Loe raamatut: «Das Tagebuch der Anne Frank»

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Anne Franks Tagebuch

1942

1943

1944

Das Ende

Zur Frage des Urheberrechts an Anne Franks Tagebuch

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Hätte Anne Frank die Nazizeit überlebt, wäre wahrscheinlich eine große Schriftstellerin aus ihr geworden. In ihrem Tagebucheintrag vom 5. April 1944 schreibt sie: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir mit meiner Geburt schon einen Weg mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist. Durch Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer vergeht, mein Mut kommt zurück.« – Leider war es Anne nicht vergönnt, ihren Weg als Schriftstellerin durchs Leben zu gehen. Aber dieser Satz: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« – er hätte sich nicht eindrucksvoller bewahrheiten können.

Die Zeit im ›Hinterhaus‹, im Versteck der dort verborgenen Juden, dauerte von 6. Juli 1942 bis zum 4. August 1944 – etwas mehr als zwei Jahre. Anne schrieb hier ihr berühmtes Tagebuch, und auf losen Blättern belletristische Kurzgeschichten und Textentwürfe, die nach der Verhaftung der Versteckten von Hermine ›Miep‹ Gies1, einer früheren Mitarbeiterin von Annes Vater Otto Frank im Hinterhaus aufgesammelt und verwahrt wurden. Anne Franks Tagebuch und ihre ›Erzählungen aus dem Hinterhaus‹ gelten heute als bedeutendste schriftliche Zeugnisse aus der Zeit der Nazi-Diktatur.

*

Am 12. Juni 1942 – kurz vor dem ›Untertauchen‹ mit ihrer Familie im Hinterhaus des Handelsbetriebes Opekta, dessen Leiter ihr Vater Otto zuvor gewesen war, beginnt Anne, ihr Tagebuch zu schreiben, zunächst ganz privat und für sich alleine.

Aber im Frühjahr 1944 – sie waren nun schon fast eineinhalb Jahre im Versteck – hört Anne im englischen Rundfunk eine Ansprache des niederländischen Erziehungsministers im Exil, der davon sprach, man müsse nach dem Krieg alle schriftlichen Quellen über das Leiden und die Unterdrückung des niederländischen Volkes sammeln und veröffentlichen – besonders Tagebüchern und Briefe.

Für Anne war das der Auslöser, ihr Tagebuch nun mit der Absicht der Veröffentlichung weiterzuführen, während sie gleichzeitig begann, die bis dahin entstandenen Einträge zu überarbeiten und zu korrigieren, um sie für ein breites Publikum besser lesbar zu machen. Dieses planvolle Vorgehen zeigt den Weitblick und die schon beinahe professionelle Vorgehensweise der 14jährigen.

Und nicht nur was die Methodik betrifft, viel mehr noch zeigen der Schreibstil, die abwechslungsreiche Thematik der Texte, die Ironie und Selbstironie, abwechselnd mit tiefsinnigen und unglaublich anrührenden Einträgen, das Talent der jungen Autorin. Sogar eine kleine Liebesgeschichte gibt es in dem Buch. – Eine Mischung, die selbst der routinierteste Schriftsteller nicht besser hinbekommen hätte.

Das Leben im Hinterhaus war in jeder Hinsicht limitiert: Fenster durften nur ab und zu geöffnet, die Vorhänge nur gelegentlich zur Seite gezogen werden. Nachts konnte nur schwaches Licht die Räume beleuchten. Um wenigstens ab und zu die Sonne und die Sterne zu sehen, ging Anne auf den Dachboden, von wo aus das möglich war. Lebensmittel besorgten die Helferinnen Miep Hermine ›Miep‹ Gies und Elisabeth ›Bep‹ (Elisabeth) Voskuijl – früher Mitarbeiterinnen in Otto Franks Büro der Firma Opekta.

Die acht Bewohner2 des Hinterhauses, die beiden Familien Frank und van Daan (dies ist ein Pseudonym, siehe unten) sowie der Zahnarzt Albert Dussel (Pseudonym) lebten zwischen Hoffen und Bangen. – Hoffen auf eine baldige Invasion der Engländer an der Küste Frankreichs, Bangen vor der Entdeckung durch die Nazis, oder durch niederländische Mitläufer und Denunzianten.

Trotz aller Bedrücktheit und Eingeschränktheit versuchten die Hausbewohner ein möglichst normales Leben zu führen. Der Tagesablauf war geregelt, man kochte und aß zusammen, Bücher gaben Abwechslung und Trost, und jeder versuchte, die Zeit zu nutzen, um sich weiterzubilden oder sonstwie produktiv zu sein. Die Kinder arbeiteten diszipliniert, um später, wenn die Nazis besiegt und wieder Normalität eingekehrt wäre, nahtlos den Schulbesuch aufnehmen zu können.

Der größte Trost in dieser schlimmen Zeit war für Anne ihr Tagebuch, das sie mit Kitty* ansprach. Der Kunstgriff, das Tagebuch zu personalisieren und direkt anzusprechen, zeigt auch hier das literarische Talent der jungen Autorin. Diese Methode motivierte sie zum Schreiben und führte zu Tagebucheinträgen, wie sie berührender und herzergreifender nicht sein könnten. Den letzten Eintrag schrieb Anne am 1. August 1944, drei Tage vor der Festnahme durch die Nazis.

(* Am Samstag, den 20. Juni 1942, schreibt Anne: »Um mir die ersehnte Freundin in meiner Phantasie besser vorstellen zu können, werde ich nicht einfach Erlebtes in mein Tagebuch schreiben, wie das andere tun, sondern ich will dieses Tagebuch selbst die Freundin sein lassen, und diese Freundin heißt Kitty.«)

Link: Ausführliche Darstellung zur Urheberrechtslage bei Anne Franks Tagebuch

Anne Franks Tagebuch
Die Pseudonyme

Ursprünglich hatte Anne vor, allen Personen im Hinterhaus Pseudonyme zu geben, auch ihrer Familie und sich selbst. Das niederländische Staatliche Institut für Kriegsdokumentation beschloss in seiner wissenschaftlichen Ausgabe der Tagebücher, die Pseudonyme der meisten Beteiligten aufzulösen, in erster Linie diejenigen der Familie Frank und ihrer Helfer Miep Gies, Bep Voskuijl, Victor Kugler und Johannes Kleimann. Die Pseudonyme derer, die in Annes Tagebuch zum Teil mit harscher Kritik und harten Worten belegt wurden (vor allem die ›van Daans‹ und ›Albert Dussel‹), behielt man zu deren Schutz bei.

Alle Bewohner der versteckten Wohnung im Hinterhaus wurden nach der Verhaftung in verschiedenen Konzentrationslagern der Nazis getötet. Mit Ausnahme von Anne Franks Vater Otto, dem einzigen Überlebenden der Tragödie (ebenso überlebten die nichtjüdischen Beteiligten, wie Miep Gies und die anderen Helfer). Anne wurde von den Nazischergen zunächst nach Auschwitz verschleppt und starb, ebenso wie ihre Schwester Margot, im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Entkräftung und Typhus (der genaue Todestag ist nicht bekannt). Otto Frank kümmerte sich nach seiner Rückkehr nach Amsterdam und später in Basel sein Leben lang um die Veröffentlichung des Tagebuchs seiner Tochter. Er starb 1980 in Birsfelden bei Basel.

Hier eine ausführlichere Darstellung der Ereignisse nach der Verhaftung

Das Tagebuch

1942

12. Juni 1942

Ich werde, hoffe ich, dir wirklich alles anvertrauen können, wie ich das bisher bei niemandem konnte, und ich hoffe, du wirst mir ein großer Rückhalt sein.

[Die beiden hier folgenden, nachträglich von Otto Frank eingefügten Tagebucheinträge wurden wieder entfernt]

Samstag, 20. Juni 1942

Es ist ein merkwürdiges Gefühl für mich, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich das noch nie gemacht habe, sondern ich denke auch, dass sich später kein Mensch, weder ich selbst noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber das ist nicht so wichtig, ich habe Lust darauf, zu schreiben und will mir hauptsächlich alles Mögliche gründlich von der Seele reden.

Papier ist geduldig. Dieses Sprichwort fiel mir ein, als ich an einem meiner etwas melancholischen Tage träge am Tisch saß, den Kopf auf die Hände gestützt, und vor Trägheit nicht wusste, ob ich weggehen oder doch zu Hause bleiben sollte – und deshalb einfach sitzen blieb und weiter grübelte. Ja wirklich, Papier ist geduldig. Und weil ich gar nicht vorhabe, dieses mit Karton gebundene Büchlein mit dem verheißungsvollen Namen »Tagebuch« jemals jemanden zum Lesen zu geben – es sei denn, ich fände irgendwann in meinem Leben »den« Freund oder »die« Freundin –, ist das auch egal.

Ja, das ist der Punkt, an dem die ganze Idee mit dem Tagebuch anfing: Ich habe keine Freundin. Um das verständlich zu machen, muss ich es erklären, denn niemand kann verstehen, dass ein Mädchen von dreizehn ganz allein auf der Welt steht. Das stimmt so auch nicht. Ich habe liebe Eltern und eine sechzehnjährige Schwester, ich habe, alle zusammengenommen, mindestens dreißig Bekannte oder was man so Freundinnen nennt. Ich habe einen Haufen Verehrer, die mir alles von den Augen ablesen und zur Not sogar versuchen, in der Klasse, mit Hilfe eines zerbrochenen Taschenspiegels einen Schimmer von mir zu erhaschen. Ich habe Verwandte und ein gutes Zuhause. Nein, mir fehlt wie es scheint nichts, außer »die« Freundin. Ich kann mit keinem meiner Bekannten etwas anderes tun, als herumzualbern, ich kann nur über banale Dinge sprechen und werde nie vertraulicher mit ihnen. Das ist der Haken. Vielleicht liegt dieses mangelnde Zutrauen auch an mir. Jedenfalls ist es leider so, und nicht zu ändern. Darum dieses Tagebuch.

Um mir die ersehnte Freundin in meiner Phantasie besser vorstellen zu können, werde ich nicht einfach Erlebtes in mein Tagebuch schreiben, wie das andere tun, sondern ich will dieses Tagebuch selbst die Freundin sein lassen, und diese Freundin heißt Kitty.

Meine Geschichte! (Seltsam, so etwas vergisst man nicht.)

Weil niemand das, was ich Kitty anvertraue, verstehen kann, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, muss ich wohl oder übel kurz meine Lebensgeschichte erzählen. Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, dem ich je begegnet bin, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis ich vier Jahre alt war, wohnte ich in Frankfurt. Weil wir Juden sind, ging mein Vater dann 1933 in die Niederlande. Er wurde Direktor der Niederländischen Opekta Gesellschaft, einer Marmeladen-Fabrikation. Meine Mutter, Edith Frank-Holländer, fuhr im September auch nach Holland, und Margot und ich gingen nach Aachen zu unserer Großmutter. Margot folgte dann im Dezember nach Holland und ich im Februar, wo ich als ›Geburtstagsgeschenk‹ für Margot auf dem Tisch platziert wurde.

Ich besuchte bald den Kindergarten der Montessorischule. Dort blieb ich bis zum Alter von Sechs, dann kam ich in die erste Klasse. In der 6. Klasse war ich bei Frau Kuperus, der Direktorin. Am Ende des Schuljahres gab es einen herzergreifenden Abschied zwischen uns, und wir weinten beide, denn ich wurde im Jüdischen Lyzeum aufgenommen, in das auch Margot ging.

Unser Leben verlief nicht ohne Aufregung, denn die übrige Familie in Deutschland war nicht vor Hitlers Judengesetzen sicher. Nach den Pogromen von 1938 flohen meine beiden Onkel, die Brüder meiner Mutter, nach Amerika, und meine Großmutter zog zu uns. Sie war zu der Zeit 73 Jahre alt.

Ab Mai 1940 gingen die guten Zeiten auf Talfahrt: Erst der Krieg, dann die Kapitulation der Niederlande, die Besetzung durch die Deutschen, und das Elend für uns Juden begann. Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde immer mehr eingeschnürt: Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit dem eigenen; Juden dürfen nur zwischen 3 und 5 Uhr einkaufen; Juden dürfen sich nur bei einem jüdischen Frisör die Haare schneiden lassen; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht das Haus verlassen; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos oder anderen Plätzen, die dem Vergnügen dienen, aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, und genau so wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit überhaupt keinen Sport treiben; Juden dürfen nach acht Uhr weder bei sich zu Hause noch bei Bekannten im Garten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen, und so weiter. So lebten wir dahin, aber wir durften dies nicht und jenes nicht. Jacque [Annes Freundin Jacqueline van Maarsen] sagt immer zu mir: »Ich getraue mich nicht mehr, irgendetwas zu machen, denn ich fürchte, es könnte verboten sein.«

Oma wurde im Sommer 1941 sehr krank. Sie musste operiert werden, und mein Geburtstag ging daneben unter. Im Sommer 1940 war er auch schon flach gefallen, da war der Überfall auf die Niederlanden gerade vorbei. Oma starb im Januar 1942. Keiner ahnt, wie oft ich an sie denke und sie noch immer lieb habe. Der Geburtstag 1942 ist dann auch gefeiert worden, um alles nachzuholen, und Omas Kerze stand dabei.

Uns vieren geht es noch immer gut, so bin ich also beim heutigen Datum angelangt, an dem die feierliche Einweihung meines Tagebuchs beginnt, es ist der 20. Juni 1942.

Samstag, 20. Juni 1942

Liebe Kitty!

Dann beginne ich gleich mal. Es ist schön ruhig zu Hause, Vater und Mutter sind ausgegangen, Margot ist mit ein paar jungen Leuten zu ihrer Freundin zum Tischtennis-Spielen. Das spiele ich in der letzten Zeit auch sehr häufig, sogar so häufig, dass wir fünf Mädchen einen Club gegründet haben.

Der Club heißt »Der kleine Bär minus 2«. Ein bescheuerter Name, der durch einen Irrtum zu Stande kam. Wir wollten einen besonderen Namen und hatten wegen unserer fünf Mitglieder gleich die Sterne im Sinn, das Sternbild des Kleinen Bären. Wir dachten, er hätte fünf Sterne, aber da täuschten wir uns, denn er hat sieben, genauso wie der Große Bär. Darum das »Minus zwei«.

Ilse Wagner hat eine Tischtennisplatte, und das große Esszimmer der Wagners steht uns jederzeit zur Verfügung. Da wir Pingpongspielerinnen vor allem im Sommer gerne Eis essen, und das Spielen erhitzt, endet es meistens mit einem Ausflug zur nächstgelegenen Eisdiele, in die Juden gehen dürfen, die ›Oase‹ oder das ›Delphi‹. Nach Geld oder Portemonnaie brauchen wir gar nicht zu kramen, denn in der Oase ist es meistens so voll, dass wir immer einige Kavaliere aus unserem großen Bekanntenkreis oder den einen oder anderen Verehrer finden, die uns mehr Eis spendieren, als wir in einer Woche essen können.

Ich nehme an, es wundert dich ein wenig, dass ich, jung wie ich bin, über Verehrer spreche. Leider (in einigen Fällen auch nicht leider) ist dieses Übel an unserer Schule wohl unvermeidbar. Sobald mich ein Junge fragt, ob er mit mir nach Hause radeln könne, und wir ein wenig miteinander reden, kann ich in neun von zehn Fällen davon ausgehen, dass dieser Jüngling sofort Feuer und Flamme für mich ist und mich nicht mehr aus den Augen verliert. Nach gewisser Zeit verfliegt dann die Verliebtheit wieder, vor allem, weil ich mir aus den feurigen Blicken nicht viel mache und frohgemut weiter radle. Wenn es mir manchmal zu bunt wird, schlenkere ich ein bisschen mit dem Rad hin und her, die Tasche fällt zu Boden, und der junge Mann muss absteigen, wie es sich gehört. Bis er mir die Tasche zurückgegeben hat, habe ich längst ein anderes Gesprächsthema gefunden. Das sind aber noch die Braven. Es gibt auch welche, die mir Kusshändchen zuwerfen oder versuchen, mich am Arm zu halten. Aber da sind sie bei mir an der richtigen Adresse! Ich steige ab und lehne es ab, weiter seine Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Oder ich gebe die Beleidigte und sage ihm unumwunden, er könne den Weg nach Hause antreten.

So, das Fundament für unsere Freundschaft ist gelegt. Bis Morgen!

Deine Anne

Sonntag, 21. Juni 1942

Liebe Kitty!

Unsere ganze Schulklasse bibbert. Natürlich ist der Grund die bevorstehende Lehrerkonferenz. Die halbe Klasse schließt Wetten über Versetzungen oder Sitzenbleiben ab. G. Z., meine Sitznachbarin, und ich lachen uns schief über unsere beiden Hintermänner, C. N. und Jacques Kocernoot, die schon ihr ganzes Ferienkapital verzockt haben. »Du wirst versetzt«, »ach wo!«, »doch ...«, so gehts von morgens bis abends dahin. Weder G.s beschwörende Blicke noch meine Wutausbrüche können die beiden zum Schweigen bringen. Wenn es nach mir ginge, müsste ein Viertel der Klasse sitzen bleiben, solche Dummköpfe sitzen hier drin. Aber Lehrer sind die wankelmütigsten Menschen auf der Welt. Vielleicht sind sie gelegentlich auch mal wankelmütig in die richtige Richtung. Was meine Freundinnen und mich betrifft, habe ich kaum Bedenken, wir werden wohl durchkommen. Nur in Mathematik bin ich unsicher. Na mal sehen, abwarten. Bis dahin machen wir uns gegenseitig Mut.

Ich komme mit allen Lehrern und Lehrerinnen recht gut klar. Es sind insgesamt neun, sieben Männer und zwei Frauen. Herr Keesing, der alte Mathelehrer, war eine Weile sehr böse auf mich, weil ich so viel schwätze. Eine Ermahnung kam nach der anderen, schließlich brummte er mir eine Strafarbeit auf. Ich sollte einen Aufsatz zum Thema »Eine Schwatzliese« schreiben. Eine Schwatzliese, was soll man denn darüber schreiben? Aber ich machte mir erstmal keine Sorgen, packte das Aufgabenheft ein und versuchte, gelassen zu bleiben.

Abends, als ich mit den anderen Hausaufgaben fertig war, fiel mir plötzlich die Notiz ins Auge, dass ich den Aufsatz schreiben sollte. Das Füller-Ende im Mund, begann ich, über das Thema zu sinnieren. Nur irgendwas hin zu schreiben und dabei die Worte so weit wie möglich zu dehnen, das kann jeder, aber einen überzeugenden Beweis für die Unvermeidbarkeit des Schwätzens zu finden, das war die Kunst. Ich überlegte und überlegte, und dann hatte ich plötzlich die Idee. Ich schrieb die drei verlangten Seiten und war zufrieden. Als Argument hatte ich vorgebracht, dass Reden eine weibliche Eigenschaft sei, dass ich mich ja wirklich bessern wolle, aber ganz abgewöhnen werde ich es mir wohl nie können, denn meine Mutter redet genau so viel wie ich, wenn nicht mehr, und an ererbten Eigenschaften kann man nun mal wenig ändern.

Herr Keesing war über meine Argumente amüsiert. Aber als ich in der nächsten Stunde wieder ratschte, folgte der zweite Strafaufsatz. Diesmal sollte er »Eine unverbesserliche Schwatzliese« heißen. Auch den lieferte ich ab, und zwei Schulstunden lang hatte Herr Keesing nichts zu meckern. In der dritten wurde es ihm jedoch wieder zu bunt. »Anne Frank, als Strafarbeit für Schwätzen einen Aufsatz mit dem Titel: ›Queck, queck, queck, sagte Fräulein Schnatterbeck.‹«

Die Klasse gröhlte. Ich musste auch lachen, obwohl meine Kreativität auf dem Gebiet von Schwätzaufsätzen jetzt aufgebraucht war. Es galt, etwas anderes zu finden, etwas wirklich Originelles. Meine Freundin Sanne, eine gute Dichterin, bot an, mir zu helfen, um den Aufsatz von Anfang bis Ende in Reimen abzufassen. Ich triumphierte. Keesing hatte versucht, mich mit diesem blödsinnigen Thema dranzukriegen, aber ich würde es ihm doppelt und dreifach zurückzahlen.

Fertig gestellt war das Gedicht großartig. Es ging dabei um eine Mutter Ente und einen Vater Schwan mit drei kleinen Entchen, die wegen endlosen Schnatterns von ihrem Vater tot gebissen wurden. Zum Glück hatte Keesing Humor. Er las das Gedicht der Klasse vor, und gab seine Kommentare dazu, auch in anderen Klassen. Seitdem konnte ich schwätzen ohne jemals wieder eine Strafarbeit zu bekommen. Im Gegenteil, Keesing macht jetzt immer Scherze darüber.

Deine Anne

Mittwoch, 24. Juni 1942

Liebe Kitty!

Es ist glühend heiß. Jeder schnaubt und dampft, und bei dieser Hitze muss ich jeden Weg zu Fuß gehen. Nun merke ich erst, wie angenehm eine Straßenbahn ist, vor allem eine offene. Aber in diesen Genuss kommen wir Juden nicht mehr, für uns müssen Schusters Rappen gut genug sein. Gestern musste ich in der Mittagspause zum Zahnarzt in die Jan Luikenstraat. Von unserer Schule am Stadtgarten ist das ein weiter Weg. Ein Glück nur, dass einem die Leute unaufgefordert was zu trinken geben. Die Zahnarzthelferin war wirklich eine herzliche Frau. Nachmittags schlief ich dann trotzdem im Unterricht fast ein.

Das einzige Transportmittel, das wir noch benützen dürfen, ist die Fähre. Der Fährmann an der Jozef-Israëls-Kade nahm uns gleich mit, als wir ums Übersetzen baten. An den Holländern liegt es wirklich nicht, dass wir Juden es so schlecht haben.

Ich wünschte nur, dass ich nicht zur Schule müsste! Mein Fahrrad ist in den Osterferien gestohlen worden, und Mutters Rad hat Vater bei Christen zur Aufbewahrung untergestellt. Aber zum Glück nähern sich die Ferien in Windeseile. Eine Woche noch, und das Elend ist vorbei.

Gestern Morgen habe ich etwas Nettes erlebt. Als ich am Fahrradabstellplatz vorbeikam, rief mich jemand. Ich schaute mich um und sah einen netten Jungen dort stehen, den ich am vorhergehenden Abend bei Wilma kennengelernt hatte. Er ist um drei Ecken ein Cousin von ihr, und Wilma ist eine Bekannte. Ich fand sie zuerst sehr nett. Das ist sie tatsächlich, aber sie redet den ganzen Tag nur über Jungs, und das langweilt. Der Junge kam ein wenig schüchtern heran und stellte sich als Hello Silberberg vor. Ich war irritiert und wusste nicht so recht, was er wollte. Aber das klärte sich schnell. Er wollte meine Gesellschaft genießen und mich zur Schule begleiten. »Wenn du sowieso in dieselbe Richtung gehst, dann geh ich mit«, antwortete ich, und so gingen wir zusammen. Hello ist schon sechzehn und hat von allen möglichen Dingen Ahnung. Heute Morgen hat er wieder auf mich gewartet, und in Zukunft wird es wohl so bleiben.

Anne

Mittwoch, 1. Juli 1942

Liebe Kitty!

Bis jetzt hatte ich wirklich gar keine Zeit zum Schreiben. Am Donnerstag war ich den ganzen Nachmittag bei Bekannten, Freitag kam Besuch, und so ging es weiter bis heute.

Hello und ich haben uns in dieser Woche gut kennen gelernt, er hat mir viel von sich erzählt. Er kommt ursprünglich aus Gelsenkirchen und ist hier in den Niederlanden bei seinen Großeltern. Seine Eltern sind in Belgien. Für ihn gibt es keine Möglichkeit, auch dorthin zu kommen.

Hello hat eine Freundin, Ursula. Ich kenne sie, sie ist ein Ausbund an Sanftmut und Langeweile. Nachdem er mich getroffen hat, hat Hello entdeckt, wie sehr ihn Ursula einschläfert. Ich bin also so eine Art Wachhalte-Mittel für ihn! Ein Mensch weiß nie, wozu er noch einmal zu gebrauchen ist.

Samstag hat Jacque bei mir geschlafen. Mittags war sie bei Hanneli, und mir war denn todlangweilig.

Hello sollte abends zu mir kommen, aber gegen sechs rief er an. Ich war am Telefon, da sagte er: »Hier ist Helmuth Silberberg. Kann ich bitte mit Anne sprechen?«

»Ja, Hello, hier ist Anne.«

»Tag, Anne. Wie geht es dir?«

»Gut, danke.«

»Ich muss dir zu meinem Bedauern sagen, dass ich heute Abend nicht zu dir kommen kann, aber ich würde dich gern kurz sprechen. Geht es in Ordnung, wenn ich in zehn Minuten vor deiner Tür bin?«

»Ja, in Ordnung. Tschüs!«

Hörer aufgelegt. Ich habe mich rasch umgezogen und mir meine Haare ein bisschen zurechtgemacht. Und dann hing ich nervös am Fenster. Endlich kam er. Erstaunlicherweise bin ich nicht sofort die Treppe hinuntergesaust, sondern habe ruhig abgewartet, bis er geklingelt hat. Ich ging hinunter. Er fiel gleich mit der Tür ins Haus.

»Hör mal, Anne, meine Großmutter findet dich noch zu jung, um dich regelmäßige zu sehen. Sie meint, ich sollte zu Löwenbachs gehen. Aber du weißt vielleicht, dass ich nicht mehr mit Ursul gehe.«

»Nein, wieso? Habt ihr Streit gehabt?«

»Nein, im Gegenteil. Ich hab Ursul gesagt, dass wir doch nicht so gut miteinander auskommen und besser nicht mehr zusammen gehen sollten. Aber dass sie auch weiterhin bei uns sehr willkommen wäre, und ich hoffentlich bei ihnen auch. Ich dachte nämlich, dass sie mit anderen Jungen flirtet, und habe sie auch so behandelt. Aber das war überhaupt nicht wahr. Und nun sagte mein Onkel, ich müsste Ursul um Entschuldigung bitten. Aber das wollte ich natürlich nicht, und darum habe ich Schluss gemacht. Doch das war nur einer von vielen Gründen.

Meine Großmutter will nun, dass ich zu Ursul gehe und nicht zu dir. Aber dieser Meinung bin ich nicht und habe es auch nicht vor. Alte Leute haben manchmal sehr altmodische Ansichten, aber danach kann ich mich nicht richten. Ich brauche meine Großeltern zwar, aber sie mich auch, in gewisser Hinsicht. Mittwoch abends habe ich immer frei, weil meine Großeltern denken, ich gehe zum Schnitzen, aber ich gehe zur Versammlung der Zionistischen Partei. Das ist mir eigentlich nicht erlaubt, weil meine Großeltern sehr gegen den Zionismus sind. Ich bin zwar nicht fanatisch, aber ich interessiere mich dafür. In der letzten Zeit ist dort allerdings so ein Chaos, dass ich vor habe auszutreten. Deshalb gehe ich nächsten Mittwoch zum letzten Mal hin. Also habe ich Mittwochabend, Samstagabend und Sonntagnachmittag und so weiter Zeit.«

»Aber wenn deine Großeltern das nicht wollen, solltest du es nicht heimlich tun.«

»Liebe lässt sich nun mal nicht zwingen.«

Wir kamen an der Buchhandlung Blankevoort vorbei, und da stand Peter Schiff mit zwei anderen Jungen. Es war seit langem das erste Mal, dass er mich grüßte, und ich freute mich wirklich sehr darüber.

Montagabend war Hello bei uns zu Hause, um Vater und Mutter kennen zu lernen. Ich hatte Torte und Süssigkeiten geholt. Tee und Kekse, alles war da. Aber weder Hello noch ich hatten Lust, starr nebeneinander auf den Stühlen zu sitzen. Wir sind spazieren gegangen, und er lieferte mich erst um zehn nach acht zu Hause ab. Vater war sehr böse, er fand das unmöglich, dass ich so spät heimkam. Ich musste versprechen, in Zukunft schon um zehn vor acht im Haus zu sein.

Am kommenden Samstag bin ich bei Hello eingeladen.

Wilma hat mir erzählt, dass Hello neulich abends bei ihr war und sie ihn fragte: »Wen findest du netter, Ursul oder Anne?« Da hat er gesagt: »Das geht dich nichts an.« Aber als er wegging (nachdem sie sich den ganzen Abend nicht weiter unterhalten hatten), sagte er: »Anne! Tschüs, und niemandem sagen!« Schwupps, war er zur Tür draußen.

Es war klar, dass Hello in mich verliebt ist, und ich fand es zur Abwechslung mal ganz schön. Margot würde sagen, Hello ist ein annehmbarer Junge. Und das finde ich auch. Sogar mehr als das. Und auch meine Mutter lobt ihn über die Maßen. »Ein hübscher, höflicher und netter Junge.«

Ich bin froh, dass er der Familie so gut gefällt, nur meinen Freundinnen nicht. Und er findet sie sehr kindisch, und da hat er Recht.

Jacque zieht mich immer mit ihm auf. Ich bin wirklich nicht verliebt, o nein, aber ich darf doch wohl Freunde haben. Niemand stört sich daran.

Mutter fragt immer wieder, wen ich später heiraten möchte. Aber sie würde bestimmt nie erraten, dass es Peter Schiff ist, weil ich es, ohne mit der Wimper zu zucken, immer ableugne. Ich habe Peter so gern, wie ich noch nie jemanden gern gehabt habe. Und ich rede mir immer ein, dass Peter, nur um seine Gefühle zu mir zu verbergen, mit anderen Mädchen geht. Vielleicht denkt er jetzt auch, dass Hello und ich ineinander verliebt sind. Aber das ist nicht wahr. Er ist nur ein Freund von mir, oder, wie Mutter es ausdrückt, ein Kavalier.

Deine Anne

Sonntag, 5. Juli 1942

Beste Kitty!

Die Versetzungsfeier am Freitag ist wunschgemäß verlaufen, mein Zeugnis ist gar nicht so übel. Ich habe ein Ungenügend in Algebra, zwei Sechsen, zwei Achten und sonst alles Siebenen [Anm.: Zehn ist die beste Note, fünf bedeutet knapp ungenügend]. Zu Hause haben sie sich gefreut. Aber meine Eltern sind in diesen Dingen sowieso anders als andere Eltern. Für sie waren gute oder schlechte Zeugnisse nie von besonderer Bedeutung, sie achten nur darauf, dass ich gesund bin, nicht zu frech und Spaß habe. Wenn diese drei Dinge in Ordnung sind, kommt alles andere von selbst.

Ich bin das Gegenteil, ich kümmere mich sehr darum und möchte nicht schlecht sein. Ich bin nur unter Vorbehalt im Lyzeum aufgenommen worden, denn eigentlich hätte ich noch die siebte Klasse in der Montessorischule machen sollen. Aber als alle jüdischen Kinder in jüdische Schulen mussten, hat Herr Elte mich und Lies Goslar nach einigem Hin und Her unter Vorbehalt aufgenommen. Lies ist auch versetzt worden, aber mit einer schweren Nachprüfung in Geometrie.

Arme Lies, sie kann zu Hause fast nie vernünftig arbeiten. In ihrem Zimmer spielt den ganzen Tag die kleine Schwester, ein verwöhntes Baby von fast zwei Jahren. Wenn Gabi ihren Willen nicht bekommt, schreit sie, und wenn Lies sich dann nicht um sie kümmert, schreit Frau Goslar. Auf diese Art und Weise kann Lies unmöglich richtig arbeiten, da helfen auch die vielen Nachhilfestunden nicht, die sie immer wieder bekommt. Bei Goslars ist das aber auch ein Haushalt! Die Großeltern wohnen nebenan, essen aber bei der Familie. Dann gibt es noch ein Dienstmädchen, das Baby, Herrn Goslar, der immer zerstreut und abwesend ist, und Frau Goslar, immer nervös und gereizt, und sie ist wieder schwanger. In dieser Lotterwirtschaft ist Lies mit ihren beiden linken Händen so gut wie verloren.

Meine Schwester Margot hat auch ihr Zeugnis bekommen, hervorragend, wie immer. Würde in der Schule ein cum laude vergeben, wäre sie sicher mit Auszeichnung versetzt worden. So ein kluges Köpfchen!

Vater ist in letzter Zeit viel zu Hause, im Geschäft hat er nichts mehr zu sagen. Ein unangenehmes Gefühl muss das sein, wenn man sich so ausgemustert fühlt. Herr Kleiman hat ›Opekta‹ übernommen und Herr Kugler ›Gies und Co.‹, die Firma für (Ersatz-)Kräuter, die erst 1941 gegründet worden ist. Als wir vor ein paar Tagen um unseren Platz spazierten, fing Vater an, über Untertauchen zu sprechen. Er meinte, es würde sehr schwer für uns werden, völlig abgeschnitten von der Welt zu leben. Ich fragte, warum er jetzt schon darüber sprach.