Loe raamatut: «Engel und Teufel»
Engel und Teufel
Anna Katharine Green
Inhaltsverzeichnis
01. Ein Mord.
02. Im Dunkel der Nacht.
03. Die leere Schublade.
04. Die volle Schublade.
05. Eine Spur im Grase.
06. „Frühstück ist serviert, meine Herren!“.
07. „Heirate mich!“.
08. Ein Teufel.
09. Ein Engel.
10. Detektiv Knapp kommt an.
11. Der Mann mit dem Bart.
12. Wattles kommt.
13. Wattles geht.
14. Die letzte Versuchung.
15. Ein Besuch bei Zabels.
16. Lokales Talent bei der Arbeit.
17. Ballschuhe, eine Blume und was Sweetwater daraus folgerte.
18. Wichtige Fragen.
19. Armer Philemon!
20. Eine Überraschung für Mr. Sutherland.
21. Sweetwater überlegt.
22. Sweetwater handelt.
23. Ein verdächtiges Paar.
24. Im Schatten des Mastes.
25. In höchster Not.
26. Ein Paket.
27. Ein Stückchen Papier und drei Worte.
28 „Wer bist Du?“
29. Wieder daheim.
30. Was dem Glockenschlag zwölf folgte.
31. Ein stummer Zeuge.
32. Weshalb man Agatha Webb in Sutherlandtown nie vergessen wird.
33. Vater und Sohn.
34. „Nicht, wenn diese junge Damen sind“.
35. Sweetwater trägt endlich seine Schuld an Mr. Sutherland ab.
Impressum
01. Ein Mord.
Der Tanz war vorüber. Die Gäste des großen Hauses auf dem Hügel hatten sich schon entfernt; nur die Musiker waren noch da. Als diese durch die weite Türe ins Freie traten, dämmerte im Osten der neue Tag.
„Seht nur“, rief einer der Musiker, ein magerer, aufgeschossener junger Mann mit blassen Zügen und großen, ausdrucksvollen Augen, „dort wird es schon Tag. Das war eine vergnügte Nacht für Sutherlandtown.“
„Fast zu vergnügt“, murmelte ein anderer. Kaum hatte er beendet, als ein junger Mann schnell aus dem Hause lief und an den Musikern vorbei eilte.
Der Sprecher trat zur Seite.
„Wer war das?“, rief er.
Inzwischen war der junge Mann aus dem Tore gelaufen und in dem Wald, auf der anderen Seite der Straße, verschwunden.
„Mr. Frederick! Mr. Frederick Sutherland!“, riefen alle, wie aus einem Munde. „Der scheint es ja höllisch eilig zu haben!“
„Mir hat er fast die Zehen abgetreten.“
„Habt Ihr gehört, was er im Vorbeilaufen sagte?“
„Nein. Was war es?“
„Ich hab wohl was gehört, hab es aber nicht verstanden.“
„Ich glaube, er hat auch nicht zu Dir gesprochen - nebenbei bemerkt: zu mir auch nicht. Doch ich hab Ohren, ich kann fast hören, wenn Ihr mit den Augenlidern winkt.“
Er sagte: „Gott sei Dank, dass diese Schreckensnacht vorüber ist!“
„Denkt Euch, solch herrlicher Ball, ein so prächtiges Mahl und das nennt er „Schreckensnacht“ und dankt Gott, dass sie vorüber ist.“
„Ich glaubte immer, er wäre gerade einer von denen, denen es nie toll genug hergehen könnte.“
„Das dachte ich auch!“
„Ich auch!“
Die fünf Musiker steckten die Köpfe zusammen.
„Wahrscheinlich hat er mit seinem Schatz Streit gehabt“, bemerkte der eine.
„Das wundert mich nicht“, sagte ein anderer. „Ich glaube überhaupt nicht, dass die Beiden mal heiraten werden.“
„Wär auch eine Schande, wenn sie es täten“, rief der magere junge Mann, der zuerst gesprochen. Da der junge Mann, über den die Musiker sprachen, der Sohn des Hauses war, aus dem sie eben gekommen waren, dämpften sie ihre Stimmen.
Doch das Interesse war erregt und flüsternd sprachen sie weiter.
„Ich habe ihn bemerkt“, sagte .ein anderer, der bis jetzt still zugehört hatte, „als er mit Miss Page zum ersten Tanz antrat und auch, als er in der letzten Quadrille ihr gegenüber tanzte und ich kann Euch sagen: es war ein großer Unterschied in seinem Benehmen gegen Miss Page in seinem ersten und dem letzten Tanz.
Man hätte kaum glauben sollen, dass er derselbe Mann war. Junge Leute, wie Mr. Frederick, lassen sich nicht durch schöne Grübchen allein fangen; die wollen auch Bargeld haben.“
„Oder wenigstens ein Mädchen aus feiner Familie. Sie hat keines von beiden. Aber wie schön sie ist! Ich kenne manche reiche und vornehme junge Leute, die froh wären, sie zu nehmen, wie sie ist“
„Schön!“ rief der magere Musiker und rümpfte die Nase, „ich möchte wissen, wo sie schön ist? Im Gegenteil: ich finde, sie hat ein sehr alltägliches Gesicht.“
„Oho!“ riefen die anderen, protestierend und der Violinenspieler fügte hinzu:
„Weshalb reißen sich dann alle jungen Leute um sie?“
„Sie hat keinen einzigen regelmäßigen Zug im Gesicht!“
„Was hat das mit dem Eindruck zu tun, den ihre Person macht?“
„Ich kann sie nicht leiden!“
Ein Gelächter folgte diesen Worten.
„Das wird sie wohl ungeheuer grämen, Sweetwater. Der junge Mr. Sutherland kann sie umso besser leiden und daran ist ihr jedenfalls mehr gelegen. Und ich behaupte, er wird sie auch heiraten! Er kann gar nicht anders. Sie ist imstande, den Teufel zu verhexen, dass er sie heirate, wenn sie es sich in den Kopf setzte, ihn zum Mann zu haben.“
„Der würde jedenfalls besser zu ihr passen“, brummte Sweetwater. „Was indes Mr. Frederick betrifft -.“
„Ssssst! Es kommt jemand aus dem Haus, - das ist sie!“
Alle schauten nach der Haustüre, unter der eine graziöse, weiß gekleidete Figur erschienen war, die nach der Stelle schaute, wo die Musiker standen.
Hinter ihr brannten noch die Lichter in der Halle und scharf hob sich ihre reizende Gestalt von dem hellen Hintergrunde ab.
„Wer ist dort?“ fragte sie im flüsternden Tone.
Die Frage blieb unbeantwortet, denn im selben Augenblicke wurden eilige Schritte vernehmbar und laute, unverständliche Rufe drangen herauf zum Hügel.
Immer näher kamen die Schreier. Die Musiker gingen zurück, dem Hause zu, einer derselben sogar bis zur Türe, wo noch immer die weiße Gestalt stand.
„Mord! Mord!“ klang es nun deutlich in aller Ohren.
Kaum hatte die junge Dame dies gehört, als sie schnell die Türe schloss und sich zurückzog, zum großen Erstaunen des Musikers, der wusste, dass sie die neugierigste junge Dame im ganzen Städtchen war.
„Mord! Mord!“
Ein schrecklicher und in diesem gottesfürchtigen Städtchen nie zuvor gehörter Schrei. Immer mehr Menschen kamen den Hügel herauf.
„Mrs. Webb ist ermordet worden! Mit einem Messer! Erstochen! Wo ist Mr. Sutherland?“
Mrs. Webb! Als die Musiker den Namen dieser allseitig geliebten und verehrten Frau hörten, fuhren sie zusammen! Unmöglich!
Mrs. Webb! Unglaublich! Sie gingen zum Hause zurück und riefen nach Mr. Sutherland.
„Es kann nicht sein! Nicht Mrs. Webb! Wer wäre so verrucht oder herzlos, sie zu ermorden?!“
„Das weiß Gott allein“, rief eine Stimme von der Straße her. „Aber dass sie tot ist, haben wir gesehen.“
„Dann hat es ihr Mann getan“, rief einer. „Ich hab schon immer gesagt, dass er eines Tages seinen besten Freund umbringt. Ein Mensch, wie der, gehört ins Narrenhaus und nicht -.“
Das Übrige verlor sich in unverständlichem Gemurmel. Eine Hand hatte sich dem Sprecher auf den Mund gelegt, in demselben Augenblicke, als Mr. Sutherland auf der Veranda erschien.
Der dort stand, war ein schöner Mann, mit ausdrucksvollen Zügen, aus denen Freundlichkeit und Würde gleich mächtig sprachen. Kein Mann in weitem Umkreise - ich hätte fast gesagt: keine Frau - ward mehr geliebt und mehr geachtet, als er.
Nur auf einen Menschen vermochte er keinen Einfluss auszuüben - was jedermann weit und breit wusste - auf seinen einzigen Sohn Frederick.
Schmerz und Bestürzung lagen auf des Mannes Zügen.
„Was schreit Ihr da?“ fragte er. „Agatha Webb? Ist Agatha Webb etwas zugestoßen?“
„Sie ward ermordet!“ riefen mehrere Stimmen zugleich. „Wir kommen eben von ihrem Haus. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Man sagt, ihr Mann habe es getan.“
„Nein, nein!“ sagte Mr. Sutherland, mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden. Philemon Webb mag sich vielleicht selbst umbringen, aber nicht Agatha.“
„Es war ihr Geld -.“
Er richtete sich auf und rief den Erregten zu:
„Wartet! Ich gehe mit Euch!“
„Wo ist Frederick?“ fragte er die Diener, die ihn umstanden.
Niemand wusste es.
„Bringt ihn hierher. Er soll mit mir in die Stadt gehen.“
„Er ist dort drüben im Wald“, rief eine Stimme von der Straße her.
„Im Wald?“ wiederholte der Vater, aufs höchste erstaunt.
„Jawohl. Wir haben ihn hingehen sehen. Sollen wir ihn rufen?“
„Nein, danke. Ich kann schon ohne ihn fertig werden.“
Dann ergriff er seinen Hut und wollte eben gehen, als sich eine Hand auf seinen Arm legte und eine wohlbekannte Stimme ihm zuflüsterte:
„Darf ich mitgehen? Ich werde Ihnen nicht beschwerlich fallen.“
Es war die junge Dame, die wir vorhin beobachtet hatten. Der alte Mann zog die Stirn in Falten und antwortete ernst:
„Eine Mordstätte ist kein Platz für junge Damen.“
Die so Angeredete blieb unbewegt.
„Ich denke, ich gehe doch“, sagte sie. „Ich kann mich ganz unbemerkt unter die Leute mischen.“
Er antwortete nicht mehr. Miss Page war zwar eine Angestellte in seinem Hause und wurde für ihre Leistungen bezahlt, doch seit langem versuchte niemand, ihr zu widersprechen.
Sie hatte seit ihrem ersten Erscheinen unter der Türe das weiße Ballkleid mit einem einfachen, dunkleren vertauscht und schloss sich so dem alten Herrn an, der wortlos der Menge folgte.
Nach und nach verließen auch die Dienstboten das Haus, als letzter Jerry, der die Lichter ausblies und, nachdem er die Fronttüre geschlossen hatte, sich den Neugierigen anschloss.
Den Nebeneingang aber hatte er offen stehen lassen und durch diesen trat, sobald die Tritte der Fortgehenden in der Ferne verhallt waren, ein bleicher junger Mann: es war Sweetwater, der Musiker, der die Schönheit Miss Pages in Frage gestellt hatte.
02. Im Dunkel der Nacht.
Sutherlandtown ist eine kleine Hafenstadt, die aus nur einer Hauptstraße und, davon abzweigend, vielen Nebenstraßen besteht. Die Hauptstraße zieht sich geradeswegs vom Hügel bis zur Werft.
Oben, an der Ecke der „Hillside Lane“ steht das Webb-Haus, dessen Vordereingang nach der Hauptstraße zu liegt. Das Haus war leicht zu finden; war es doch das einzige, in dem noch Licht brannte, ganz abgesehen von den Gruppen aufgeregter Menschen, die es umstanden. Als Mr. Sutherland ankam, grüßte ihn ein beifälliges Gemurmel. Die Menge trat zur Seite und gab den Eingang des Hauses frei.
Eben wollte er eintreten, als ihn jemand am Arme zupfte und sagte:
„Schauen Sie in die Höhe!“
Er tat so und sah den leblosen Körper einer Frau halb aus dem Fenster des zweiten Stockes hängen.
„Wer ist das?“ rief er. „Das ist nicht Agatha Webb!“
„Nein, das ist Batsy, die Köchin. Sie ist auch tot. Wir ließen sie so liegen, wie wir sie fanden, bis der Untersuchungsrichter hier ist.“
„Das ist schrecklich!“ murmelte Mr. Sutherland.
Wie er so sprach, fühlte er sich wieder am Arm berührt. Er schaute sich um und bemerkte die Gestalt einer jungen Dame.
Ehe er sie indes anreden konnte, war sie schon zwischen der Menge verschwunden. Es war Miss Page.
„Der Körper, der aus dem Fenster hängt, zog zuerst die Aufmerksamkeit auf das Haus“, sagte ein Mann, der am Haupteingang des Hauses stand und die Menge zurückhielt.
„Die Frauen der Matrosen, die heute früh ausfuhren, bemerkten, als sie von der Werft zurückkamen, die Tote und schlugen Alarm. Hätten die sie nicht bemerkt, wüssten wir vielleicht jetzt noch nicht, was passiert ist.“
„Aber Mrs. Webb?“
„Treten Sie ein und sehen Sie selbst.“
Hinter einem Holzzaune, umgeben von einem Gärtchen, lag das kleine Haus, in dem sich das schrecklichste Drama abgespielt, das Sutherlandtown je gesehen.
In diesem Holzzaune befand sich ein Tor, durch das nunmehr Mr. Sutherland schritt, begleitet von Miss Page, die sich ihm unbemerkt angeschlossen hatte.
Ein Gartenweg, auf beiden Seiten von Flieder umsäumt, führte zu der, jetzt offen stehenden Türe des kleinen Hauses, aus der ihm Amos Fenton, der Polizist des Städtchens, entgegen trat.
„Ah, Mr. Sutherland“, sagte er, „ein trauriger Fall, ein sehr trauriger Fall. Doch - wer ist die junge Dame bei Ihnen?“
„Das ist Miss Page“, entgegnete Mr. Sutherland, sich umschauend und die Stirn in Falten ziehend, „die Nichte meiner Haushälterin. Sie wollte absolut mitkommen. Neugierde natürlich. Gegen meinen Willen.“
„Miss Page muss unten bleiben. Wir gestatten Niemanden Zutritt - außer Ihnen natürlich“, setzte er respektvoll hinzu, eingedenk der Tatsache, dass in Sutherlandtown nichts ohne Mr. Sutherland unternommen wurde.
Miss Page, die schön erschien wie die Morgensonne und frisch wie das junge Gras im Gärtchen, warf dem alten Polizisten bittende Blicke zu, die diesen veranlassten, sein stachliges Kinn zu streichen; doch seinen Befehl änderte er nicht.
Als sie bemerkte, dass er sich nicht erweichen ließ, trat sie, liebenswürdig lächelnd, zur Seite, hinter Büsche, die sie den übrigen Neugierigen verbarg.
Mr. Sutherland trat ins Haus. Er kam in einen schmalen Gang, aus dessen linker Seite eine offene Tür zu sehen war, während hinten eine Treppe nach oben führte.
Unter der erwähnten offenen Türe stand ein Mann, der den Angekommenen höflich grüßte. Mr. Sutherland ging still an ihm vorüber und trat in das nächste Zimmer, woselbst an einem, mit Speisen bedeckten Tische, Philemon Webb saß, der Herr des Hauses.
Erstaunt, seinen alten Freund in diesem Zimmer und in solch auffallender Stellung zu finden, wollte er diesen eben ansprechen, als Mr. Fenton dazwischen trat.
„Einen Augenblick, bitte! Betrachten Sie den armen Philemon erst näher, ehe Sie ihn stören. Als wir vor etwa einer halben Stunde ins Haus traten, fanden wir ihn ganz in derselben Stellung und, aus begreiflichen Gründen, ließen wir ihn unbelästigt. Beobachten Sie ihn genau, Mr. Sutherland; er wird es nicht merken“
„Was fehlt ihm? Weshalb lehnt er sich so gegen den Tisch? Ist er auch verwundet?“
„Nein. Sehen Sie seine Augen an.“
Mr. Sutherland beugte sich nieder, bog die langen, weißen Locken zurück und rief erregt:
„Die Augen sind geschlossen! Er ist doch nicht tot?“
„Nein, er schläft.“
„Ja. Er schlief, als wir herein kamen und schläft noch. Die Nachbarn wollten ihn aufwecken, doch gab ich das nicht zu. Sein Gehirn würde den plötzlichen Schreck nicht aushalten“
„Nein, nein! Armer Philemon! Dass er schlafen kann, während sie -. Doch was sollen diese Flaschen hier bedeuten und der gedeckte Tisch, in einem Zimmer, in dem sie sonst nie zu essen pflegten?“
„Das wissen wir nicht. Wie Sie sehen, wurden die Speisen hier nicht berührt. Er trank ein Glas Portwein, das war alles. In den anderen Gläsern war kein Wein“
„Stühle für drei und nur einer besetzt“, murmelte Mr. Sutherland.
„Sonderbar! Sollte er Gäste erwartet haben?“
"Es scheint so. Ich wusste nicht, dass seine Frau dies erlaubt hat. Sie war immer zu gut gegen ihn und ich fürchte, sie hat diese Güte mit ihrem Leben bezahlt.“
„Unsinn! Er hat sie nicht getötet! Hätte er sie nicht geradezu abgöttisch verehrt - was er tatsächlich tat - so hätte er doch, selbst in seinen dunkelsten Augen blicken, nie Hand an sie gelegt!“
„Ich traue keinem Geisteskranken“, entgegnete der andere.
„Sie haben noch nicht alles gesehen, was merkwürdig ist in diesem Zimmer.“
Mrs. Sutherland blickte schnell umher. Außer dem Tisch und was darauf stand, konnte er nichts Auffallendes bemerken. Er schaute daher wieder auf Philemon Webb.
„Ich sehe nichts - außer dem armen Schläfer hier.“
„Betrachten Sie seinen Ärmel.“
Schnell beugte sich Mr. Sutherland nieder. Der Arm des alten Mannes lag auf dem Tische; am Ärmel der blauen Jacke konnte man deutliche Flecken sehen, die zwar von Rotwein herstammen konnten, die aber in Wirklichkeit - Blut waren.
Als. Mr. Sutherland diese Gewissheit erlangt, erblasste er und schaute fragend auf den Mann neben ihm, der ihn aufmerksam betrachtete.
„Schlimm!“ sagte er. „Noch andere Blutspuren hier unten?“
„Nein, dies sind die einzigen.“
„O, Philemon!“ entfuhr es Mr. Sutherland schmerzlich.
Dann betrachtete er wieder seinen alten Freund und setzte langsam hinzu:
„Er befand sich offenbar in dem Zimmer, in dem seine Frau getötet ward, doch glaube ich nicht, dass er weiß, was dort geschah, sonst würde er hier nicht so ruhig schlafen. Lassen Sie uns nach oben gehen!“
Fenton nickte seinem Untergebenen zu, aufzupassen und wandte sich sodann zur Treppe, wohin ihm Mr. Sutherland folgte. Sie gingen direkt durch den oberen Gang nach dem großen Vorderzimmer, das der Schauplatz des Dramas war.
Ein einfacher Teppich bedeckte den Fußboden, alte, anspruchslose Möbel standen an den Wänden. Auf einem altmodischen Sofa lag die tote Herrin des Hauses.
Obwohl sie einen gewaltsamen Tod gefunden, ging von ihrer Gestalt und ihren Zügen - beide von seltenem Ebenmaß - eine solche Ruhe aus, dass Mr. Sutherland, der an ihre vornehme Erscheinung und ihre majestätische Würde gewohnt war, erstaunt ausrief:
„Ermordet?! Sie?! Sie irren, mein Herr! Sehen Sie ihr Gesicht an!“
Doch da fiel sein Blick auf das Blut, das an ihrem Kleide klebte und er fragte schauernd:
„Wo ward sie getroffen? Wo ist die Waffe?“
„Sie ward offenbar getroffen, während sie an diesem Tische stand oder saß“, entgegnete Fenton und deutete auf zwei oder drei Tropfen Blut, die auf der polierten Tischplatte zu sehen waren.
„Die Waffe konnten wir nicht finden, doch zeigt die Wunde, dass es ein dreischneidiger Dolch gewesen sein muss.“
„Ein dreischneidiger Dolch?“
„Jawohl.“
„Ich wusste nicht, dass ein solcher sich in der Stadt befand. Philemon kann unmöglich einen solchen Dolch gehabt haben.“
„Scheinbar nicht; doch man kann nie sicher sein. Solch alte Häuser, wie dieses, enthalten oft die merkwürdigsten Artikel.“
„Ich glaube kaum, dass je ein solcher Dolch in diesem Hause war“, erklärte Mr. Sutherland. „Wo fanden Sie Mrs. Webb, als Sie ins Haus kamen?“
„An derselben Stelle, wo Sie sie jetzt sehen. Es ward nichts im Zimmer berührt oder von der Stelle bewegt.“
„Sie fanden sie hier, auf diesem Sofa, in derselben Lage, wie ich sie jetzt sehe?“
„Gewiss.“
„Das ist kaum glaublich! Sehen Sie, wie sie daliegt, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen, gerade als ob sie zur Beerdigung getragen werden sollte - nur liebende Hände können dies getan haben! Was hat dies zu bedeuten?“
„Das deutet auf Philemon, klar und deutlich.“
Mr. Sutherland erschauerte, doch er sagte nichts. Er war starr, diesen Beweisen des Werkes eines Geistesschwachen gegenüber. Philemon Webb schien stets so harmlos, vollkommen harmlos, obwohl sein Geist sich seit zehn Jahren immer mehr umnachtete.
„Aber“, fuhr Mr. Sutherland plötzlich auf, „es ist noch ein anderes Opfer im Hause! Ich sah die alte Batsy aus dem Fenster hängen, tot!“
„Ja, sie ist im nächsten Zimmer. Es ist aber keine Wunde an Batsy zu finden.“
„Wie ward sie dann getötet?“
„Das müssen uns die Doktoren sagen.“
Mr. Sutherland ging mit Fenton in das kleine, anstoßende Zimmer und sah auf den ersten Blick die leblose Gestalt der alten Batsy aus dem Fenster hängen, wie er sie schon von der Straße aus bemerkt hatte.
Dass sie tot war, unterlag keinem Zweifel. Doch, wie Fenton gesagt hatte, es war keine Wunde an ihr zu finden, keine Blutspur, nichts, das auf die Art und Weise ihres Todes hätte hinweisen können.
„Das ist schrecklich!“ jammerte Mr. Sutherland, „das schrecklichste, was ich je gesehen habe! Helfen Sie mir, den Leichnam hereinzubringen. Sie lag lange genug zur Schau der Neugierigen aus dem Fenster.“
Es befand sich ein Bett in diesem Zimmer - in der Tat war es Mrs. Webbs Schlafzimmer - und auf dieses legten sie die Tote. Als ihr Gesicht zu sehen war, schauten sich die beiden Männer erstaunt an: der Ausdruck von Schreck und Angst, den sie hier sahen, stand in auffallendem Gegensatz zu der Ruhe und Majestät, die auf den Zügen der toten Herrin lagen!