Ostseegrab

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5

Ben schloss die Hintertür ab. Wenn er sich verhalten wollte wie immer, dann musste er zu Olli. Der würde sich sonst sicher wundern. Vorher musste er aber noch zum Strand. Seit dem Tsunami hatte er jeden Morgen das Verlangen, einen Blick auf das Wasser zu werfen. Er musste sich vergewissern, dass alles normal aussah. Natürlich würde es hier nie eine Riesenwelle geben, doch er kam gegen seinen Kontrollzwang nicht an. Er blieb stehen: Wo kamen die beiden Autos auf einmal her? Der Audi war furchtbar dreckig und der VW Passat sah aus wie ein Polizeidienstwagen. Ben sah sich um. Weit und breit waren keine Bullen zu sehen. Er lief zum Deich. 50 Meter weiter standen ein paar Menschen, doch er konnte nichts Genaues erkennen. Sein Herz begann zu klopfen und sein Hals wurde trocken. Ben machte kehrt und rannte zurück zur Wiese. Olli saß auf den Eingangsstufen seines Wohnmobils und starrte in seinen Kaffeebecher.

»Schnell, komm mit! Da stimmt was nicht!«

Olli blickte auf und sah ihn müde an. Er sah furchtbar aus. Seine Augen waren knallrot. Olli musste stundenlang geheult und gesoffen haben. Ben fühlte sich schuldig. Was war er nur für ein Freund? Olli liebte Sarah. Und jetzt? Es hätte niemals so weit kommen dürfen.

»Hab zu viel getankt gestern. Alles wegen ihr«, murmelte Olli. »Mir gings noch nie so beschissen. Aber das war das letzte Mal.« Olli versuchte zu grinsen, doch sein Gesicht verzog sich nur zu einer grotesken Maske. »Was ist denn los?«

»Da sind Bullen am Strand!« Olli nickte, machte aber keine Anstalten aufzustehen. Ben wurde ungeduldig. »Willst du gar nicht wissen, was da los ist?«

»Sarah hat Schluss gemacht. Das ist los! Ich soll das einfach akzeptieren! So ein Scheiß! Da steckt doch ein anderer Kerl dahinter.«

»Das weißt du doch gar nicht! Und wenn sie dich wirklich beschissen hat, dann gibt es kaum einen Grund, ihr nachzutrauern!«

Olli sprang auf. »Du hast doch keine Ahnung! Ich habe Sarah geliebt! Ich liebe sie auch jetzt noch! Aber das kannst du natürlich nicht kapieren. Dir fliegen die Weiber ja nur so zu. Du kannst jede haben!«

Ben atmete tief durch.

»Aha! Ich weiß nicht, was Liebe ist! Ist klar! Und warum bin ich dann hier? Weil Fehmarn so viel traumhafter ist als Phuket? Verdammt, Olli! Auch wenn ich ab und zu mit einer in die Kiste springe, es bedeutet mir rein gar nichts! Außerdem kennst du Sarah erst seit ein paar Wochen. Was weißt du schon über sie? Und Liebe? Ihr habt euch doch so gut wie nie geküsst. Sie hat dich verleugnet, als wärst du ihr peinlich.«

»Du spinnst ja total! Wo steht, dass man sich immer und überall die Zunge in den Hals stecken muss? Und natürlich habe ich ihr geholfen! Die Deutschen Meisterschaften sind in sieben Wochen und sie hat alle Chancen zu gewinnen.« Mit zitternden Fingern fummelte Olli eine Zigarette aus der Schachtel. »Danach hätte sie Zeit für unsere Beziehung gehabt. Ich wollte mit ihr wegfliegen. Vielleicht Marokko oder so.« Olli schluckte und setzte sich wieder. »Weißt du, Ben, ich bin mir sicher, dass das mit uns geklappt hätte. Aber sie wollte nichts mehr davon wissen. Sie hat mich einfach zu den Akten gelegt. Knall auf Fall. Was hab ich denn bloß falsch gemacht?«

»Olli, es hat doch keinen Sinn, dass du dich so fertig machst. Sich die ganze Nacht volllaufen zu lassen, ist doch keine Lösung. Wahrscheinlich ist sie einfach nur gestresst und nach den Meisterschaften sieht alles wieder ganz anders aus. Vielleicht merkt sie dann, dass sie einen Fehler gemacht hat. Jetzt lass uns erst mal sehen, was da am Strand passiert ist.« Ben kam sich verlogen vor, denn Sarah würde ihre Meinung nicht mehr ändern.

Sophie beobachtete Stefan. Er marschierte die Wasserlinie ab und sah schrecklich schlecht gelaunt aus. Sie fragte sich, ob es an der Leiche oder an ihrem Besuch lag. Sie tippte auf Letzteres. Nach ein paar Minuten war er wieder bei ihnen.

»Wo bleibt denn der Leichenwagen?«, fragte er mürrisch.

»Muss jede Sekunde da sein, Chef!«, sagte Claas Meier und schien sich ungeheuer wichtig zu fühlen.

»Wann war das denn genau mit der ersten Kiterin?«

»Am Dienstag. Meine Frau kocht dienstags immer Gulasch, und das war schon ganz verkocht, als ich endlich zu Hause war«, erklärte Larrson schmunzelnd.

»Wo ist die Leiche jetzt?«

»Die Leiche? Keine Ahnung. Beim Bestatter?«

»Bin ich hier in einer Quizshow? Mann o Mann! Der Wagen soll die Leiche in die Gerichtsmedizin nach Lübeck bringen. Wir müssen herausfinden, wer die Frau ist. Broder, kümmere dich darum! Fragt doch mal rum. Irgendwer muss sie doch kennen. Vielleicht hat sogar jemand was gesehen.« Stefan schüttelte genervt den Kopf. »Sophie, du kannst bei mir mitfahren!« Sein Angebot klang wie ein Befehl.

»Pelle ist nass und sandig«, gab Sophie trotzig zu bedenken.

»Mein Wagen ist dreckiger«, blaffte Stefan.

Sein Tonfall machte klar, dass er keine Widerrede wünschte. Sophie folgte ihm zu seinem Wagen. Sie ließ Pelle auf die Rückbank springen und öffnete die Beifahrertür. Der Sitz war voll mit leeren Zigarettenschachteln und Pappbechern. Sie wischte alles in den Fußraum und setzte sich. »Alle Achtung! Du hast nicht übertrieben. Das ist hier mit Sicherheit das ekelhafteste Auto, in dem ich je mitfahren durfte!«

»Monatelange Arbeit.«

Sophie grinste in seine Richtung, doch er starrte ernst nach vorn. Er fuhr mit einem Ruck an und aus einem alten Kaffeebecher ergoss sich der schimmelige Rest über ihre teuren Joggingschuhe.

»Oh, tut mir leid«, bemerkte Stefan zynisch.

»Mach dir keine Sorgen. Ihr seid doch versichert! Du siehst übrigens beschissen aus!«

»Danke!«

»Alles okay?«

»Sophie, ich hatte eine grauenhafte Nacht. In der Woche schlafe ich kaum, am Wochenende erhole ich mich bei einem Säugling, und jetzt habe ich auch noch eine Leiche und furchtbaren Besuch. Es gibt Menschen, die ihre Zeit nicht nur mit Sekt und Schnittchen verbringen.« Stefan starrte stur geradeaus. Seine Lider flatterten.

»Was war das denn eigentlich vorhin? Dieser Pieper hat doch ne Schraube locker. Nur weil die Leiche in einem Neoprenanzug steckt, geht er davon aus, dass sie ertrunken sein muss. Wow!«

»Er ist Hausarzt.«

»Na, dann hoffe ich schwer, dass ich hier nicht krank werde.«

»Ich habe dich nicht eingeladen!«

»Zurück zu unserer Leiche. Wie sich rausgestellt hat, schon die zweite in einer Woche! Uppsala! Was für ein Zufall!«

»Witterst du eine Story für dein Klatschblatt? Oder warum bist du so hartnäckig?«

»Hallo! Entspann dich mal! Seit du da aufgetaucht bist, machst du mich an. Eine Story wäre das hier nur, wenn es sich bei der Dame um eine Prominente, Prinzessin, oder zumindest um ein berühmtes Model handeln würde. Für Normalsterbliche interessieren sich unsere Leser nicht. Ich meine doch nur, dass das schon abenteuerlich war, wie das da vorhin gelaufen ist.«

»Sophie! Hör auf zu schnüffeln. Ich bin auch nicht glücklich darüber, wie der Arzt da vorgegangen ist. Aber spiel hier nicht die Miss Marple! Ich warne dich und ich meine es verdammt ernst!«

Sophie schnaubte und sah aus dem Fenster. Glaubte Stefan tatsächlich, dass er sie mit hohlen Phrasen einschüchtern konnte? Dazu brauchte es schon ein bisschen mehr.

6

Olli stand neben Ben auf dem Deich und bedauerte, dass er mitgekommen war. Ihm war hundeelend. Zwei Polizisten in Uniform sorgten dafür, dass die wenigen Schaulustigen nicht an den Strand liefen. Als der schwarze Leichenwagen auf den Parkplatz fuhr, bestätigte sich der entsetzliche Verdacht. Ben war kreidebleich. Jede Wasserleiche musste ihn an den Tsunami und den schrecklichen Tod seiner Freundin erinnern.

»Alles okay?«, fragte Olli besorgt.

»Schon gut. Es geht gleich wieder. Hoffentlich nicht wieder einer von unseren Schülern.«

Olli versuchte, seinem schmerzenden Schädel noch einen klaren Gedanken zu entlocken. »Unsere waren doch am Abend alle wieder da und als wir bei Sonnenuntergang am Strand saßen, war auch sonst niemand mehr draußen.«

»Schon, aber diese Sandra ist auch nachts noch mal raus«, gab er zu bedenken. »Verdammte Scheiße! Wir haben doch so oft vor so beknackten Aktionen gewarnt! Wie kann man überhaupt auf so eine beschissene Idee kommen?«

Olli wusste keine Antwort. Die Männer waren dabei, den leblosen Körper auf die Bahre zu legen. Eine lange blonde Haarsträhne hing seitlich herab. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nein, das war doch unmöglich! Sarah hatte auch solche blonden Locken. Olli fiel auf die Knie und kotzte.

»Mein Gott!« Ben hockte sich neben ihn und hielt seine Schultern. »Was ist denn?«

Er schaffte es, ihren Namen zu flüstern, bevor er sich erneut übergeben musste. Ben sprang auf und rannte an den Polizisten vorbei. Olli setzte sich erschöpft ins Gras und wischte sich den Mund mit seinem T-Shirt ab. Sein Kopf war kurz davor zu zerspringen. Verdammt, er musste sich erinnern. Was war nur passiert? Sie hatten gestritten. Sarah hatte mit ihm Schluss gemacht. Ja, sie würde einen anderen Mann lieben, das waren ihre Worte. Dann hatte er sich betrunken. Er war so unendlich wütend gewesen. Er hätte sie tatsächlich umbringen können. Ben kam zurück und griff nach seinem Arm.

»Olli, komm! Du musst unter die Dusche. Bitte! Ich bring dich zu deinem Wohnmobil.«

»Sie ist es, oder?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben den Reißverschluss zugemacht, bevor ich sie genauer sehen konnte, aber ich fürchte, es ist tatsächlich Sarah.«

»Vielleicht ist es meine Schuld!«

Ben sah ihn verständnislos an. »Deine Schuld? Wie soll das denn deine Schuld sein, wenn sie sich nachts auf dem Wasser rumtreibt? Sie war doch keine Anfängerin. Sie wusste, dass das saugefährlich ist. Du kannst doch nicht hellsehen und außerdem warst du stockbesoffen.«

 

Olli nickte. Genau das war ja sein Problem. Er konnte sich einfach nicht erinnern. Hatte er wirklich die ganze Nacht in seinem Wohnmobil verbracht?

7

Tina spürte, wie jemand ihren Arm schüttelte. Verwirrt schlug sie die Augen auf.

»Mama! Gibt es heute gar nichts zu essen?«

»Wir haben doch so Hunger!«, erklärte nun auch Paul.

Ihre beiden Großen standen in Schlafanzügen an ihrem Bett. Finn lag neben ihr und schlief. »Hey, guten Morgen ihr Süßen! Wie spät ist es denn? Halb acht! Ach du liebe Güte! Ihr seid früh dran heute!« Sie rappelte sich hoch und nahm ihren Kleinsten vorsichtig in den Arm, um ihn wieder in seine Wiege zu legen.

»Du musst trotzdem aufstehen«, meinte Antonia ernst. »Du musst Frühstück machen, damit wir Kinder nicht verhungern!«

Tina grinste und legte den Finger auf die Lippen. »Pst. Seid leise, damit Finn noch ein bisschen schlafen kann.« Zusammen schlichen sie aus dem Schlafzimmer. »Antonia, hol dir mal Unterwäsche und ein Kleid aus dem Schrank. Ich ziehe inzwischen Paul an. Wir treffen uns im Bad.« Antonia nickte verschwörerisch und trottete los. Eine Viertelstunde später waren sie in der Küche versammelt. Tina machte den Kindern Kakao und stellte den Backofen an.

»Du, Mama, Pelle ist gar nicht da!«

Tina bekam einen Schreck. Stilldemenz. Das war mal wieder ein Beweis. Sie hatte total vergessen, dass sie Besuch hatte. »Vielleicht schlafen die beiden noch. Ihr esst jetzt erst mal ein paar Kekse und ich sehe mal im Gästezimmer nach.«

»Kekse! Kekse!«, kreischte Paul.

»Sophie ist aber gar nicht in ihrem Bett«, informierte Antonia wichtig. »Ich habe nachgesehen. Aber sie hat etwas auf einen Zettel geschrieben.«

»Und wo ist der Zettel?«

»Und wo sind die Kekse?«

Tina öffnete den Schrank und schnappte eine Packung Butterkekse.

»Keine mit Schokolade?«, beschwerte sich Antonia.

»Nein! Wo?«

»Auf ihrem Bett.«

Tina marschierte nach oben. Tatsächlich. Auf dem Kopfkissen fand sie die Nachricht: ›Wir sind joggen!‹ In diesem Moment meldete sich Finn. Tina nahm ihn mit nach unten. In der Küche war bereits der erste Streit ausgebrochen.

Antonia brüllte ihren kleinen Bruder an. »Pelle ist mein Hund! Ich kenne ihn schon viel länger.«

»Aber mich mag er lieber!«

Gleich würde wieder einer heulen. Schon schluchzte Antonia los. »Paul ist so fies!«

Tina sah die beiden ernst an. »Pelle liebt Sophie am allermeisten, okay? Aber er hat euch beide sicher gleich gern. Es gibt gleich Frühstück.«

Sie war gerade dabei, die Eier abzuschrecken, als sie den Wagen hörte. »Da kommt Papa!«, rief sie den Kindern zu. Der Audi stoppte quietschend auf der Einfahrt. Tina lief zur Haustür und öffnete. Stefan sah furchtbar aus, doch, was sie noch mehr irritierte, war, dass auch Sophie und Pelle bei ihm waren. »Was ist denn?«, fragte sie verwirrt. Stefan gab ihr einen flüchtigen Kuss. Er roch grauenhaft.

»Lass dir die Geschichte doch von Miss Marple erzählen. Mir reicht es für heute!«

Tina sah erschrocken zu Sophie, doch die schüttelte nur den Kopf und ging mit Pelle nach oben. Irgendwas stimmte da ganz und gar nicht! Was war denn nur passiert?

Stefan wollte nur noch unter die Dusche und endlich schlafen. Vorher musste er aber noch den Staatsanwalt informieren, dass er die Leiche ohne wirkliche Begründung nach Lübeck hatte bringen lassen. Nichts konnte schlimmer sein als das, was in den letzten Stunden geschehen war. Und dann noch Sophie! Er hatte jetzt schon genug von ihr und das Wochenende hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Stefan wusste, dass sie sich nicht vom Herumschnüffeln abhalten lassen würde. Er hätte sich die Warnung auch sparen können.

»Papa! Papa, Pelle ist hier und er hat Sophie mitgebracht!«

Antonia und Paul warfen sich in seine Arme. Stefan drückte sie fest an sich. In diesen Sekunden vergaß er alles. Er war ein glücklicher Mann. Ohne seine Familie wäre er sicher schon im Irrenhaus. »Hey! Ich hab euch vermisst! Was macht denn euer Bruder?«

Paul zuckte mit den Schultern. »Ach, der sagt nie was.«

»Natürlich nicht!«, kommentierte Antonia. »Er ist doch noch ein Baby. Komm Papa! Wir haben Frühstück gemacht.« Sie nahm seine Hand und zerrte ihn zum Esstisch. Auch wenn alles sehr lecker aussah, verspürte er keinen Hunger. Sein Kleinster lag in der Wippe und maulte leise. Beim Anblick seines kleinen Sohnes musste er wieder an das Baby vom Dach denken. Er musste sich zusammenreißen. »Na, kleiner Mann!« Stefan strich Finn über die Wange. »Ich bins, Papa! Da musst du doch nicht meckern.«

»Er verlangt sein zweites Frühstück und er hat die Hose voll«, erklärte Tina.

Stefan hatte sie gar nicht kommen hören.

»Setz dich doch.«

»Ich würde gern duschen und muss telefonieren.«

»Gleich, Schatz.« Tina gab ihm einen Kuss und nahm das Baby auf den Arm. »Ich leg Finn in Antonias Zimmer, dann hast du im Schlafzimmer deine Ruhe. Sei so lieb und pass kurz auf die Kinder auf. Fangt doch schon mal an zu essen!«

Stefan schüttelte schweigend den Kopf. Er würde auf der Stelle einschlafen und mit dem Gesicht in einem belegten Brötchen landen.

»Ich will Kinderwurst!«, forderte Paul.

»Kann Sophie denn nicht kurz aufpassen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Sophie duscht gerade. Ich bin doch gleich wieder da.«

Sie duscht gerade! Neue Wut kroch in ihm hoch.

»Papa, du musst auch mal wieder duschen.«

Er sah seine Tochter an. Sie war wirklich das hübscheste kleine Mädchen, das er je gesehen hatte. Und sie war mindestens genauso pfiffig. Da stand ihm noch was bevor.

»Papa duscht ja gleich. Nun hole ich mir einen großen Becher Kaffee und dann schmieren wir Brötchen. Alles klar?« Die Kinder nickten zufrieden. Stefan ging um den Tresen herum zur Espressomaschine. Er zitterte und war sich nicht sicher, ob aus Erschöpfung oder vor Wut.

Sophie ließ sich das heiße Wasser über den Körper laufen und versuchte, sich zu entspannen. Sie war nach Fehmarn gekommen, um in der Inselidylle neue Kraft zu schöpfen. Sie hatte sich auf Strände, Deiche und Reetdachhäuser gefreut. Wasserleichen passten so gar nicht in das Bild. Pelle lag auf der Badematte und schnarchte leise. Beim Joggen über eine Leiche zu stolpern, das war doch wirklich wie im Krimi. Sophie hatte die Tote immer noch genau vor Augen. Die schlanke Figur, das nasse blonde Haar. Sie drehte das Wasser ab und griff nach einem dicken Frotteehandtuch. Sie wickelte sich ein und setzte sich neben ihren Hund auf den Boden. »Ach Pelle, was für ein schräger Ferienbeginn.« Der Labrador öffnete die Augen und wedelte müde mit dem Schwanz. »Stefan ist stinksauer auf mich«, stellte sie fest. »Und trotzdem! Irgendetwas stimmt da nicht. Und du hast mich darauf gebracht, mein Held!« Pelle legte seinen Kopf auf ihr Bein und grunzte. »Pst! Ich muss nachdenken!« Die Leiche kann nicht angeschwemmt worden sein. Unmöglich! Sie lag vier Meter oberhalb des angetriebenen Seetangs. War die Frau mit letzter Kraft nach oben gekrochen? Nein, es gab keine Schleifspuren. Und außerdem lag sie auf dem Rücken. Wenn es tatsächlich ein Unfall war, wo war dann das Equipment? Gut, das Brett und der Schirm könnten irgendwo in der See treiben, aber wo war das Trapez? Diese Dinger saßen doch immer bombenfest. Es war einfach unmöglich, dass ein Mensch in Panik die Schnallen und Klettverschlüsse öffnen konnte. Sophie knotete das nasse Haar zusammen und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. Obwohl sie wirklich Hunger hatte, verspürte sie keine große Lust nach unten zu gehen. Es ärgerte sie, dass Stefan ihren Verdacht einfach als Spinnerei abtat. Was bildete er sich eigentlich ein?

»Komm! Wenn wir Glück haben, schläft der doofe Stefan schon.« Sophie ging mit Pelle die Treppe hinunter in die offene Küche. Sofort stürzten sich die Kinder auf den Hund. »Guten Morgen, Mäuse. Pelle hat euch bestimmt auch vermisst. Er war mit mir joggen.«

»Guten Morgen?«, Stefan sah sie wütend an. »Weißt du eigentlich, wie spät es mittlerweile ist?«

»Nein, weiß ich nicht! Warum gehst du nicht endlich ins Bett?«

»Würde ich sehr gerne. Doch Tina ist oben bei Finn und ich hatte den Auftrag noch eben ganz kurz bei den Kindern zu bleiben, bis du wieder unten bist. Das war vor einer halben Stunde!«

Sophie ging zur Espressomaschine und versuchte ruhig zu bleiben. »Jetzt bin ich da. Schlaf schön.«

Stefan schob seinen Stuhl zurück und sprang auf.

»Schatz!«, Tina kam gut gelaunt die Treppe hinunter. »Du bist ja immer noch hier. Jetzt leg dich endlich hin. Du siehst wirklich furchtbar aus.«

Stefan öffnete den Mund, schüttelte dann den Kopf und verschwand ohne ein weiteres Wort.

»War was?«

»Nein, Mama«, Antonia griff nach einer Scheibe Wurst. »Papa und Sophie haben sich nur gestritten, obwohl man das nicht tun soll.« Die Wurstscheibe verschwand in Pelles Maul.

»Ach Quatsch«, beschwichtigte Sophie.

»Was war denn überhaupt los? Wieso seid ihr bei Stefan mitgefahren? Freiwillig steigt doch niemand in seinen Wagen.«

»Ganz bestimmt nicht«, lachte Sophie, dann nickte sie in Antonias Richtung. »Ich erzähl dir alles, wenn wir die Spione losgeworden sind.« Sie wandte sich den Kindern zu. »Würdet ihr mir einen großen Gefallen tun und mit Pelle in den Garten gehen? Er muss jetzt auch was essen. Ich mach ihm sein Frühstück fertig und ihr passt auf, dass er alles auffuttert.« Antonia und Paul klatschten begeistert. Sophie schüttete das Trockenfutter in die Edelstahlschüssel und nahm sie mit auf die Terrasse. Die Kinder und Pelle folgten ihr begeistert. »Wenn er alles brav aufgegessen hat, bekommt er noch ein Leckerli. Kommt ihr zurecht?« Die beiden Futterkontrolleure nickten ernst. Sophie grinste. Pelle würde seinen Napf natürlich in Rekordgeschwindigkeit leeren.

»Jetzt erzähl schon!«, bohrte Tina sofort ungeduldig, als sie wieder am Esstisch saß.

»Ich bin über eine Leiche gestolpert.«

Stefan wickelte sich ein Handtuch um die Hüften und ging ins Schlafzimmer. Unter der Dusche waren ihm fast die Augen zugefallen. Am liebsten wäre er sofort ins Bett gekrochen, aber er hatte keine Wahl. Zuerst musste er den Staatsanwalt verständigen. Er musste begründen, warum er die Tote in das Rechtsmedizinische Institut hatte bringen lassen. Und er musste erklären, warum er diese Anweisung gegeben hatte, ohne sich vorher mit dem Staatsanwalt abzusprechen. Zum Glück verstand er sich mit Ingmar Harder hervorragend. In den letzten Jahren hatten sie sich schätzen gelernt und hatten Respekt vor den Arbeitsmethoden des anderen. Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl. Wenn er Glück hatte, war Ingmar bereits in seinem Büro.

»Büro des Staatsanwalts! Koslowski am Apparat«, meldete sich die Sekretärin.

»Morgen, Sylvia. Stefan Sperber. Ist Ingmar schon da?«

»Guten Morgen! Ja, er ist da. Ich verbinde dich. Kleinen Moment.«

»Stefan, gut, dass du anrufst! Die Obduktion des Babys ist durch. Doktor Franck hat mich gerade angerufen«, erklärte der Staatsanwalt.

Stefan schluckte. Das tote Baby. Die grausamen Bilder spulten sich vor seinem inneren Auge ab.

»Stefan?«

»Ja, ich bin da! Tut mir leid, aber ich bin jetzt seit über 24 Stunden auf den Beinen. Ich lauf auf Reserve.«

»Wir kriegen den Bericht heute Nachmittag.«

»Ich verstehe! Aber darum ruf ich nicht an. Wir haben eine tote Wassersportlerin auf Fehmarn. Am Strand von Gold. Wir wissen noch nicht, wer sie ist. Die Kollegen aus Burg kümmern sich drum.« Stefan machte eine kurze Pause.

»Und?«, fragte Ingmar Harder ungeduldig.

»Ich hab sie in die Rechtsmedizin bringen lassen.«

»Da komm ich gerade nicht mit. Was sollen die denn da mit ihr? Ist sie denn nicht ertrunken? Was hat denn der Arzt vor Ort gesagt?«

»Ja, der Arzt …« Stefan suchte nach den richtigen Worten. »Es war ein Hausarzt und … Ach, lassen wir das. Am Ende war er sich nicht mehr sicher.«

»Nicht mehr sicher? Aber er war schon sicher, dass sie tot ist, hoffe ich«, blaffte Ingmar in den Hörer.

Kein Wunder, dass Ingmar sich aufregte. »Sie trug einen Neoprenanzug. Man konnte nur Kopf, Hände und Füße sehen. Da hatte sie keine Verletzungen.«

»Man muss kein Messer im Rücken haben, um zu ertrinken!«, erklärte der Staatsanwalt gereizt. »Vielleicht hatte sie einen Herzfehler oder einen Krampf.«

 

»Ach Ingmar, ich weiß auch nicht. Irgendwas an dem Gesamtbild war falsch.« Sophies Worte kamen ihm wieder in den Sinn. »Sie sah irgendwie hingelegt aus.«

»Hingelegt? Ich verstehe kein Wort.«

»Es ist so ein Gefühl.«

»Sei mir nicht böse, Stefan, aber ich habe hier jede Menge Arbeit! Und du kommst mir mit Gefühlen? Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würde ich dir vorschlagen, nach dem Horror der letzten Nacht mit einem Psychologen zu sprechen.« Ingmar machte eine Pause. »Vielleicht hat ihr jemand helfen wollen und sie aus dem Wasser gezogen. Als er feststellte, dass sie tot ist, hat er Angst bekommen und ist abgehauen.«

»Sehr gut möglich«, gab Stefan zu. »Könnte aber auch sein, dass sie nicht freiwillig ins Meer gegangen ist.«

»Hört sich doch so an, als sollte Dr. Franck mal einen Blick auf die Leiche werfen.«

Tina hörte gebannt zu, als Sophie ihr die Erlebnisse des Morgens schilderte. Kein Wunder, dass Stefan nicht gut drauf war. Er hatte sich schließlich auf seinen Feierabend gefreut.

»Tja, und dein Mann war ziemlich sauer, als ich meinte, dass da was nicht stimmen kann.«

Tina seufzte. Natürlich nervte es einen Kommissar, wenn eine Hobbydetektivin Mordtheorien aufstellte. Und dann ausgerechnet Sophie! Schlimmer hätte ihr Wiedersehen gar nicht ausfallen können. »Tut mir leid, Sophie, aber ich kann Stefan da verstehen! Du weißt doch selbst, dass er seinen Job aus Leidenschaft macht. Glaubst du wirklich, er würde einem eventuellen Verbrechen nicht nachgehen, nur weil er Dienstschluss hat und müde ist?«

»Nein, natürlich nicht. Aber die Tote kann definitiv nicht angeschwemmt worden sein. Wieso sieht er das nicht ein? Außerdem bin ich sauer, weil er mich unmöglich behandelt hat. Er wollte mir nicht mal zuhören. Stattdessen hat er einen Dorfpolizisten beauftragt, meine Personalien aufzunehmen.«

»Ja, und? Hätte er lieber vor den Kollegen und einem Hausarzt deine Mordtheorien durchdiskutieren sollen? Jetzt spinn doch nicht!« Sie räumte den Frühstückstisch ab. Sophie folgte ihr in die Küche.

»Vielleicht hast du in dem Punkt recht, aber musste er so feindselig sein? Meine Güte, er hat mich sogar gefragt, ob ich eine Story wittere.«

»Das hätte er sich wirklich sparen können«, gab Tina zu. »Aber du kennst Stefan. Bitte, tu mir den Gefallen und versuche ihn nicht aufzuregen. Er muss sich wirklich erholen.«

»Das glaub ich! Sag mal, ist dein Mann jedes Wochenende so fertig? Er sah schlimm aus!«

»Ich hab mich auch erschrocken. Er muss die ganze Nacht durchgearbeitet haben. Normalerweise springt er zumindest noch unter die Dusche, bevor er losfährt. Na ja, in ein paar Stunden ist er wieder okay. Hoffentlich lässt Finn ihn ein bisschen schlafen.«

»Wegen des zarten Gebrülls deines kleinen Sohnes würde ich mir keine Sorgen machen. Ich glaube, du könntest im Schlafzimmer eine Harley starten, ohne Stefan zu wecken.«

»Damit hast du wahrscheinlich recht.« Stefan musste wirklich eine schlimme Nacht gehabt haben, dachte Tina. »Lass uns schnell noch die Spülmaschine einräumen. Dann legen wir uns nach draußen und genießen das herrliche Wetter.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich um das dreckige Geschirr. Du gehst schon mal vor und legst dich in die Sonne. Wer weiß, wie lange Finn dich lässt.«

»Quatsch! Wir machen das schnell zusammen und …«

»Hallo? Das war kein Vorschlag, sondern ein Befehl!« Sophie sah sie mit gespieltem Ernst an. »Ich möchte mich gern etwas nützlich machen, solange ich hier bin. Na los! Zisch ab!«

Tina hob beschwichtigend die Hände und verschwand auf die Terrasse. Was für ein Wetter! Sie ließ sich auf einen Liegestuhl fallen und streckte sich. Die Kinder jagten mit Pelle durch den Garten. Der Hund war wirklich Gold wert. Antonia und Paul vergaßen sogar, sich zu streiten. Sie war schon lange der Meinung, dass sie sich einen Hund zulegen sollten. Leider war Stefan anderer Ansicht. Er fand, dass sie mit drei Kindern schon genug um die Ohren hatte. Vielleicht würde Pelle ihn umstimmen. Der machte doch wirklich kaum Arbeit und als Spielgefährte war er spitze. Tina schloss zufrieden die Augen. Was für ein perfekter Morgen, abgesehen von dem Streit und der armen Toten am Strand natürlich. Zwei Wasserleichen in einer Woche und beide in Gold, das war wirklich ein ungewöhnlicher Zufall.