Loe raamatut: «Körper sucht Seele», lehekülg 2

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Dazu kam meine Sprachlosigkeit, mein Schweigen. Ich war gewohnt, das, was in mir war, für mich und bei mir zu behalten. Alles Innere, so ich es denn zu erfassen vermochte, machte ich „mit mir alleine aus“. Bei aller inneren Not in meiner Kindheit und als heranwachsendes Mädchen war ich bei allen Entwurzelungen und sexualisierter Gewalt in meiner Einsamkeit und Verwirrung allein geblieben. Es war mir so von Kindheit an vertraut, dass erstens das, was in mir ist, völlig abgetrennt und losgelöst von anderen Menschen ist, zweitens niemand es sieht oder versteht und ich drittens Unverständnis und gar Ablehnung erfahre, wenn ich mein Inneres mitteile. Ich war es gewohnt, eine Fassade zu zeigen. Gewünschtes war mir Befehl. Wie die Außenwelt, die wesentlichen Bezugspersonen, mich haben wollten, so verhielt ich mich. Mich über die Maßen anzustrengen und zu verbiegen, um zu gefallen, um dabeibleiben zu dürfen, um zugehörig zu sein, das war mein Normalzustand.

Überschreiten ihrer eigenen Grenzen

Die junge Frau überschreitet ihre eigenen Grenzen. Es fühlt sich für sie stimmig an, ihrem obersten Ziel verpflichtet: die Beziehung zu ihrem Mann um jeden Preis zu erhalten. Doch sie erkennt ihre Zielsetzung nicht als das, was sie ist: eine hochverstrickte, symbiotische Abhängigkeit. Die junge Frau übersieht, sie „überfühlt“ ihren emotionalen Schmerz, ihre innere Not, ihre innere Ausweglosigkeit. Sie verkauft sich ihr eigenes Verhalten als selbstgewählt, selbstbestimmt. Nach außen antwortet sie auf die Frage, wie sie denn damit leben könne, dass ihr Mann andere Frauen habe, mit denen er Tisch und Bett teile, und wie sie selbst mit diesen Frauen gemeinsam in einem Haus leben könne: „Ganz einfach, ist doch nichts dabei.“ Mit dieser Antwort auf eine Frage, die Verstehen sucht, bewirkt sie eine Vergrößerung des Nichtverstehens. Ihr Verhalten ist unverständlich. Ihre Antwort auch. Eine Antwort, die ihr Verhalten verständlicher machen könnte, müsste lauten: „Ich kann nicht anders. Ich weiß es nicht anders.“ Diese Antwort wäre einer Kapitulation gleichgekommen – davon abgesehen, dass die junge Frau diese Antwort nicht in ihrem Bewusstsein hatte, denn sie war dem bewussten Verstehen entzogen, ins Nichtbewusste verdrängt worden.

Mir wurde mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Bewunderung begegnet. Das gefiel mir. Was mir nicht gefiel, war das, was mein Mann tat, seine anderen Frauen. Es tat mir weh. Ich fühlte mich minderwertig. Ich kam mir als Frau ungenügend vor. Das durfte ich ihm nicht zeigen, denn dann hätte er sich von mir abgewandt. Das durfte ich andere Menschen nicht wissen lassen, denn damit hätte ich meine Abhängigkeit und Ohnmacht eingestanden. Das durfte ich selbst nicht fühlen, denn ich hätte dem Ausmaß meines inneren Ausgeliefertseins nicht standhalten können. So war ich mit meinem Schmerz allein. Meine Angst, Zugehörigkeit und Zuwendung zu verspielen, wenn ich meine Gefühle zeigte oder darüber spräche, war zu groß.

So überschritt ich meine eigenen Grenzen, die Grenzen, die mich hätten schützen sollen. Ich überschritt sie Mal um Mal. Ich war das Überschreiten gewohnt. Von Mal zu Mal nahm ich es weniger wahr. Ich nahm mich immer weniger wahr. Ich verlor meine eigene Wahrheit. Nach innen unerkannt. Nach außen unerkannt. Nach innen als selbstbestimmte Autonomie verkauft, nach außen als selbstbestimmte Autonomie verkauft. Ich verkaufte mich mir. Ich verkaufte mich anderen. Ich verkaufte mich.

Meine Ehe musste ich um jeden Preis aufrechterhalten. Das entsprach meiner familiären und religiösen Sozialisation. Ehebruch ist Sünde. Das galt in meiner Familientradition als in Stein gemeißelt. Ehebruch, so verdreht es klingen mag, bedeutete für mich „tun, was mein Mann nicht will“. So fühlte es sich an in meinem Gewissen. Der Ehemann definiert, was Ehebruch ist und was nicht. Mit dem erklärten Einverständnis meines Tuns durch meinen Ehemann fühlte sich meine „außereheliche“ Sexualität nicht wie Ehebruch an. Ehebruch hätte für mich bedeutet, Intimität mit einem anderen Mann zu leben, heimlich oder gegen den Willen meines Ehemannes. Mit seinem Einverständnis jedoch war mein Tun „ehelich“, damit nicht „sündig“. Aus heutiger Sicht wirkt es für mich völlig abwegig. Doch damals war mein inneres Erleben genau so und in dieser Weise stimmig.

Solch eine unheilvolle Verirrung, dem Willen des Gegenübers statt dem eigenen Gewissen zu folgen, habe ich in den Jahren danach bei den Therapien mit meinen Klienten bei vielen Paaren erlebt. Hat zum Beispiel ein Mann eine Außenbeziehung, unter der seine Frau leidet, so kommt manch einer auf die vordergründig absurde Idee, seiner Frau einen Liebhaber vorzuschlagen. Das eigene schlechte Gewissen soll damit entlastet werden. Angenommen, seine Frau lässt sich darauf ein – denn sie möchte sowohl ihren Mann nicht verlieren als auch ihren eigenen Schmerz beenden –, findet einen Liebhaber und beginnt ein Verhältnis. Der Ehemann ist zunächst erleichtert. Sein „schlechtes Gewissen“, weil er seine Frau betrügt, ist kleiner, denn seine Frau tut ja nun dasselbe. Der Frau geht es zunächst auch besser. Sie erfährt von dem anderen Mann Bestätigung, fühlt sich gewollt, attraktiv und ist darüber hinaus emotional abgelenkt. So weit, so gut. Für die Frau mag sich diese Situation ungewohnt anfühlen, doch empfindet sie sich nicht als Ehebrecherin. Das, was sie tut, geschieht mit dem Einverständnis ihres Mannes. Die Lage kippt genau in dem Moment, in dem die Frau, was nicht selten geschieht, innigere Gefühle zu dem anderen Mann entwickelt, sich diese Beziehung intensiviert. Der Ehemann merkt das früher oder später. Das nun will er nicht. Plötzlich wird aus dem herbeigerufenen, ungefährlichen Liebhaber ein Mann, der ihm in seiner Vormachtstellung gefährlich werden könnte. Genau das ist der Moment, in dem die Frau ein „schlechtes Gewissen“ fühlt. In genau diesem Moment regt sich in ihr ein Gefühl der „Schuld“. Die Frage „Tue ich etwas Verbotenes?“ taucht auf. „Darf ich das, was ich tue?“ Die Legitimation ihres Handelns kommt mit einem Mal auf den inneren Gewissensprüfstand. – Der Mechanismus, der hier greift, ist aus der Systemtheorie heraus gut verständlich: Die Mitglieder eines Systems haben, solange sie die ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Regeln ihres eigenen Systems einhalten, ein „gutes Gewissen“. Sie verhalten sich regelkonform. Also konform den Regeln ihres eigenen Systems. Dabei ist nicht relevant, ob diese Regeln auch den Regeln anderer Systeme (hier: anderer Paare oder Familien) oder des umfassenderen Systems (hier: Kultur oder Gesellschaft) entsprechen. Das „schlechte Gewissen“ entsteht, wenn ein Mitglied eines Systems (hier: die Frau) sich an den nach außen begrenzenden Rand des Systems begibt oder gar den begrenzenden Rand des Systems überschreitet. Das „schlechte Gewissen“ ist ein Grenzgefühl, das anzeigt, dass ein Mitglied an den Randbereich heran gerät oder über den Rand des Systems hinaus; den Rand, der das eigene System von den anderen unterscheidet.

Die Schritte, die ich damals unternahm, die Handlungen, die ich initiierte, fühlten sich – so merkwürdig das anmutet – richtig und stimmig an. Ich handelte – was unsere Beziehungsgestaltung anbelangte – gemäß den Regeln „unseres“ Systems. Unser System war das meines Mannes. Meine eigene Prüfinstanz, mein eigenes Gewissen, hatte ich bereits verlassen, bevor es sich richtig entwickeln konnte, viele Jahre zuvor.

Das Gefühl „falsch“

Die tiefgreifende Aufspaltung, die meine gesamte Prostitutionszeit durchziehen sollte, stellte sich ein, als ich Geld für Sex bekam. Damit war der Rubikon überschritten. Ein Teil in mir wollte das nicht. Es war ein Gefühl von „falsch“. Diese Wahrnehmung kann ich deutlich unterscheiden von vielem anderen, was ich nicht wollte, weil es mir zum Beispiel weh tat, ich mich ausgeschlossen oder übergangen fühlte. Das Gefühl von „falsch“ ist anders. Nicht das bewusste Wollen stellt sich hier entgegen, auch nicht ein schlechtes Gewissen, es reicht tiefer. Es ist eine ganz tiefe, innere Wahrnehmung, die in die Richtung geht: Das jetzt stimmt ganz wesentlich überhaupt nicht! Die Wahrnehmung ist zugleich tief und sehr fein, wie ein feiner Ton, der leise und hoch zu vernehmen ist. Andere Klänge übertönen ihn leicht. Er verliert sich im Lauten und Vielstimmigen. Um diesen leisen Ton wahrzunehmen, bedarf es der Ruhe und der Stille. Es bedarf der Konzentration und der Suche. Woher kommt er? Was ist das für ein Ton? Ganz stille jetzt. Stehenbleiben. Lauschen. Aus welcher Richtung kommt er? Dieser Richtung leise und behutsam nachgehen. Den eigenen Ohren trauen. Leise auftreten. Behutsam atmen. Dem Ton folgen, beobachtend, in welche Richtung gewandt er langsam lauter und klarer wird. Den Klang finden. Manchmal, in der Stille der Nacht, oder wenn ich in der Natur war, an dem kleinen Fluss, an dem ich oft spazieren ging mit meiner Tochter, in der Geborgenheit des Waldes, vernahm ich diesen feinen Ton wieder. Er machte mich sehr traurig. Er machte mich auch ratlos.

Um im Bild zu bleiben: Mit dem Ton war auch ein Geruch verbunden. Es war ein unangenehmer Geruch, etwas Stinkendes, fauliger Schmutz, es war ein Geruch, der mir einen latenten Ekel verursachte. Dieser Geruch erschreckte mich anfangs. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an den Geruch. Er war einfach da. Ich bekam ihn nicht los. Er war nicht über die Nase riechbar, so wie der Ton nicht über die Ohren hörbar war. Ich war mir nicht sicher, ob andere Menschen den Ton hören und den Geruch riechen konnten. Mein Kopf sagte nein, mein Gefühl sagte ja. Es fühlte sich so an, als ob sich der unangenehme Geruch durch mich und um mich herum verbreitete. Auch intensivste Waschungen veränderten ihn nicht. Vielleicht sind Prostituierte deshalb stark parfümiert? So begann ich, mit anderen starken Gerüchen meine Nase zu täuschen, mit lauten Tönen meine Ohren abzulenken. Der Geruch blieb, der Ton blieb. Viele Jahre blieben sie. Lange noch, lange nachdem ich nicht mehr in der Prostitution arbeitete, waren der Geruch des Ekels, der Ton des „Falsch“ noch bei und in mir. Ich fühlte mich dadurch kenntlich gemacht, erkennbar, welcher Sorte Frau ich angehörte. – Irgendwann hatte sich der Geruch verflüchtigt, der Ton war verklungen.

Rückblickend kann ich die Situationen sehr exakt identifizieren, in denen das Gefühl von „falsch“ auftauchte. Doch wollte ich dieses „Falsch“-Gefühl nicht haben. Es passte nicht in mein Bild von mir selbst, nicht in meine eigenen Gedanken über mich. Es passte nicht in meine Idee von mir. Mein Kopf hatte sich ausgedacht, wie ich mich gerne hätte. Diesem Plan entsprechend verkaufte ich mir mich selbst und der Welt im Außen. Ich bemühte mich, mir meine Idee von mir zu glauben. Doch das „Falsch“-Gefühl passte einfach nicht. So begann ich, das Nichtpassende zu eliminieren. Ich schnitt die Wahrnehmungen, die nicht kompatibel waren mit meinen Gedanken über mich, aus und verstaute sie, sorgfältig vor meinem Zugriff geschützt, in Bereichen meiner Psyche, zu denen ich damals keinen Zugang hatte. So störten die diskrepanten Wahrnehmungen meine Idee von mir nicht mehr. Meine Idee von mir passte nun besser. Ich hatte mich „passend“ gemacht. Die Idee von mir lautete ungefähr so: „Ich bin eine selbstbewusste und mutige Frau, die tut, was sie will, und sich in keiner Weise von kleinkariert-spießigen Konventionen einschränken lässt. Das, was sich keine traut, traue ich mich. Ich will meinen Mann behalten, denn wir gehören zusammen. Dafür tue ich alles.“ Ich gab mich nach außen unabhängig, selbst entscheidend, unberührbar. Dieses Selbstbild korrelierte mit meinem bewussten Denken. Ich sagte das nicht nur so, ich dachte es auch. – Anfühlen tat es sich jedoch nur sehr selten so und auch nur sehr schwach. Meistens fühlte ich anders. Doch das sagte ich nicht, noch nicht einmal mir selbst. Mein Denken über mich hatte ich schon passend gemacht. Mein Fühlen indes widersetzte sich noch beständig und widerständig der Stromlinienform. Bald vermochte ich auch mein Fühlen nicht mehr auszuhalten. Die Diskrepanz zwischen Innen und Außen wurde zu groß. Das innere Gefühl wurde zu stark, als dass ich es auch weiterhin hätte nicht beachten können. Es drängte sich unaufhaltsam stärker in meine Wahrnehmung. Ich fühlte mich beschmutzt, ausgestoßen, fremd, einsam, gezeichnet. Da ich mich außerstande sah, mich im Außen anders zu verhalten, musste eine Lösung im Innen her: Ich begann – in meinem vertrauten Muster – das unaushaltbare Fühlen nicht mehr zu fühlen. Ich wusste und verstand nicht, was ich tat, doch ich tat. Was unaushaltbar war, wurde „weggepackt“. Und so wurde es scheinbar und zunächst leichter. Dissoziation ist der psychologische Fachbegriff dafür. Das, was nicht mehr zusammengehalten werden kann, fällt auseinander: Gefühle und Körperwahrnehmungen zum Beispiel, Gedanken und Selbstbild, sind im Wohlfühlzustand in einem zusammengehörigen Miteinander, werden als zu uns selbst gehörig erlebt, können erinnert und benannt werden. Wenn das nicht mehr gelingt, fallen die einzelnen Teile auseinander, manche tauchen ins Unbewusste ab, werden „weggepackt“, manche tauchen als Körpersymptome wieder auf, als Schmerzen, als Krankheiten. Die Dissoziationsfähigkeit meiner Psyche, die ich mitbrachte aus meiner Kindheit, die mir damals schon mein psychisches Überleben gesichert hatte, begleitete und „beschützte“ mich nun wieder. Das Nicht-Aushaltbare wurde von mir immer weniger gefühlt. Es war ein langsamer Prozess, der sich auf immer mehr Bereiche ausdehnte. Mit dem ersten Geld, das mir für Sex bezahlt wurde, begann der Dissoziationsprozess sich in einem neuen Feld auszubreiten. Es war mir möglich, in meinem Bewusstsein das zu denken, was ich denken wollte. Es wurde mir möglich, mich selbst glauben zu machen, das, was ich tue, wolle ich. Die Dissoziation schützte mein Bewusstsein vor der Wahrnehmung des sich ausbreitenden Ekels, vor der Wahrnehmung der inneren Ausweglosigkeit, der emotionalen Abhängigkeit, der Enge, Hilflosigkeit und Einsamkeit. Die Dissoziation bewahrte mich davor, bewusst wahrzunehmen, dass ich meinen Körper verkaufte, um meinen Mann zu behalten, um die Zugehörigkeit nicht zu verlieren. Sie bewahrte mich davor, mit klarem Denken und Fühlen die Bedeutung und Tragweite zu ermessen, wie die Zusammenhänge zwischen meiner Prostitution, meinem Mann und seinen Freizeitaktivitäten waren.

Dissoziation ist eine Bewahrung, denn sie bewahrt vor Wahrnehmungen, die nicht aushaltbar sind. Dissoziation ist jedoch auch eine massive Einschränkung: Meine Sehnsucht zum Beispiel, nach liebevollem Kontakt zwischen meinem Mann und mir, spürte ich nun auch nicht mehr. Meine Sehnsucht danach, mich selbst als kostbar und wertvoll zu erleben. Meine Sehnsucht, als kostbare und wertvolle Frau geliebt zu werden, diese zutiefst menschliche Sehnsucht. Damals konnte ich weder erfassen, dass etwas Kostbares in mir im Begriff war, beschädigt zu werden, noch war ich imstande, dieses Kostbare zu schützen. Denn in meinem Bewusstsein war die autonome Selbstbestimmtheit. Die Beschädigung, Verletzung, Verwundung spürte ich nicht. Nicht mehr.

Heutige Sicht

Das Erleben des Getrennt-Seins

Was geht der inneren Kontaktlosigkeit voraus? Das Erleben einer abgetrennten inneren Welt. Das Erleben des Getrennt-Seins. Ein unbekanntes, dunkles Innen, einsam. Ein Außen, das unseren Wert in der Welt und für die Welt meint definieren zu dürfen. Die Aufmerksamkeit ist vom Außen absorbiert, denn darüber wird unsere Identität, unser Wert, unsere Daseinsberechtigung in der Welt festgesetzt. Hochsensibel entwickeln wir Antennen als Kind, was unser Außen von uns will. Dem fügen wir uns. Dahin trachten wir uns selbst zu formen, zu entwickeln, zu werden. Wo es nicht gelingt, weil es nicht „geht“ – und das ist der überwiegende Seins-Zustand – tun wir zumindest, „als ob“. Wir tun so, „als ob“ wir so wären, wie wir meinen, sein zu sollen, zu müssen. Mit dem Innen müssen wir irgendwie und so gut wie möglich leben, mit allen Qualen der unzureichenden Selbstorganisation. Denn es darf keiner wissen, was in unserem Innen ist. Möglichst wir selbst auch nicht. Das Innen gilt es zu verbergen, als sei es das Fehlerhafte, das Nicht-Gewollte, das Nicht-Passende. Diese beiden Welten erleben wir als voneinander getrennt. In den meisten menschlichen Kontakten verhalten wir uns infolgedessen so, als gäbe es nur unser Außen, als gäbe es nur das Außen des anderen Menschen. Ein Außen kontaktiert ein anderes Außen. Das Erleben des Getrennt-Seins wird dadurch bei jedem Kontakt validiert und verstärkt. Mit der Außenorientierung bilden wir ein sich selbst verstärkendes System der illusionären Trennung.

Dieses sich selbst verstärkende Trennungserleben verwirklicht sich in vielen menschlichen Kontakten. Besonders tiefgreifend wirkt es sich im Umgang mit unseren körperlichen Erfahrungen aus, in unseren sexuellen Begegnungen. Wir sind mit unseren Körpern in ihrer Nacktheit ungeschützt. Auch auf seelischer Ebene sind wir in unseren sexuellen Begegnungen – relativ betrachtet zu Alltagsbegegnungen – ungeschützt. Auch auf seelischer Ebene sind wir hier nackt. Erleben wir uns bei unseren sexuellen Begegnungen getrennt, schmerzt das besonders, eben weil wir „nackt“ sind, verletzbar. Wir frieren ohne Nähe. Die Sehnsucht nach Nähe in der Begegnung weist uns hin auf unser Bedürfnis nach tiefem Kontakt, nach verbundenem Kontakt im Innen und im Außen. Körper und Herz, Leib und Seele. Wir sehnen uns in der Liebe nach dem Erleben der Verbundenheit, nicht nach Trennung. Wenn nun auch und gerade in der sexuellen Begegnung Trennung erfahren wird, schwindet die letzte Hoffnung. Dann wird das Befürchtete wohl doch stimmen? Dann gibt es wohl doch nur Getrennt-Sein? Verbundenheit, die illusionäre Hoffnung von Träumern, Fantasten und Romantikern?

Schon als kleines Kind lebte ich sehr sicher in meinen inneren Welten. Ich war in gutem Kontakt mit meinen inneren Räumen. Ich verstand sie nicht. Ich „wusste“ nicht, was ich dort erlebte. Ich „erlebte“ einfach. Manchmal erlitt ich einfach nur. „Da“ waren sie schon immer, diese vielen inneren Räume, so weit meine Erinnerung reicht und weiter noch, früher noch, ungedacht, unerinnert. Ich erlebte die Welt klar abgegrenzt in Innen und Außen. Es gab meine innere Welt, in der ich mit mir und allem, was dort war, alleine lebte – und es gab die äußere Welt, in der die anderen Menschen lebten, zu denen ich irgendwie gehörte – doch eigentlich nicht wirklich. Irgendwie gehörte ich nicht zu diesen Menschen. Es schien mir schon als kleines Kind in gewisser Hinsicht wie ein Irrtum, dass ich war, wo ich war und wie ich war. Manche Geschehnisse im Außen hatten eine Entsprechung in meinem Innen. Es gab für mich eine Außen-Erfahrung und eine zugehörige Innen-Erfahrung. Aus meinem Innen konnte ich in das Innen anderer Menschen hineinschauen, ich konnte zum Beispiel ihren Schmerz „sehen“, auch wenn sie lachten oder schwiegen oder „böse“ waren. Das ging ganz einfach, durch die Außenhaut hindurch, direkt bis ins Herz hinein. Eine sehr frühe Kindheitserinnerung. Es war normal für mich. Irgendwann begann in mir zögerlich eine Frage zu entstehen: Wenn ich die innere Not der anderen sehe, warum sieht dann offenbar keiner meine? Nicht oft tauchte diese Frage auf. Meine simple Antwort – eher ein Rückschluss: Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin anders.

Die Trennung ist eine Illusion

Das Erkennen, dass alle Welten, außen wie innen, eine einzige Welt sind, ist ein unsägliches Glück. Ein Glück so groß, dass es nicht zu sagen ist. Trennung ist eine Illusion. Es sind einfach verschiedene Ebenen, Dimensionen, Qualitäten, Erscheinungsformen, Arten des Seins. Es ist ein Sein. Die Trennung existiert nur durch unser sich als getrennt erlebendes Bewusstsein. Sie existiert nicht an sich. Sie ist ein Trugbild. Je fester wir ihr anhängen, umso fester gestaltet sie sich in uns und zwischen uns. So fest, dass wir schon fast wieder alle verbunden sind durch das gemeinsame Erleben der illusionären Trennung. Verbunden sind wir durch unsere Innenwelten, verbunden sind wir ebenso durch unsere Außenwelten, verbunden sind wir durch unser Ringen und Suchen nach Verbindung. Wir alle tun alles so gut, wie wir können. Könnten wir es besser, wir täten es. Jeder Mensch. Das, was an Verbindungs-Erleben nicht möglich ist, ist im Moment nicht möglich. Wäre es jetzt möglich, wäre es schon.

Wir erleben unterschiedlich. Auch das ist unser Gemeinsames. Wir erleben in einer uns eigenen und unverwechselbaren Qualität. Das ist unser Verbindendes. Wir sind in je einzigartiger Weise Menschen mit unserem je ganz eigenen Weg und Werden. Das teilen wir mit allen anderen Wesen und Wegen. Wir sind eine Botschaft. Jeder Mensch ist seine eigene Botschaft. Das ist das Eine, in dem wir sind, durch das wir sind, das wir sind. Wir sind. – Unser ganz eigenes und einzigartiges „Ich bin“ ist und wird erst durch das „Du bist“ zugleich eigen und gemeinsam. Ohne ein „Ich bin“ gibt es kein „Du bist“. Ohne ein „Du“ bin ich kein „Ich“. Weil das „Ich“ und das „Du“ eines sind. Im Erleben der Gleichzeitigkeit, der Nicht-Zeitigkeit, der Ewigkeit des „Ich“ im und erst durch das „Du“ löst sich jede Trennung auf. Leicht. Sanft. Wie der weichende Atem sanft. Wie das Ausatmen im Sterben. Vielleicht löst sich erst mit unserem letzten weichenden Atemzug die Trennung vollständig auf. Vielleicht sind wir schon vom ersten Atemzug an verbunden mit der gänzlichen Auflösung dieses nur vorübergehenden Trennungserlebens. Behutsam, mit jedem Atemzug. Vielleicht ist das Gegenwärtigsein des Todes deshalb so bedeutsam für ein lebendiges Leben. Weil wir erst durch das Hineinnehmen des Todes, als Realität des letzten weichenden Atemzuges, als Vollzug der letzten sich auflösenden Erfahrung des Getrenntseins, die Verbindung in ihrer Fülle hier im Leben erleben können. Mit jedem Atemzug, der durch uns kommt. Mit jedem Atemzug, der durch uns geht.

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