Die Hoffnungsvollen

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„Studentenjobs auf einer archäologischen Ausgrabung“, stand in großen schwarzen Lettern am Aushang des Seminargebäudes. Darunter das Kleingedruckte, eine archäologische Notbergung im Tagebau Seese-Ost. Wie der Student neben ihr, schrieb sie sich sofort die Adresse auf.

„Was sind denn Notbergungen?“, fragte sie ihn.

Der Student sah sie von der Seite an. „Studierst du nicht Ur- und Frühgeschichte?“

Alex schüttelte verlegen den Kopf, und ihr Blick blieb an seinem verschlissenen blaugestreiften Shirt hängen, das sie an einen Matrosen erinnerte.

„Notbergungen sind Rettungsgrabungen im Vorfeld von Bauvorhaben“, klärte er sie auf. Und als Alex ihn immer noch fragend ansah, sprach er weiter: „Da greift das neue Denkmalschutzgesetz. Seit der Wiedervereinigung schreibt es für die neuen Bundesländer vor, dass jede Fläche, auf der gebaut werden soll, zuvor archäologisch prospektiert, also untersucht werden muss. Und falls archäologische Funde bei der Sondierung entdeckt werden, dann sind die Bauherren verpflichtet, sie ausgraben zu lassen, auf eigene Kosten natürlich. Überall, wo Gewerbegebiete und Einkaufszentren auf der grünen Wiese entstehen, wird jetzt im Vorfeld gegraben.“

„Und der Tagebau?“, fragte Alex weiter.

„Ja, gerade ein Tagebau zerstört den Boden. Dort wird heute großflächig gegraben.“

Eine Woche später hatte sie Grund zum Feiern. Sie war eingestellt und niemand hatte nach ihrem Studienfach gefragt. Aktiver Urlaub, dachte sie, keine Arbeit, die sie ausschließlich tat, um Geld zu verdienen. Sie reiste zum Braunkohletagebau Seese-Ost in die Lausitz.

Am späten Abend erreichte sie den Bahnhof Vetschau. Sie stieg als Einzige aus und stand mit ihrem Gepäck in der Dunkelheit auf einem menschenleeren Bahnsteig. Als der Zug wieder anfuhr, flogen drei Tauben auf, und als seine Geräusche in der Dunkelheit verklangen, zirpten die Grillen. Alexandra sah sich um. Die Türen des Bahnhofs waren mit Brettern vernagelt. Sie ging um das Gebäude herum und sah einen neu geteerten Parkplatz mit frischen leuchtend weißen Linien, auf dem ein einziger Kleinbus stand. In der Kabine brannte Licht und jemand schien darin zu lesen. Alex ging auf den Kleinbus zu. Der Fahrer blickte auf, legte sein Buch weg und öffnete die Tür. Zögernd stieg er aus und wartete, bis Alex herangetreten war. Er war jung und kräftig gebaut, fast etwas dick.

„Hallo, ich bin Alex. Sollst du mich zum Tagebau Seese-Ost abholen?“

Er lächelte sie an. „Ja, wenn du die Archäologen meinst?“

„Dann bin ich richtig.“ Erleichtert atmete sie auf und lachte verlegen. Kurz hatte sie gedacht, sie sei am falschen Bahnhof und stecke jetzt hier mitten im Niemandsland fest. Umso fröhlicher hob sie nun ihr Gepäck hinter den Sitz und stieg auf den Beifahrersitz. „Wie heißt du“, fragte sie den Fahrer.

„Dieter. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Geübt lenkte er den Wagen vom Parkplatz hinunter und Alex ließ sich in den Sitz sinken, froh an diesem verlassenen Ort mitten in der ostdeutschen Provinz nicht darauf warten zu müssen, irgendwann abgeholt zu werden.

„Ist das deine erste Grabung?“, fragte Dieter und sah sie von der Seite an. Sein Gesicht hatte die rosig zarte Haut eines pausbäckigen Kindes vor der Pubertät.

„Ja!“ Ein völlig verwilderter Wald zog am Beifahrersitz vorbei, und Alex betrachtete die dunkelgrüne, durchbrochene Silhouette aus Bäumen und Unterholz.

„Hier sagen sich ja Fuchs und Hase ‚Gute Nacht‘“, lachte sie. „Gibt es noch mehr als nur Wildnis?“

„Ja, uns!“ Dieter zwinkerte sie an. „Hier wird bald alles weggebaggert. Deshalb sieht es so verwildert aus. Der Tagebau frisst sich ohne Gnade durch die Landschaft. Was studierst du?“

Und Alex begann, von ihrem Studium zu erzählen, von ihren Geldsorgen und von ihrer Freude, diesen Job auf der Grabung gefunden zu haben, während Dieter sie immer wieder betrachtete. Alexandra meinte, ein gewisses Interesse in seinem Blick zu erkennen, ein Interesse, das sie erst seit wenigen Jahren kannte und auf sich selbst bezog. Sie lächelte in sich hinein, während Dieter ihr von seiner Ausbildung zum Koch erzählte und dabei nicht vergaß, ihr anzudeuten, welches Glück die Frauen hätten, die er mit einem Drei-Sterne-Menü beehrte.

Nach etwa dreißig Minuten bog der Wagen in einen Sandweg ein, holperte durch ausgefahrene Löcher und beleuchtete mit seinem heftig auf- und abwärtsschwankenden Lichtkegel hüfthohes trockenes Gras. Dann erfasste das Licht eine alte, weiß gestrichene Baracke, ähnlich, aber um einiges größer, als das Schreberhäuschen ihrer Eltern. Die Bremsen quietschten und der Transporter hielt ruckartig an. Alex öffnete die Tür, kletterte vom Beifahrersitz, zog ihren Rucksack hinter dem Sitz hervor, hob ihren Kopf und atmete die süßlich-schwere sommerliche Nachtluft ein. Die Grillen zirpten auch hier, kein Bus, keine Bahn hätten sie hierher gebracht, dachte sie, das Stadtkind, und wunderte sich, wie sie so unversehens ans Ende der Welt geraten konnte. Doch als Dieter ihr in der Dunkelheit die Barackentür öffnete, schlugen ihr Wärme, Licht und fröhliche Stimmen entgegen. Glück stieg in ihr auf und sie wusste, sie wollte ein Teil davon sein.

„Ich bring dich in mein Zimmer.“ Dieter lief an ihr vorbei, den langen hell erleuchteten Gang entlang auf eine Tür zu. Er öffnete sie, und Alex sah in einen schmalen Raum, in dem von der Tür bis zum Fenster zwei Betten hintereinander Platz fanden. Direkt an der Tür lag eine schlanke Gestalt mit langen Haaren und schlief. Dieter wies auf das Bett am Fenster. „Dort schlafe ich.“

„Übernachtest du hier mit einer Studentin?“, fragte sie verwundert. „Dann habe ich wohl keinen Platz bei euch.“

„Keine Sorge“, sagte Dieter. „Das ist Sven. Den kriegen wir hier schon raus. Ich stelle dir erst mal eine Liege mit rein.“ Dann verschwand er und kam mit einer aufklappbaren Liege zurück, die er neben die schlafende Gestalt an die gegenüberliegende Wand stellte. Zwischen Bett und Liege blieb ein etwa fünfzig Zentimeter schmaler Gang. Alex setzte ihren Rucksack ab. „Lass uns erst die anderen begrüßen“, bat sie Dieter und sie gingen gemeinsam in die Richtung, woher sie das Gelächter hörte.

Die Küche war ein etwa dreißig Quadratmeter großer Raum, in dem um einen langen Tisch sieben Studenten mit glühend roten Wangen saßen und Bier aus Flaschen tranken. Als Dieter und Alex den Raum betraten und sie vorgestellt wurde, prosteten sie ihnen zu.

„Setzt euch. Wir haben noch Bier da!“, rief ein schlaksiger blonder Student.

Alex reichte jedem die Hand und setzte sich. Der Schlaksige öffnete ein Bier und hielt es ihr entgegen.

„Danke“, sagte Alex und sah sich um.

Dem Tisch gegenüber standen eine Kochgelegenheit und eine Spüle. Das Durcheinander von Töpfen und rot gefärbten Tellern verriet ihr, dass es am Abend Spaghetti mit Tomatensoße gegeben hatte. Dann stimmte sie in das schallende Gelächter der jobbenden Studenten ein, blödeln konnte auch sie, und noch bevor sie zu Bett ging, war alle Unsicherheit verflogen und sie fühlte sich angekommen.

Die körperliche Arbeit auf der Notbergung im Vorfeld des Tagebaus Seese-Ost tat ihr gut. Jeden Morgen wurden sie von einem Gong geweckt, schlichen verschlafen zu den Duschräumen, zogen sich an, frühstückten gemeinsam und fuhren dann mit einem uralten Barkas auf die Grabungsfläche. Morgens sangen sie den erzgebirgischen Volkslied-Oldie von Anton Günther „’S is Feieromd“ und am Abend sangen sie das Arbeiterlied „Wacht auf, wacht auf, der Kampf beginnt“. Torsten, der immer vorne saß, hielt sich beim Singen das klobige Telefon des Kleinbusses vor den Mund und dirigierte das Konzert. Sie hatten Spaß und kitzelten aus allem, was sie taten, den Reiz des Besonderen heraus, und diese Art, mit dem Leben umzugehen, weckte in Alex eine bisher ungekannte Lebensfreude.

Der Tagebau war ein riesiger, 50 Meter tiefer Krater, mit einer Ausdehnung, die Alex von der Grabungsfläche aus nicht vollständig überblicken konnte. Die Kante der Grube zeigte den geologischen Schnitt der Bodenaufschichtung bis ins Tertiär. Aus der Schule wusste sie, dass Braunkohle, der wichtigste Energielieferant der DDR, durch Druck und Luftabschluss aus dem organischen Material Millionen Jahre alter Vegetation entstanden war. Die obersten 30 Meter bestanden vor allem aus verschieden getönten, sandigen Erdschichten, darunter lag die bräunlich-schwarze Kohle, ein Flöz von circa sieben bis acht Metern. Der abgelagerte Boden und die Kohle wurden getrennt abgetragen. Tief unten im Tagebaukrater schürfte ein kleiner Kohlebagger, und in die obere Schicht aus Erde und Sand fraß sich ein Eimerkettenbagger, so groß wie ein fünfgeschossiger Häuserblock. Die an einer Kette angebrachten beweglichen Schaufeln gruben sich tief in das Erdreich und schütteten es auf das Fließband eines Transportarms. Der reichte in Form einer riesigen Brücke von der einen Seite des Tagebaus bis zur gegenüberliegenden Seite. Dorthin transportierte das Fließband das abgegrabene Erdreich und ließ es auf die riesigen Abraumhalden fallen, die wie ein zerklüftetes Gebirge aus Sand und Erde am anderen Ende des Tagebaus emporragten. Die Schaufeln fraßen sich die Längsseite der Tagebaukante entlang und die Ausgräber wussten, dass sie einmal die Woche einen gehörigen Teil ihrer Grabungsfläche verschlangen. Sie gruben hastig auf der Fläche, die der Eimerkettenbagger bei seiner nächsten Durchfahrt wegschaufeln würde.

Einmal die Woche stieg der Arbeitsdruck ins Unerträgliche, bis einer der Studenten rief: „Der Bagger kommt!“ Die riesigen Schaufeln fraßen sich immer näher an die Grabungsfläche heran. Dann rief die Grabungsleiterin: „Runter von der Fläche!“

 

Alex sprang auf, las ihre Werkzeuge und Fundtüten zusammen, packte sie in ihren Eimer und verließ wie die anderen ihre Fläche, um aus sicherer Entfernung zuzusehen, wie sich die Zähne der Schaufeln in das Erdreich bohrten, um große Stücke herauszureißen. Die akkurat zu Plana gekratzte Fläche löste sich in rieselnden Sand auf und verschwand mit jeder Schaufel in der Höhe, wo sie irgendwann auf dem Förderband landen würde.

„Sven ist noch dort“, rief Daniela, eine Archäologiestudentin.

Alexandra sah, wie Sven wenige Meter von den Schaufeln entfernt, große Scherben aus dem Boden zog und sorgsam in seinen Eimer legte.

„Ist der wahnsinnig?“, brüllte die Grabungsleiterin und begann ihn zu rufen.

Olaf, der Fotograf, zückte seinen Fotoapparat und schoss einige Bilder von Sven unter den riesigen Schaufeln.

„Sven“, brüllte Stephanie nochmals. Das Dröhnen und Quietschen des Baggers verschlang ihre Stimme. Sven sah kurz zu den Schaufeln, die nur noch sieben Meter von ihm entfernt gruben. Dann durchwühlte er nochmals hastig den Sand mit seinen Händen, las eilig letzte kleinere Scherben heraus, legte sie in seinen Eimer, packte ihn und rannte zu den anderen, wo Stephanie ihm sofort einen Vortrag hielt und damit drohte, ihn zu entlassen, wenn er noch einmal die Sicherheitsauflagen der Grabung unterlaufen würde. Doch schließlich umstanden alle seinen Eimer und betrachteten das zerscherbte, aber vollständige slawische Gefäß, das Sven in letzter Sekunde aus dem Sand gerettet hatte.

„Das war aber nicht gerade saubere Grabungstechnik“, grinste Torsten und spielte darauf an, dass Sven die Scherben mit den Händen aus dem Sand gewühlt hatte.

„Was man hat, hat man“, erwiderte Sven darauf und Olaf hielt triumphierend seinen Fotoapparat in die Höhe und sagte: „Zwar nicht gezeichnet und vermessen, aber in situ fotografiert. Sogar die Schaufeln des Baggers sind mit drauf. Das gibt ein gutes Foto für die Ausstellung.“

Der Puls der Grabung hatte sich wieder beruhigt, der Bagger war mit lautem Getöse durchgefahren und die Archäologen steckten ihre neuen Grabungsflächen ab. Erneut schaufelten sie das erste Planum und karrten die Erde von der Fläche, die sie zu kleinen Abraumhalden aufhäuften. Dann kratzten sie eine saubere Ebene, die vermessen, gezeichnet und fotografiert werden konnte. Im gelben Sand hoben sich dunkle Verfärbungen von Gruben ab. In diesen legten sie Schnitte an und kratzten sich in Intervallen von zehn Zentimetern tiefer und tiefer in den Boden, bis der anstehende Boden, der gelbe Sand, erreicht war. Sorgsam maßen sie jede Scherbe ein, die sie dabei fanden, und verpackten sie mit Fundzetteln in kleinen Tüten. Zum Schluss wurden die stehen gebliebenen Profile der Gruben gemessen, gezeichnet, fotografiert und abgebaut. So untersuchten und dokumentierten sie die Umrisse und den Inhalt germanischer und slawischer Abfallgruben und Grundrisse von Grubenhäusern, die zu Beginn der Zeitrechnung in den Sand gegraben worden waren, sich mit dunklem Humus verfüllt hatten und so als braune Schatten im sandigen Boden erhalten geblieben waren.

Alexandra hatte das Handwerk eines Grabungsarbeiters schnell begriffen. Die Arbeit machte Spaß und die Studenten hatten ihn auch. Sie lachten und blödelten, ein Scherz jagte den anderen.

„Kommt mal her“, rief Olaf, der eine Fläche fotografieren musste. Die Studenten stellten sich nebeneinander auf, breiteten ihre Jacken aus und versuchten, die Fläche mit Schatten zu bedecken. Sie krümmten und beugten sich, um auch den kleinsten Lichtfleck auf der Fläche zu tilgen. Dann nahm Olaf seinen Fotoapparat und hielt ihn auf die Gruppe, die in bizarren Posen erstarrt dastand, wie die in Bronze gegossenen Figuren der kommunistischen Arbeiterbewegung mit Fahnen und zum Himmel gereckten Fäusten.

„Mir reichen die ewigen braunen Flecken in der Erde“, sagte Olaf oft. „Ich muss Menschen fotografieren.“ Er ordnete die Studenten zu Hockerbestattungen an, legte Grabbeigaben und die Fototafel dazu und schoss seine Fotos.

Am Freitag beschloss Alex, in der Baracke zu bleiben. Niemand hatte das Bedürfnis, während der freien Tage nach Hause zu fahren. Doch Alex hatte noch einen weiteren Grund. Sie fühlte sich leicht und wohl wie noch nie. Oft wanderten ihre Gedanken zu Sven und sie suchte ihn mit ihren Blicken. Seine schmale Gestalt, in lässige Hemden und verwaschene, löchrige Jeans gekleidet, und sein welliges Haar, locker zu einem Zopf gebunden, verliehen ihm das Aussehen eines großen Jungen. Sven war Archäologiestudent und Schnittleiter. Seine langen Haare hatten dafür gesorgt, dass Alex ihn in der ersten Nacht für ein Mädchen gehalten hatte. Seit dieser Nacht schlief sie auf der Liege neben ihm. Manchmal betrachtete sie vor dem Einschlafen lange sein Gesicht. Sven war wortgewandt, erzählte gern und hatte einen mitreißenden Witz. Sie konnte neben ihm lachen, und es wurde ihr in seiner Nähe nie langweilig. Dann wurde er wieder wortkarg und abweisend. Doch zur Archäologie konnte sie ihm jede Frage stellen. Er erklärte ihr anhand der Brennqualität der Scherben und anhand ihrer Verzierungen, wie sie historisch einzuordnen waren, und er war es, der sie in die Grabung eingeführt hatte. Er hatte ihr das Zeichnen und Vermessen beigebracht. So hatte sie fortan vielfältigere Aufgaben und war nicht mehr darauf beschränkt, den ganzen Tag nur Plana zu kratzen.

An einem Morgen hatte Alex eine vergessene Waschtasche gefunden. Um herauszufinden, wem sie gehörte, sah sie hinein und fand neben Zahnbürste und Einwegrasierer eine Packung Tabletten. Sie las die Aufschrift unter dem Medikamentennamen, „Antidepressivum“. Dann packte sie die Tabletten zurück und ging in die Küche.

„Ich habe eine Waschtasche gefunden, seht mal nach, ob ihr eure vermisst.“ Kurz erklärte sie, wo sie der Besitzer finden könne. Am nächsten Morgen erkannte sie die Waschtasche wieder, in der Hand von Sven. Schnell wich sie seinem Blick aus, als könne er ihre Entdeckung in den Augen lesen.

„Wollen wir am Wochenende grillen?“ Torsten stand in der Küchentür. Die Studenten blickten kaum auf. Müde hingen sie an diesem Freitagnachmittag auf ihren Stühlen und ließen ihre Arme hängen. Auf dem Tisch standen halb leere Wasserflaschen, Kaffeetassen mit braunen Rändern und schmutzige Teller.

„Dann müssen wir heute noch einkaufen. Am Samstag hat der Supermarkt nur bis um elf auf. Oder will jemand morgen früh aufstehen?“, grinste er in die Runde.

„Ich habe gestern bis um zehn Scherben gewaschen“, sagte Daniela und nahm einen Schluck Wasser, „und vorgestern habe ich gekocht“, ergänzte sie.

„Scherben haben wir gestern alle gewaschen“, sagte Sven.

„Außer Olaf, der hat wieder am Kopierer gespielt.“ Daniela kicherte.

Olaf richtete sich auf und erklärte: „Schließlich habe ich ein Kunstwerk geschaffen. Zu irgendwas muss ja der Fortschritt nützlich sein.“

„Du hast dein Gesicht kopiert“, sagte Alex.

„Ich habe einen Schattenriss kreiert, besser als jeder Scherenschnitt“, verteidigte sich Olaf.

„Wer kauft nun ein?“

„Wenn ihr Geld sammelt, dann mache ich das.“ Alex erklärte sich mit einem Seitenblick auf Sven bereit: „Kommst du mit? Ich kann nicht Auto fahren.“

Sven sah sie kurz an.

„Ich kann dich fahren“, rief Dieter schnell, der Alex seit Tagen nicht von der Seite wich.

Aber Sven war schon aufgestanden.

„Ich mach das schon“, grinste er zu Dieter und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Lass uns lieber die Fahrräder nehmen. Dann können wir auf dem Rückweg übers Feld fahren und noch in der Molkerei vorbei.“

Alex’s Augen leuchteten auf. Sie liebte die frisch entrahmte Milch der Molkerei. Außerdem hatte sie nichts dagegen, wenn der Einkauf mit Sven etwas länger dauern würde. Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und wendete sich ab.

Auf dem Weg zum Supermarkt mussten sie ein verlassenes und völlig verwildertes Dorf durchfahren. Es stand seit zwei Jahren leer und war völlig von Kraut und Strauchwerk überwuchert. Nur eine Gruppe Archäologen hatte bis vor Kurzem noch in einem der Häuser gewohnt. Sie hatten den Friedhof neben der Kirche ausgegraben. Jetzt war das Dorf völlig verwaist. Sie fuhren auf der Dorfstraße entlang, aus deren löchrigem Pflaster grünes Gras wucherte. Um die bröselnden Mauern sah Alex eine graue Katze streifen. Einige Vögel zwitscherten in den mit unreifen Äpfeln überladenen Bäumen.

Als Sven zu ihr aufschloss, wendete sie ihr Gesicht von der wilden Pracht ab. Sie hatten bislang nicht viel geredet, und Alex spürte, wie sie sich überwinden musste, um ein unbefangenes Lächeln in ihr Gesicht zu legen.

„Schade, dass die Kirschernte schon vorbei ist“, sagte sie. „Es gibt nichts Leckereres als Süßkirschen.“

„Ja, dann hättest du im Juni vorbeikommen müssen“, lachte Sven und holperte auf den Pflastersteinen schweigend an ihr vorbei. Kurz betrachtete sie seinen Rücken, das wehende gestreifte Hemd, seine im Luftzug flatternden Haare, die knabenhafte Haltung auf dem Rad.

„Wann der Bagger das Dorf wohl holen wird?“

„Das dauert kein Jahr mehr.“

Eine Weile fuhr Alexandra schweigend neben ihm. Von der Seite betrachtete sie sein fein geschnittenes Gesicht, die schlanke Nase unter den blauen Augen, die sich hell von der braunen Haut abhoben. Sein Haar war von leuchtend hellbrauner Farbe und von dunkelblonden Strähnen durchzogen. Es sträubte sich gegen den Haargummi, der es zusammenhalten sollte. Einzelne Strähnen hatten sich aus dem Zopf gelöst. Sie flatterten im Fahrtwind.

„Wie lange studierst du schon?“

Sven sah sie an, dann sagte er: „Ich bin seit meiner Kindheit in der Archäologie. In der vierten Klasse war ich schon in der AG ‚Junge Archäologen‘.“ Diese Erinnerung schien ihn fröhlich zu machen, denn er lächelte über das ganze Gesicht, und Alex fühlte sich ermutigt weiterzufragen: „Dann hast du schon zu DDR-Zeiten begonnen, Archäologie zu studieren?“

„Nach dem Abitur habe ich erst lange als einfacher Grabungsarbeiter gearbeitet, weil ich keine Zulassung zum Studium bekommen habe. Die wollten mich nicht nehmen, weil ich mich geweigert habe, drei Jahre zur Armee zu gehen. Außerdem gab es politische Probleme in der Schule. Ich habe eine hundsmiserable Beurteilung bekommen“, erzählte er. „Dann bin ich auf einer Grabung in Brandenburg, das heißt, damals im Bezirk Potsdam, Schnittleiter geworden, und der Grabungsleiter dort war gleichzeitig der Museumsdirektor von Potsdam Babelsberg, dem Museum für Ur- und Frühgeschichte. Er hatte Einfluss, war ein Parteikader. Und er hat mich dann mit Nachdruck zum Studium empfohlen.“

Nachdenklich blickte Alex auf: „Und die politischen Probleme? Warst du für ihn plötzlich politisch unproblematisch oder sogar“, sie lachte, „ein wertvolles Mitglied unserer sozialistischen Gesellschaft?“

Wieder grinste Sven und schüttelte den Kopf: „Nein, Benno war zwar Kommunist, aber auf der Grabung war er nur Archäologe. Da hat ihn nur interessiert, was ich als Schnittleiter konnte. Er hat an die sozialistische Idee geglaubt, aber das hat er uns gegenüber nicht raushängen lassen. Am Abend, wenn wir am Lagerfeuer saßen, hat er genauso gemeckert wie wir. Vieles in den Entwicklungen der Achtzigerjahre hat er kritisch gesehen und wir haben ja nicht nur gejammert, wir haben diskutiert. Er war weder ein Ideologe noch ein Dogmatiker, was unsere Einstellung zum Sozialismus anging, und für mein Studium hat er sich ganz schön ins Zeug gelegt. Er musste damals lange Gutachten über meine Leistungen und Fähigkeiten schreiben und natürlich auch die notwendigen Passagen über mein politisches Verantwortungsbewusstsein. Er wusste ja genau, wie man so was formulieren musste. Mit den Parteileuten hatte er zur Genüge zu tun.“

„Und dann?“, fragte sie.

„Dann haben sie mich sofort genommen. Vorher bin ich zweimal abgelehnt worden, und eigentlich wollte ich mich gar nicht mehr bewerben und einfach als Grabungstechniker und Schnittleiter weitermachen. Aber dank Benno habe ich doch noch einen Studienplatz bekommen. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier.“

„Und was ist aus ihm geworden?“

„Nach der Wende haben sie ihn wegen Parteinähe rausgeworfen. Aber er hatte Glück. Er war sowieso so gut wie in Rente. Die Leitung des Museums hat dann ein Westdeutscher übernommen, wie überall in den öffentlichen Einrichtungen.“

Von Ferne sahen sie das Dorf, in dem sich der nächste Supermarkt befand. Eilig traten sie in die Pedalen, um noch rechtzeitig anzukommen, denn es war schon spät.

 

Voll bepackt mit Einkaufstüten fuhren sie eine halbe Stunde später auf den Feldern zur Molkerei. Alex hatten Svens Erzählungen nicht losgelassen. Sie wollte mehr hören und seine Art zu erzählen, gefiel ihr. Deshalb fragte sie ihn auf dem Rückweg wieder nach seinem ehemaligen Chef: „Was war das eigentlich für ein Typ, dieser Benno?“

„Benno?“ Sven hob die Augen zum Himmel, als könne er seinen ehemaligen Gönner dort wiederfinden. Dann sah er zu Alex herüber.

„Stell dir einen athletischen Mann vor, mit einer aschenbecherdicken Hornbrille auf einer bläulich-rot verfärbten Knollennase, der man ansah, dass er viel zu viel trank. Durch die Brille sahen seine Augen winzig klein aus, trotzdem war er fast blind. Ihr Plastikrahmen schnitt tief in seine Nase, und er konnte dich mit seinen Blicken durchbohren. Wenn er zornig wurde, dann zog sich sein vierkantiges Gesicht zusammen, er schob sein Kinn nach vorn und dann entlud sich sein Zorn wie ein Gewitter über dir. Auf der Grabung im Sommer war er völlig überreizt, zappelig von morgens bis abends und im Winter ist er dann in eine lähmende Lethargie verfallen und war nicht ansprechbar. Seine Kollegen haben gesagt, er sei manisch-depressiv und würde ständig Lithium schlucken. So hat er sich auch verhalten.“

„Ein komischer Kauz“, sagte sie und hoffte Sven würde weitererzählen.

„Ja, ein Choleriker, aber auch ein herzensguter Mensch. Ich will nicht wissen, für wie viele Leute er die Eisen aus dem Feuer geholt hat, wenn die Partei sie auf dem Kicker hatte.“

„Und als Archäologe?“

„Er war hochintelligent“, sagte Sven und grinste schelmisch. „Er hatte einen brillanten analytischen Verstand, wenn er über Befunde diskutierte, und auf der Grabung lief alles wie am Schnürchen. Er war ständig in Bewegung und hatte alles, selbst die Entwässerung der Grabungsfläche im Moor und die Pumpen, die er ständig reparieren musste, unter seiner Kontrolle. Er hat die Grabungsarbeiter angeleitet, besonders empfindliche Funde frei präpariert, eingemessen, fotografiert und gezeichnet. Er hat auch die Grabungsdokumentation selbst gemacht. Er hat gearbeitet wie ein Krake mit acht Armen gleichzeitig an acht Baustellen. Kein Wunder, dass er nach so einem Sommer zusammengebrochen ist. Im Frühling war er dann wieder fit für die nächste Saison. Seine Grabungen hat er sich nicht nehmen lassen, obwohl er nebenbei auch noch das Museum leiten musste.“

Sie stellte sich diesen Mann vor, der nur in der Archäologie lebte, so intensiv, dass er regelmäßig ein halbes Jahr ausfiel, um sich von einer tiefen Erschöpfung zu erholen. War Sven auch so? Und sie dachte an die Tabletten in seiner Waschtasche.

„Du hast ihn bewundert?“

„Und gefürchtet. Seine cholerischen Anfälle waren berüchtigt. Ich habe einmal erlebt, wie er einen Kollegen zur Sau gemacht hat, weil der denselben Vortrag nach zwei Jahren noch einmal gehalten hat. Er hat ihn vor versammelter Mannschaft zusammengedonnert, dass es zum Fürchten war. Ihm war egal, was die Leute denken, aber wenn sie nicht richtig gearbeitet haben, dann hat er sie fertiggemacht. Wegen politischer Probleme hat er dagegen nie jemanden angezeigt. Sein Museum war ein Sammelbecken für die absurdesten Gestalten und Weltanschauungen. Er schien solche Leute anzuziehen und er hat sie geschützt.“

Eine Weile schwiegen sie. Was für ein Kauz, den Sven ihr da beschrieb. Gab es in der Wissenschaft eine Zukunft für solche Originale? Im Stillen hatte sie intellektuelle Charismatiker immer bewundert und doch blieb sie in ihrem gesunden Respekt vor solchen Personen stecken. Sie hatte Angst vor ihnen, obwohl sie Alex auf geheimnisvolle Weise anzogen. Aber die Welt wäre öde ohne sie.

„Charismatiker wie ihn gibt es kaum noch in der Wissenschaft“, sagte sie deshalb. „Heute muss man eloquent sein, sich selbst darstellen können und man darf keine offensichtlichen Schwächen zeigen, erst recht keine psychischen.“ Aus den Augenwinkeln sah Alex, wie Sven zusammenzuckte und ihre Worte taten ihr sofort leid.

Doch Sven nickte bestätigend: „Weltgewandtheit passte Jahrhunderte nicht zu der verschrobenen Eigenbrötelei eines Wissenschaftlers. Heute ist ein anderer Akademikertyp dran. Wissenschaft ist Business geworden.“

Sie hatten die Molkerei erreicht und stellten die Fahrräder mit ihren Einkäufen an den Zaun. Dann gingen sie in ein flaches Zweckgebäude und rochen die frische Milch. Von der Tür aus sahen sie einen riesigen Kessel, in dem ein breiter verchromter Arm die Milch ständig in Bewegung hielt. Sie mussten einige Male rufen, bis sich ein Mann in weißer Arbeitskleidung zeigte.

„Wir hätten gerne Milch“, sagte sie und hielt ihm die Blechkanne hin. Der Mann muffelte nur, nahm ihr die Kanne aus der Hand und hielt sie unter einen Hahn an der Seite des Kessels. Dort zapfte er die frische Milch ab. Setzte den Deckel wieder auf und sagte: „Das macht eine Mark.“

„Lass uns mal probieren“, sagte Alex, als sie wieder draußen waren, und strich sich den Schweiß von der Stirn. Sie tranken beide ein paar Schlucke von der kühlen Milch direkt aus der Kanne.

„Lecker, ich könnte glatt die ganze Kanne austrinken.“

Von der Molkerei zur Grabungsbaracke mussten sie laufen, um die kostbare Milch nicht zu verschütten. Dort angekommen empfing sie der Lärm der Studenten, die sich inzwischen von der Grabung erholt hatten und sich auf das Abendbrot vorbereiteten. Sie setzten sich dazu und ließen sich von dem fröhlichen Geplänkel aufnehmen. Am Abend gab sie Sven ihre Anschrift, und als sie eine Woche später im Zug saß, fiel ihr ein, dass Sven ihr seine Adresse nicht gegeben hatte. Was wird, soll sein, dachte sie.