Loe raamatut: «Kleider find’ ich doof»
Anke Kuhlmann
Kleider find’ ich doof
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Ich bin Biggi
Wenn ich groß bin
Ein ganz besonderes Schauspiel
Fahrradcrash
Ich war es nicht
Geisterstunde
Mein Debüt
Die Mutprobe
Die Weihnachtsüberraschung
Noel und der geheimnisvolle Spiegel
Ich bin Biggi
Es gibt Mädchen, die wären lieber ein Junge.
Ich gehöre jedenfalls zu denen, denn all das, was Mädchen gerne mögen, hasse ich. Egal ob es die Klamotten sind, das Spielzeug oder das Geschminke. Viel lieber spiele ich Fußball, schraube an technischen Modellen herum und hänge mit den Jungen der Nachbarschaft ab.
Ich bin Biggi. Eigentlich heiße ich Birgit, doch alle, die ich kenne, nennen mich einfach nur Biggi. Birgit finde ich auch nicht so toll, aber wer kann sich seinen Namen schon aussuchen. Die Flitzpiepe an meiner Seite ist mein Bruder Benni. Ich nenne ihn so, weil ich ihn mag.
Er ist ein Jahr älter als ich und ganz okay. Trotzdem haben wir uns öfter mal in der Wolle. Wir sind eben Geschwister und da gehört das dazu. Im Grunde mögen wir uns und wenn es darauf ankommt, können wir zusammenhalten und schweigen wie ein Grab.
Manchmal hilft es auch, einen großen Bruder zu haben, besonders um anzugeben. Na ja, aber ansonsten komme ich ganz gut alleine klar.
Meine Eltern haben sich inzwischen damit abgefunden, dass ich nicht mit Puppen spiele – blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig. Ich habe ihnen immer wieder gezeigt, dass ich mit dem ganzen Mädchenkram nichts am Hut habe. Ich glaube, sie waren anfangs nicht begeistert und hätten gern ein richtiges Mädchen gehabt, so mit Kleidchen und Rüschen und so. Das mit den Puppen haben sie aufgegeben, nachdem ich meine erste so zugerichtet hatte, dass sie in die Klinik musste, Puppenklinik versteht sich. Die war in der hintersten Ecke im Zimmer unter meinem Bett, sozusagen weit weg als Dauerpflegefall im Ausland. Benni holte sie mal hervor und sah sie sich hingebungsvoll an. Er versuchte, sie zu reparieren bzw. operieren, was ihm auch halbwegs gelang. Fortan saß sie bei ihm und staubte vor sich hin.
Für mich war damit das Problem geklärt. Ich war sie los.
Irgendwie habe ich immer eine Lösung gefunden, auch für die Klamottenfrage.
Das war anfangs gar nicht so einfach, denn meine Eltern versuchten immer wieder, mich zu überzeugen, dieses oder jenes Kleidchen anzuziehen. Ich fand es einfach nur furchtbar und unpraktisch und wehrte mich so gut es eben ging auf meine Weise, denn wie viele Möglichkeiten hat man denn schon in dem Alter, seine Eltern umzustimmen? Aber mit Geduld, Trotz und einer Riesenportion Einfallsreichtum gelang es mir schließlich doch ab und zu.
So erlebte ich folgende Geschichte, als ich etwa vier Jahre alt war:
Wenn ich groß bin …
Ich stand in meinem Schlafanzug im Wohnzimmer, schlug mir die Hände vors Gesicht, zog die Stirn kraus und schob meine Unterlippe nach vorn. Ich war eingeschnappt. Manchmal stampfte ich noch mit dem Fuß auf, was meiner Wut einen dramatischeren Ausdruck verleihen sollte. Heute beließ ich es dabei und verzichtete darauf.
„Eingeschnappte Leberwurst“, neckte mich Papa.
Ich heulte unterstützend laut auf. „Ich bin keine Leberwurst!“
„Na klar, was ist das denn sonst, was ich sehe?“ Papa sah verschmitzt zu mir herüber. Es amüsierte ihn, mich ein wenig zu provozieren.
„Ich will noch nicht schlafen gehen!“, rief ich, nun doch mit dem Fuß aufstampfend.
„Oho, gleich kommen die Hörner heraus“, grinste er.
Ich drehte mich zu meinem Papa und nahm die Hände vom Gesicht. Meine Stirn lag noch immer in Falten.
„Hörner?“, fragte ich ungläubig.
„Ja, pass nur auf, ich kann schon kleine Beulen erkennen.“
Ich griff mir vorsichtig an die Stirn und fühlte suchend.
„Gar nicht, Papa, du willst mich veralbern.“ Ich schaute unsicher zu ihm herauf und strich mir noch immer über die Stirn.
„Gehen die wieder weg?“, fragte ich nun doch verunsichert.
„Wenn man nicht mehr bockig ist und ins Bett geht, wenn Mama und Papa es sagen …“
Ich ging langsam zu meinem Zimmer und überlegte kurz wie ich noch ein paar Minuten herausschlagen konnte.
„Benni darf auch noch aufbleiben“, wendete ich ein.
„Benni, Benni … der ist auch älter als du.“
„Pah, das eine Jahr!“
„Außerdem kommt er auch gleich nach.“
„Papa, dann erzähle mir bitte noch eine Geschichte“, bettelte ich und sah ihn mit großen Augen an. Ich hatte mir das Kopfkissen zurechtgerückt und mich in die Decke eingerollt.
„Aber dann wird geschlafen“, sagte Papa energisch. Er setzte sich zu mir auf die Bettkante, überlegte kurz und begann zu erzählen:
„Es war einmal …“
„Aber keins von Grimms Märchen. Die kenne ich alle schon“, unterbrach ich ihn. „Erzähle doch …“
„Abwarten Biggi, abwarten. Diese Geschichte geht etwas anders und ist nicht von den Gebrüdern Grimm.“ Er schaute mich augenzwinkernd an.
„Also, es war einmal ein Mädchen, das war ungefähr vier Jahre alt. Es hatte einen Bruder, der ein Jahr älter war als sie. Die beiden verstanden sich prima, vor allem dann, wenn es darum ging, gemeinsam etwas auszuhecken. Paula, so hieß das Mädchen, guckte der Schalk schon aus den Augen. Sie war eigentlich nicht das, was man sich unter einem Mädchen vorstellt. Kleider mochte sie nicht und bei ihren Spielsachen hatten Puppen gegen ihre Autos keine Chance. Sie spielte viel lieber mit den Jungen aus der Nachbarschaft Verstecken und Fußball, als sich unter die Mädchen zu mischen. Eigentlich war Paula wie ein Junge. Auch dem Aussehen nach war es schwer, in ihr ein Mädchen wiederzuerkennen.“
Papa beobachtete mich. In meinem Gesicht konnte er lesen, dass ich wusste, wer Paula sein würde. Dennoch sprach er unbeirrt weiter: „Paula und ihr Bruder Tobi sahen sich ähnlich und hätten auch gut Zwillinge sein können. Wahrscheinlich lag es daran, dass Paula immer darauf bestand, das gleiche anzuziehen, was Tobi trug. Dazu kam dann noch, dass beide kurz geschnittene Haare hatten …
Einmal, es war an einem kalten Wintertag, wollte sie ihre Mutter in den Kindergarten bringen. Es musste schnell gehen, denn sie waren schon spät dran.
Während sich Tobi artig die lange Unterhose anzog, saß Paula auf dem Boden und rührte sich nicht. Ihre Mama hatte ihr Strumpfhosen hingelegt, die sie sich anziehen sollte.
Als sie wenig später nach ihnen sah, war Tobi schon fertig angezogen, Paula hingegen saß mit vor der Brust verschränkten Armen da und sah vorwurfsvoll auf die Strumpfhose. ‚Die ziehe ich nicht an’, sagte sie und zeigte angewidert darauf. ‚Ich will auch eine lange Unterhose!’
Sie schlug die Hände vors Gesicht und zog die Stirn kraus. Ihre Unterlippe schob sich nach vorn. Paula war eingeschnappt. Dabei stampfte sie noch mit dem Fuß auf, was ihrer Wut einen stärkeren Ausdruck verlieh.“
Ich setzte mich kurz auf und stemmte entrüstet die Arme in die Seite und fühlte mich ertappt.
„Was ist denn los? Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“, fragte Papa. Ich hob schnippisch die Schultern und kuschelte mich wieder unter die Decke. „Och nee“, meinte ich schnell und bemühte mich unbeteiligt zu tun.
Er erzählte ernst weiter: „Alles Zureden der Mutter half nicht, sodass die Mama schließlich eine Unterhose aus Tobis Schrank holte und sie ihr zum Anziehen gab. Paula war selig, sie hatte erreicht, was sie wollte. ‚Strumpfhosen’, sagte sie ‚tragen doch nur Mädchen. Wenn ich groß bin, werde ich ein Junge und die ziehen Unterhosen an.’ Darauf wollte sie sich schon jetzt vorbereiten.
Dann vergingen viele Wochen und Monate. Dem Winter folgte der Frühling und dem der Sommer.
An einem Sonntag entschlossen sich ihre Eltern dazu, mit ihr und ihrem Bruder einen Spaziergang zu machen. Die Sonne lachte vom Himmel, der sich in einem strahlenden Blau präsentierte.
Paula besah sich im Spiegel, doch mit dem Bild, was sie erblickte, konnte sie sich nicht anfreunden. Ihre Mama hatte ihr ein Rüschenkleid angezogen. Ihre Füße steckten in roten Lackschuhen. Die Söckchen waren weiß und hatten ebenfalls Rüschen. Tobi trug eine kurze Hose und ein Nicki. Neidvoll schaute Paula auf seine Sandaletten. ‚Tauschen wir?’, fragte sie ihn und zeigte auf ihre Lackschuhe. Tobi zeigte ihr einen Vogel. ‚Spinnst du? Ich bin doch ein Junge’, antwortete er entrüstet.
Paula erwiderte darauf: ‚Ich will auch Sandaletten. Wenn ich groß bin, werde ich ein Junge und dann … ’
Tobi kicherte und stolzierte vor ihr her.
Mama und Papa schauten stolz auf ihre beiden Sprösslinge. So herausgeputzt konnten sie sich gemeinsam auf den Sonntagsspaziergang machen. Paulas Mama hatte sogar noch eine Überraschung. Sie schenkte ihrer Tochter passend zu den Schuhen eine rote Lackhandtasche und schaute Paula erwartungsvoll an.“
Ich versteckte mich wie ertappt schnell unter der Bettdecke und lugte langsam wieder hervor. Die Geschichte kam mir doch irgendwie bekannt vor.
Papa atmete seufzend, bevor er fortsetzte: „Eigentlich hatte ihre Mama erwartet, dass sie ihr dafür dankend um den Hals fallen wurde, doch sie erntete eher einen vorwurfsvollen Blick. Paula fügte sich notgedrungen dem Willen ihrer Eltern, obwohl sie sich ganz und gar nicht wohlfühlte. Der asphaltierte Weg führte sie schließlich vom Straßenlärm fort in die Natur. Vorbei ging es an Sträuchern und Hecken, an denen Paula besonders dicht entlang schlenderte und dabei ihre neue Lacktasche an den Zweigen schrammte.
Was konnte sie schließlich dafür, dass die Büsche ihrer Tasche im Weg waren. Sie wich ihnen nicht aus, sondern suchte wie zufällig immer wieder ihre Nähe. Sie mochte die Tasche nicht und zeigte es ihr auf diese Weise deutlich. Am liebsten hätte sie ihr einen Fußtritt gegeben, ja als Fußball wäre sie gerade gut genug.
Wütend stieß sie mit dem Fuß ein kleines Steinchen vor sich her. ‚Scheiß Schuhe!’, fluchte sie leise und trat den Stein erneut voran. Während des ganzen Weges litten so die neuen Lackschuhe unentwegt. Plötzlich klebte das Steinchen auf der Straße im Teer fest, den die Sonne verflüssigt hatte, sodass er stellenweise breiig und klebrig war. Paula stocherte mit der Schuhspitze gegen das Steinchen und versuchte, ihn herauszuschießen. Immer wieder blieb er stecken. Die Schuhspitze war inzwischen klebrig schwarz. Sie streifte sie eifrig an der Straßenkante ab, doch das Zeug wollte einfach nicht abgehen.
‚Wie siehst du denn aus?’, rief ihre Mama entsetzt als sie näher an Paula herantrat. ‚Dein Kleid hat ja hinten lauter Teerspritzer. Das schöne Kleid! Das kriege ich doch nie wieder raus!’ Sie zupfte an Paula herum. ‚Und die Schuhe! Ach Paula!’, rief sie resignierend. Paula schaute sich an und hob schnippisch die Schultern. ‚Dafür kann ich nichts’, sagte sie schnell und popelte an dem Teerfleck herum.
‚Das geht nicht ab’, erwiderte ihre Mama und in ihrer Stimme schwang nun doch ein bisschen Wut mit. Paula wandte sich ihr zu und versuchte zu beschwichtigen, indem sie sie an sich drückte. ‚Es tut mir leid’, sagte sie. Dennoch konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das Kleid und die Schuhe bin ich los, Gott sei Dank, dachte sie bei sich.
Als sie zu Hause ankamen und ihre Mama beim Wegräumen der Sachen auch die Tasche an ihren Platz räumen wollte, bemerkte sie die kleinen und großen Kratzer im Lack. Paula hatte natürlich sofort eine Antwort parat und meinte: ‚Das ist eine doofe Tasche, die nichts aushält und außerdem – wenn ich groß bin, werde ich sowieso ein Junge. Dann brauche ich solche Taschen nicht mehr.’ Ihre Mama schüttelte wortlos den Kopf.“
Papa schaute mich an. Ich grinste zurück.
„Kann es sein, dass ich Paula kenne?“, fragte ich verschmitzt.
Papa sah mich schmunzelnd an, erwiderte jedoch nichts darauf.
„Ihr habt das mit der Tasche also doch mitbekommen?“ Ungläubig wartete ich auf eine Antwort.
„Natürlich, was denkst du denn? Ich hatte Mama ja sogar vorgewarnt, weil ich vorher schon geahnt habe, dass du die Tasche nicht mögen würdest. Ich kenne doch meine Tochter.“ Papa zupfte die Decke zurecht. „Rabauke!“
„Aber das ist doch schon so lange her“, erwiderte ich entrüstet.
„Na ja, so lange nun auch wieder nicht.“
„Was ist denn hier los? Du schläfst ja immer noch nicht.“ Mama schaute zur Tür hinein.
„Papa erzählt mir nur noch eine Geschichte“, erklärte ich schnell und wandte mich ihm wieder zu.
Mama schüttelte den Kopf und zog die Tür wieder zu.
„Wie geht es denn weiter?“, fragte ich ihn interessiert.
„Paula bekam danach keine Handtaschen mehr. Und auch in Sachen Kleidung verstand sie es, ihre Eltern zu überzeugen, dass sie lieber Hosen trug, als Kleider und Röcke. Allerdings musste sie sich auch gefallen lassen, wenn sie von anderen für einen Jungen gehalten wurde. Aber das war ihr im Grunde ja egal. Später musste sie jedoch leider feststellen, dass aus ihrem Ziel, ein Junge zu werden, wohl doch nichts werden würde.“
Papa grinste.
„Ja, ja, ich weiß.“ Ich schaute verlegen zu Papa. „Schade eigentlich, aber nächstes Mal suche ich mir aus, ob ich bei der Geburt ein Mädchen oder Junge sein will.“
„Beim nächsten Mal?“ Verwundert sah er seine Tochter an.
„Na klar, noch nichts von Wiedergeburt gehört?“ Ich lachte. „Kleiner Scherz!“, fügte ich schnell hinzu, als ich die verdutzten Augen meines Papas sah.
„Und wenn der kleine Scherzkeks jetzt nicht schläft, dann fallen mir bestimmt noch ganz andere Geschichten von dieser Paula ein, die nicht so lustig sind.“
Ich hatte verstanden. „Gute Nacht Papa.“ Ich drehte mich zu ihm und sagte: „Die kannst du mir erzählen, wenn ich groß bin.“
„Gute Nacht“, sagte er und ergänzte „oder später dann deinen Kindern. Die werden sich wundern, was für ein Rabauke ihre Mama früher so war.“
Darauf hatte ich keine Antwort mehr. Ich zog die Decke bis unter die Nase und schloss blinzelnd die Augen, bevor sich Papa von der Bettkante erhob und sich leise aus dem Zimmer schlich.
Das mit dem Teerkleid war dann auch schnell vergessen. Und wenn ich mich recht erinnere, habe ich seit dem Tag auch nie wieder ein Kleid angehabt. Mein Lieblingskleidungsstück war zu der Zeit eine Lederhose. Benni hatte auch eine. Ich fand meine natürlich viel schöner. Auf jeden Fall war sie praktischer und nicht so empfindlich wie das Kleid von damals.
Lackschuhe brauchte ich auch nicht mehr anziehen. Das hätte ja auch nicht zu den Hosen gepasst. So wie Benni trug ich chice Sandaletten. Mit denen konnte ich dann super gut Fußball spielen. Auch auf dem Fahrrad war es mit Hosen viel besser. Ich musste nicht ständig aufpassen, dass mir der Wind darunter fährt und die Jungen aus der Nachbarschaft mich deshalb veräppelten.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich nur ungern an die nächste Geschichte:
Ein ganz besonderes Schauspiel
„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe Biggi, happy birthday to you!”, schallte es mir in meinem Zimmer entgegen. Ich rieb mir müde die Augen.
„Willst du denn heute gar nicht aufstehen?“, fragte Mama und steckte den Kopf in mein Zimmer.
„Doch, na klar, ich komme.“ Ich zog mir schnell den Bademantel über und ging ins Wohnzimmer, wo die anderen schon auf mich warteten. Ein leises Surren war zu hören. Auf dem Stativ hatte Papa die Videokamera eingestellt, um meinen Geburtstag per Film zu dokumentieren. Ein kleines rotes Lämpchen zeigte an, dass sie bereits meine Ankunft im Wohnzimmer aufzeichnete.
Mama, Papa und Benni standen hinter der Geburtstagstorte und schauten mich erwartungsvoll an.
„Für jedes Jahr eine Kerze“, sagte Benni „fünf Stück.“
„Toll, da wäre ich allein gar nicht drauf gekommen“, meinte ich und klopfte meinem Bruder auf die Schulter.
„Willst du sie nicht erst mal auspusten und dir was wünschen?“
Mama nickte mir aufmunternd zu.
Ich holte tief Luft und blies alle Kerzen mit einem Mal aus.
„Und, was hast du dir gewünscht?“, fragte Benni neugierig.
„Ich bin ja nicht doof, wenn ich es laut sage, geht mein Wunsch nicht in Erfüllung“, meinte ich wichtig.
„Herzlichen Glückwunsch, meine Kleine.“ Papa nahm mich in den Arm, drückte mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Alles Liebe auch von mir. Mögen deine Wünsche in Erfüllung gehen.“ Mama lächelte mir zu und nahm mich auch in die Arme.
„Hier ist unser Geschenk für dich. Wir hoffen, dass es dir gefällt.“
Sie traten einen Schritt zu Seite und wiesen auf ein großes Paket, das hinter ihnen gestanden hatte.
Ich beäugte es neugierig und begann, es auszupacken. Wenig später wurde der Blick auf den Inhalt des Paketes frei.
„Oh toll, super, ein Fahrrad! Danke Mama, danke Papa!“ Ich drückte sie nacheinander ganz fest.
„Du wirst dich noch nach deinem Roller sehnen“, grinste Benni. Er hatte inzwischen schon ein Mountainbike. Abschätzig blickte er auf meine neue Errungenschaft.
„Hier zu deinem Geburtstag. Das ist von mir und alles Gute auch“, gratulierte er mir. Er wies auf ein kleines Päckchen, das am Fahrradlenker hing.
Ich packte es gespannt auf. „Super, passend eine Hupe.“ Ich wollte Benni umarmen.
„Ist ja schon gut“, sagte der.
„Danke, Benni“, erwiderte ich und reichte ihm die Hand.
Benni mochte seine Schwester. Für ihre stürmische Art konnte er sich jedoch nicht begeistern.
„Okay, Schwesterlein“, meinte er und reichte mir die Hand.
Ich konnte es gar nicht erwarten, mein Fahrrad auszuprobieren.
„Nun setzt euch alle erst mal und lasst uns vom Geburtstagskuchen essen.“ Mama ging in die Küche und holte den Kaffee.
Ich nahm den Tortenheber und legte jedem ein Stück vom Geburtstagskuchen auf den Teller. „Guten Appetit“, sagte ich und genoss es, im Mittelpunkt zu stehen.
„Aber nachher will ich mir das Fahrrad noch genauer ansehen“, sagte ich kauend zwischen zwei Happen, „und die Hupe testen.“
„Na klar, nicht nur ansehen. Ausprobieren. Ich nehme auch die Kamera mit“, sagte Papa mit bedeutungsvollem Ausdruck in der Stimme. Dann schob auch er sich ein Stückchen von dem Kuchen in den Mund.
Ich schob mein neues Fahrrad stolz neben mir her und drückte den kleinen Hebel der Klingel. Pling, plong, machte es und gleich noch einmal, pling, plong. Ich sah zu Papa und grinste ihm zu. Er erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln, obwohl er ahnte, dass sich die heitere Stimmung schon bald ändern würde.
„Tuuut, tuuut“, machte es, als ich den Gummiknauf der Hupe zusammendrückte. Ich war begeistert.
„Wohin gehen wir denn eigentlich?“, fragte ich ungeduldig.
„Es ist nicht weit, gleich da vorn.“ Papa wies mit der Hand zum Parkplatz, der sich hinter unsrem Wohnblock befand.
„Was da? Da sind ja lauter Löcher drin und die rote Schlacke, eklig!“, mäkelte ich.
„Es wird schon gehen.“
Meine Schritte wurden langsamer. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es kein Zurück mehr geben würde.
„So, dann steig mal auf!“, forderte er mich auf. Er stellte die Kamera ein und schaute prüfend durch den Sucher.
„Was ich?“, fragte ich ungläubig.
„Na klar du, wer denn sonst. Ich kann schon Fahrrad fahren.“
Er schwenkte zur Probe einmal mit der Kamera von rechts nach links und wieder zurück.
„Papa, willst du es mir nicht erst mal zeigen?“ Ich sah den filmischen Vorbereitungen, die Papa durchführte, skeptisch zu.
„Komm schon. Drücken gilt nicht. Je eher ran, desto eher davon.“
Noch konnte ich mich zieren. „Aber ich kann das doch gar nicht.“
„Deshalb sind wir hier. Du sollst es lernen.“ Papa drückte die Aufnahmetaste.
Ich griff den Lenker fester an und ging einen Schritt vorwärts, bis sich das rechte Pedal nach oben mitgedreht hatte. Vorsichtig setzte ich den Fuß darauf und stieß mich ein wenig ab. Das Pedal war nun unten und ich bremste vor Schreck mit dem linken Fuß auf der Erde ab.
„Ich kann das nicht!“, rief ich Papa mürrisch zu.
Er stellte die Kamera aus und kam mir entgegen.
„Der Anfang war schon mal nicht schlecht“, ermunterte er mich. „Ich werde dich anschieben. Du brauchst nur zu lenken. Vorher muss ich aber die Kamera noch auf das Stativ stellen, sodass sie alles aufnehmen kann.“ Er justierte sie ein und drückte wieder den Aufnahmeknopf. „So es kann losgehen.“
Wieder schob ich mein Rad in die Ausgangsposition und stellte meinen rechten Fuß auf das Pedal. „Okay Papa, ich bin soweit.“
Er griff an den Gepäckträger und schob das Rad an. „Stoß dich ab und setz dich auf den Sattel!“, rief er hinter mir herlaufend, noch immer das Rad von hinten schiebend.
Ich holte Schwung und saß auf dem Sattel. Die Füße hielt ich unsicher auf den Pedalen. Ab und zu rutschte ich ab und trat ins Leere.
„Der Sattel ist zu hoch!“, warf ich noch ein, doch dann rollte ich los.
„Du musst mittreten!“, hörte ich es hinter mir keuchen. „Ich lass jetzt los.“
„Nein, Papa, nicht loslassen!“ Ich wollte mich zu ihm umdrehen, als ich beinahe die Kontrolle verlor und einen Schlenker machte.
„Schau nach vorn und tritt die Pedalen durch. Und das Lenken nicht vergessen!“
Unsicher fuhr ich in Schlangenlinien. Die Schlaglöcher, denen ich ausweichen wollte, erschwerten meine ersten Fahrversuche.
Papa sah mir hinterher und fragte sich zweifelnd, ob ich es schaffen würde, das Gleichgewicht zu halten. Schnell ging er zur Kamera und kontrollierte die Einstellungen.
Ich hielt krampfhaft den Lenker fest und versuchte unsicher, in der Spur zu bleiben.
„Treten! Vergiss das Treten nicht!“, rief er mir aufmunternd zu und nahm die Kamera zum Filmen wieder in die Hand.
„Ich will nicht mehr!“, schrie ich ihm zu. „Hilfe, ich will nicht mehr! Papaaaaa!“
„Immer weiter treten. Es kann gar nichts passieren.“ Langsam folgte er mir im Sucher.
„Ich will hier runter, Papa!“
Wut stieg in mir auf. Worauf hatte ich mich nur eingelassen. Ich schaute auf die Pedalen. Das schlimmste daran ist, dass Papa alles filmt, dachte ich bei mir.
„Den Kopf nach oben und lenken, Biggi, lenken!“ Er hielt die Kamera in meine Richtung und blickte, während der Aufnahme außen vorbei.
Ich guckte kurz nach oben und fuhr eine große Kurve.
„Na also, es geht doch“, sprach er vor sich her und schaute wieder in den Sucher.
„Papa, lass mich hier runter. Ich will nicht mehr, Papaaa!“, brüllte ich wütend.
„Willst du die ganze Stadt auf dich aufmerksam machen?“, fragte er als ich an ihm vorbeifuhr.
„Das ist mir egal und außerdem ist doch niemand hier“, erwiderte ich noch immer voller Rage.
„Noch nicht, aber wenn du so weitermachst …“, Papa überlegte schnell wie er den Satz zu Ende bringen konnte, „ … dann, dann werden sie gleich alle aus den Fenstern schauen.“
„Hilfeeeeee!“ Mein Schrei ging ihm durch Mark und Bein.
„Nun mach doch nicht so ein Theater“, versuchte er mich zu beruhigen und schaute sich peinlich berührt um.
Inzwischen sahen einige Nachbarn aus dem Fenster. Sie waren durch die lauten Rufe aufmerksam geworden und wollten nachsehen, was vor ihrem Haus vor sich ging.
Papa machte eine Handbewegung, die so viel bedeuten sollte, dass alles in Ordnung sei.
„Es ist meine Tochter. Sie lernt Fahrradfahren“, fügte er hinzu und wandte sich mir wieder zu, während ich unentwegt laut schreiend meine Runden drehte.
„Was du nur hast, es klappt doch prima“, rief er mir zu, als ich wieder an ihm vorbei fuhr.
„Paaapaaa! Ich will nicht mehr. Maaamaaa, hilf mir doch!“
Die Nachbarn beobachteten zum Teil kopfschüttelnd das Treiben auf dem Parkplatz vor ihrem Haus. Andere schauten mitleidig, während wieder andere vor sich her schmunzelten.
„Na los ein paar Runden noch. Das machst du sehr gut“, ermunterte mich Papa, als ich an ihm vorbeikam.
„Wie komme ich denn hier runter? Ich will nicht mehr. Papaaa!“
Er amüsierte sich, ließ mich aber keinen Augenblick unbeobachtet.
„Paapaa, bitte, ich will anhalten!“
Mein Gesicht war puterrot. Die Tränen rollten mir über die Wangen. Schließlich entschloss er sich nun doch, das Treiben zu beenden. Er schaltete die Kamera aus, hing sie sich über die Schulter und griff nach dem Rad. Ich spürte einen kleinen Ruck und ließ mich zur Seite direkt in Papas Arme fallen. Ich schluchzte unaufhörlich, stieß das Rad unsanft von mir und machte mich wutentbrannt auf den Heimweg. Das Fahrrad war mir egal, Papa war mir egal, die Nachbarn waren mir egal – alles war mir egal. Nur eines dachte ich: Hoffentlich hatten das alles meine Freunde nicht mitbekommen. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Ich wollte nur schnell nach Hause. Papa hob das Rad auf und folgte mir schmunzelnd.
„Scheiß Fahrrad“, fluchte ich leise und wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht.
„Na, hat es mit dem Fahren geklappt?“, fragte Herr Burgner interessiert, als er mir entgegen kam.
Ich schaute kurz zu ihm auf und winkte resigniert ab, antwortete aber nicht.
Herr Burgner wohnte bei uns im Aufgang. Ob er mich wohl beobachtet hatte, dachte ich noch ungläubig und sah, wie er mir zuzwinkerte. Ja, er hatte mich bei meinen Fahrversuchen gesehen.
„Mach dir nichts draus“, kam es tröstend zurück „Uwe hat sich auch nicht besser angestellt und heute fährt er wie ein Radrenner. Da muss ich ihn bremsen.“
Uwe war der Sohn von Herrn Burgner und zwei Jahre älter als ich. Was aber viel schlimmer war, er war einer meiner Freunde und würde von alledem erfahren.
„Ich will gar nicht fahren. Fahrradfahren ist doof.“
„Na, na, das wird schon wieder“, meinte er aufmunternd, bevor er seinen Weg fortsetzte.
Kurz darauf traf er auf Papa, der mein Fahrrad neben sich her schob.
„Tja, das sind die Sorgen der Väter“, meinte Herr Burgner und schmunzelte.
„Wenn sie sich erst beruhigt hat, versuchen wir es noch mal“, erwiderte er daraufhin. „Bei unserem Sohn hat es ja auch geklappt.“
Herr Burgner nickte. „Auf jeden Fall hat eure Tochter eine kräftige Stimme. Und die Vorstellung heute war bühnenreif. Vielleicht solltet ihr damit auftreten?!“
„Ach, besser nicht“, schüttelte Papa den Kopf, bevor er einen Moment überlegte und schmunzelnd hinzufügte: „Obwohl – der Film ist im Kasten. Ich habe ihren Auftritt mit der Videokamera festgehalten. Eigentlich sollte es eine schöne Erinnerung an ihren Geburtstag werden. Nun ist es wohl eher ein Beweisstück, sonst glaubt sie uns das Schauspiel in zehn Jahren nicht mehr. Ich bin gespannt, was sie dann dazu sagen wird.“
Er wies auf die Kamera.
Herr Burgner nickte zustimmend. „Unser Uwe war nicht ganz so massenwirksam, aber anstrengend war es auch – für ihn und für mich.“
Die Männer verabschiedeten sich und Papa beeilte sich, mir zu folgen.
„Na, hast du schon genug?“, fragte mich Benni ironisch.
„Ich will meinen Roller wiederhaben.“ Ich baute mich vor Mama auf. „Papa hat alles gefilmt“, sagte ich vorwurfsvoll und suchte bei ihr nach Trost.
„Das ist doch nicht schlimm. Jeder fängt mal klein an“, meinte sie besänftigend und strich mir über den Kopf.
Tasuta katkend on lõppenud.