden. Das mag erstens daran liegen, dass Freundschaft – Gott sei Dank (!) – für viele Menschen ein so selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebensglücks ist, dass sie gar nicht darüber nachdenken. Zweitens könnte es auch daran liegen, dass Freundschaft moralisch möglicherweise zunächst weniger anspruchsvoll erscheint als die christliche Idealvorstellung von der Agape/Caritas, der Nächstenliebe, die idealerweise bedingungslos ist und ausschließlich um des anderen willen zu erfolgen hat bzw. mit ihrem universalen Anspruch und um der Unparteilichkeit willen auch die Spitzenforderung der Feindesliebe umfasst.
Der Gedanke der Freundschaft dagegen ist viel stärker mit dem Partikularen verbunden. Befreundet ist man/frau eben nicht mit allen Menschen und muss es auch gar nicht sein. Freundschaft verbindet sich anders als die Agape/Caritas auch mit dem gegenseitigen Nutzen. Freunde und Freundinnen profitieren voneinander. Daher erscheint Freundschaft auf den ersten Blick als moralisch weniger anspruchsvoll. Die Abgrenzung zwischen karitativer und/oder erotischer Liebe auf der einen und Freundschaft auf der anderen Seite ist allerdings letztlich gar nicht so einfach und wird uns noch beschäftigen.
Das Dokument „Amoris Laetitia“ (2016) von Papst Franziskus beispielsweise nennt Liebe in einem sehr umfassenden Sinn – auch die erotische Liebe – und Freundschaft in einem Atemzug als Fundament eines christlichen Eheverständnisses. Gerade Papst Franziskus hat in jüngster Zeit durch zahlreiche Äußerungen zu innerkirchlichen Neuaufbrüchen in Sachen Sexualität und Ehe beigetragen, was dazu führt, dass in der theologischen Ethik laufend Publikationen zu einer erneuerten Ehe- und Sexualmoral erscheinen. Das ist begrüßenswert und sehr wichtig. Ich glaube aber, dass es auch in der katholischen Kirche an der Zeit ist, die ständige Fixierung auf Sexualität zu überwinden. Es gibt neben der Ehe viele weitere Beziehungsformen, über die es sich nachzudenken lohnt. Die bedeutendste unter ihnen ist in meinen Augen die Freundschaft. Anders als die Ehe steht sie jedem offen und wird in irgendeiner Weise von allen gelebt. Ich möchte daher vorschlagen, die Freundschaft – nicht die Ehe als die Keimzelle einer demokratischen Gesellschaft zu betrachten. Auf Freundschaft als Grundlage wohlwollender Beziehungen zueinander können sich eine säkulare und eine religiös fundierte Ethik einigen.
Ich kann diese These auf den folgenden Seiten nur ansatzweise entfalten. Wo es dem/der Leser/in in diesem kleinen Buch an Tiefgang mangelt, sei auf einen im Sommer 2017 erscheinenden Sammelband verwiesen, der das leisten kann, was in diesem Rahmen nicht möglich ist: Gründlichkeit und wissenschaftliche Differenziertheit.
In diesem kleinen Buch möchte ich für Freundschaft als eigene und sehr wertvolle Beziehungsform werben, die es zu hegen und zu pflegen gilt. Ich glaube nämlich, dass Freundschaft in unserer heutigen Gesellschaft durchaus gefährdet ist. In einer konsumorientierten Welt, die auf aggressiven Individualismus setzt, ist Freundschaft ein klares Gegenprogramm. Allzu oft wird sie aber in unserer profitorientierten Arbeitswelt zur „gemeinsamen Interessensverfolgung“ degradiert und instrumentalisiert. Dieses Buch erhebt gegen diese Tendenz Einspruch, betont den Eigenwert von Freundschaft und wirbt bewusst für eine Kultur der Freundschaft (Frau B. hätte an dieser Stelle vermutlich spöttisch ihre Augenbrauen hochgezogen und eingewandt, dass nun wieder mein idealistisches Temperament mit mir durchgehe, und ich hätte gekontert, dass irgendwer auf dieser Welt noch idealistisch sein muss …)
Im Laufe meiner Recherchen zum Thema und in Auseinandersetzung mit den Gender Studies wurde mir bewusst, wie sehr mein persönliches Konzept von Freundschaft von der Tatsache geprägt ist, dass ich eine akademisch gebildete Frau der bürgerlichen Mittelschicht bin. Rein historisch gesehen hätte man mich bis vor kurzem kraft meiner Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht als „nicht freundschaftsfähig“ bezeichnet. Freundschaft war bis zur Epoche der Romantik (1798–1835) nämlich Männersache. Damit will ich nicht sagen, dass Frauen bis dahin niemals miteinander befreundet gewesen wären. Sie waren es im Rahmen ihres kleinen Wirkungskreises, dem häuslichen Bereich, durchaus. In den Augen der Öffentlichkeit jedoch, wo Männer miteinander politische Verantwortung für die Gesellschaft trugen, galten solche Freundschaften als unwichtig, jedenfalls wissen wir zu wenig darüber. Noch gab es keine Angela Merkel, keine Hillary Clinton und keine Theresa May. In der offiziellen Geschichtsschreibung entdeckten bürgerlich gebildete Frauen erst vor ca. 200 Jahren die Freundschaft für sich und entwickelten ganz eigene Vorstellungen davon, was es heißt, eine „Freundin“ zu sein. Aufgrund dieser historischen Tatsache kann ich auch nicht darauf verzichten, an manchen Stellen zu präzisieren, ob ich jeweils nur Frauen und nur Männer oder tatsächlich beide Geschlechter meine. Der Lesefluss und damit die gedankliche Auseinandersetzung soll jedoch nicht gestört werden, weshalb ich hier und da den einen oder anderen kleinen Kompromiss in der Formulierung eingegangen bin. Dem klaren Anliegen der Geschlechtersensibilität tut das keinen Abbruch.
WARUM FREUNDSCHAFT WICHTIG IST
Was die Glücksforschung dazu sagt
Von allem, was die Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens bereithält, ist weitaus das Größte die Erwerbung der Freundschaft. (Epikur)
Die Antwort auf die Frage, weshalb Freundschaft wichtig ist, ist relativ simpel: Freundschaften machen ganz einfach glücklich. Sie sind einer der wichtigsten Faktoren für die Zufriedenheit von Menschen. Und das nicht nur bei uns in Europa, sondern generell und weltweit. Unzählige Studien bestätigen immer wieder, was angeblich schon Epikur wusste: „Von allem, was die Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens bereithält, ist weitaus das Größte die Erwerbung der Freundschaft.“ Ich sage „angeblich“, weil die genaue Herkunft solcher Zitate in vielen Fällen durchaus schwierig ist. Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich eine Art großer Zitatenschatz angesammelt, aus dem man viele wertvolle Stücke entnehmen, aber oft nicht genau zuordnen kann. Das sagt aber bereits viel aus: Freundschaft scheint eine Grundkonstante in der Menschheitsgeschichte zu sein. Freunde und Freundinnen haben immer schon glücklich gemacht.
Viele Lieder besangen und besingen nach wie vor die Freundschaft, so dass hier nur eine kleine Auswahl der großen Songs aufgezählt werden kann, mit denen die meisten von uns aufwachsen oder zumindest irgendwann in Berührung gekommen sind: „With a little help from my friend“ von John Lennon ist eine der großen modernen Freundschaftsoden der Popmusik. Ich persönlich liebe einen anderen Song, nämlich „Keep smiling, keep shining“ von Dionne Warwick, der von vielen berühmten Sängern und Sängerinnen interpretiert wurde, u. a. von Elton John, Stevie Wonder und Whitney Houston. „Thank you for being a friend“ von Andrew Gold ist ein weiterer Evergreen, der mir beim Thema Freundschaft sofort einfällt. Und natürlich und für immer Freddy Mercury/Queen mit: „Friends will be friends“!
Wer über Freundschaft nachdenkt, der denkt an berühmte Szenen aus der Filmgeschichte oder auch aus der Literatur: Ich persönlich mag die Szene aus dem „Herrn der Ringe“, in der der Hobbit Sam seinen tief erschöpften Freund Frodo mit letzter Kraft den Berg hinaufschleppt in der Hoffnung, das Böse mit einer letzten verzweifelten Willensanstrengung doch noch gemeinsam und endgültig besiegen zu können. Was am Ende bekanntlich auch gelingt.
Eine ähnlich heroische Szene besingt Friedrich Schiller in seiner unsterblich gewordenen Ballade „Die Bürgschaft“, die irgendwann alle Schulkinder auswendig lernen mussten und vermutlich auch deswegen niemals vergessen haben: Ein Freund bürgt mit seinem Leben für das Leben des anderen – im Vertrauen darauf, dass der Freund ihn nicht im Stich lassen wird. Der Tyrann Dionysos, der beide Freunde in der Hand hat, ist angesichts dieses Vertrauens so tief bewegt, dass er beiden das Leben schenkt und sich wünscht, in solch einen Freundschaftsbund aufgenommen zu werden: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte!“
Nicht so bekannt und auch nicht so spektakulär-heroisch, aber um nichts weniger berührend sind große Frauenfreundschaften. Da ist Sappho, die antike Dichterin von der Insel Lesbos, welche die Schönheit ihrer Freundinnen und Schülerinnen und auch deren Sinnlichkeit und Erotik besang. Da sind die berühmten Salondamen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel, mit denen im gewissen Sinne die Geschichte der sogenannten „besten Freundin“ beginnt (siehe unten). Da ist die Philosophin Hannah Arendt und ihre lebenslange Freundschaft mit Mary McCarthy, die Arendts bewegtes Leben teilte und am Ende auch ihre literarische Nachlassverwalterin wurde. Zu nennen wären die „Frauen des Mailänder Buchladens“ sowie die sogenannten Diotima-Philosophinnen, zwei italienische Philosophinnen-Gruppen, die seit Jahrzehnten in treuer Verbundenheit die traditionell männerdominierte Philosophie aufmischen.
Auch wenn vor allem Männerfreundschaften in vielen der genannten Beispiele aus der Literatur oder aus der Geschichte stark idealisiert und romantisiert erscheinen, so muss man wohl doch feststellen: Ohne Freunde/innen geht es nicht im Leben. Sie helfen das Leben zu meistern – in glücklichen und in unglücklichen Situationen, im Augenblick der Gefahr und im Alltag.
Dass das nicht nur eine persönliche Erfahrung ist, sondern wissenschaftlich nachgewiesene und beglaubigte Tatsache, bescheinigt die Glücksforschung1 in zahlreichen Studien seit den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Einen Freund zu haben, dem Persönlichstes anvertraut werden kann, hat den gleichen Glückseffekt wie die Verdoppelung des Einkommens. Gute Freunde oft zu sehen, macht zufriedener als das Treffen mit Familienangehörigen. Dies gilt für alle Menschen, in besonderem Maße aber auch gerade für Singles und Geschiedene.
Demir & Weitekamp befragten vor einigen Jahren 423 Studierende in den USA. Nur elf Prozent hatten keinen besten Freund, im Schnitt waren es 4,4. Stärker extrovertierte Personen hatten mehrere „sehr gute Freunde“. Wie immer im Leben kommt es aber auch in puncto Freundschaft nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an: Menschen beschreiben einen Freund/eine Freundin als jemand, der sie zum Lachen bringt, der ihnen Selbstbestätigung und das Gefühl gibt, eine einzigartige Person zu sein. Das Empfinden, für Freunde/Freundinnen wichtig zu sein, erhöht das Glück, weil in Freundschaften wichtige psychische Bedürfnisse befriedigt werden können, speziell das nach Freiheit und Authentizität: „Wenn ich bei meinem Freund bin, fühle ich mich frei und so wie ich bin“, berichten Menschen übereinstimmend.
Freundschaften machen Menschen in allen Altersstufen glücklich. Wer Kinder hat, weiß, dass die Frage nach dem/der besten Freund/in eine ganz zentrale Frage ist, die bereits im Kindergartenalter an Bedeutung gewinnt und in der Pubertät einen ersten Höhepunkt erreicht. Schließlich kann man kaum mit den Eltern über die erste große Liebe sprechen!
Ich konnte an meinen beiden Töchtern beobachten, dass schon ihre allererste große Freundschaft im Kindergarten oder in der Volksschule Ähnlichkeit mit einer Art ersten Verliebtheit hatte: Sie waren fasziniert von der Freundin, ahmten sie nach, wollten jede Sekunde bei ihr sein und waren tieftraurig, wenn es Streit gegeben hatte.
Die Psychologie geht heute davon aus, dass schon kleine Kinder mit drei Jahren erste Kontakte zu anderen Kindern aufnehmen. Befragt man Kinder in Studien, was für sie Freundschaft ist, so antworten sie geradeaus: „gemeinsames Spielen“. Gemeinsame Abenteuer stehen im Mittelpunkt von Büchern und Filmen, die seit Generationen Klassiker sind. „Bibi und Tina“, „Hanni und Nanni“, „Fünf Freunde“, „Die Wilden Hühner“, „Die Wilden Kerle“ und viele andere. Gemeinsam Gefahren bestehen, aber auch Gedanken und Gefühle austauschen, später dann auch erste sexuelle Erfahrungen, ist nur im Freundeskreis möglich. Selbstverständlich gibt es immer auch Konflikte, Machtgerangel, Teilen-Lernen wider Willen, Streit. Aber dies gehört wesentlich zur Sozialisation und ist ohne Freunde kaum erlernbar. Ganz zu schweigen von der Versöhnung nach dem Streit und der Tafel Schokolade bzw. dem Baumhaus, dessen Bau man dann doch wieder gemeinsam in Angriff nimmt.
Auch im höheren Erwachsenenalter verbinden Menschen Freundschaft mit Glück. Sowohl Zwanzig- als auch Achtzigjährige bezeichnen sich laut Umfragen am wahrscheinlichsten als „sehr glücklich“, wenn sie mit ihren Freunden/Freundinnen etwas unternehmen. In schwierigen Lebenssituationen bieten freundschaftliche Beziehungen Halt. Freundschaft bedeutet gemeinsame Aktivität, Klettern oder Schachspielen, auch gemeinsames Feiern. Von einem/einer Freund/in wertgeschätzt, ja gelobt zu werden, erhöht das Selbstwertgefühl, einer der stärksten „Glücksanzeiger“, die es gibt. Wer tiefe Freundschaften pflegt, kommt mit seiner Umwelt besser zurecht und fühlt sich freier und hoffnungsvoller.
Balsam für Freundschaft ist Dankbarkeit. Wer solche regelmäßig praktiziert, wird als noch liebenswürdiger wahrgenommen. Freundschaften beglücken also. Umgekehrt haben Glückliche mehr Freunde/innen und beziehen aus gemeinsamen Aktivitäten mehr Befriedigung. Sogar handfeste gesundheitliche Vorteile sind durch Freundschaften zu erwarten. Folgt man US-amerikanischen und australischen Studien, so sind Menschen mit guten sozialen Beziehungen im Vorteil: Sie leben zufriedener, sind körperlich gesünder und haben eine höhere Lebenserwartung. Ein deutlich stärkeres Immunsystem, verbesserte Wundheilung, ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen – all das sind die positiven medizinischen Auswirkungen, wenn Menschen Freundschaften pflegen. Freundschaft wirkt also wie ein Puffer gegen akuten Stress oder dauerhafte Belastungen, bringt Bindungshormone und Opioide zur Ausschüttung und ist damit eine Art kleine Wonnedroge. Oder in den ganz persönlichen Worten von einem meiner Freunde: „Freundschaft heißt, sich wohlfühlen in der Gegenwart des anderen“.
1Ich danke Anton Bucher für viele Hinweise auf Fachliteratur aus der Glücksforschung. Ausführliche bibliographische Hinweise zu den Studien und detaillierte Schilderungen finden sich in seinem Buch „Psychologie des Glücks“.
Tasuta katkend on lõppenud.