Die Hoffnungsvollen

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8

Im Oktober hatte das Semester begonnen. Ihr Weg zur Uni war nun ein Fußweg. In zehn Minuten lief sie durch die Ringbebauung und stand vor den Universitätsgebäuden. Doch heute ging sie nicht zur Uni. Sie hatte einen Beschluss gefasst. Tilo sollte sie beim Kauf eines Computers beraten, und deshalb hatte sie ihn im Seminar gebeten, sie zu besuchen.

Doch vorher wollte sie den Ofen in ihrem Zimmer anheizen. Aus dem Keller hatte sie Kohlen geholt, dann schaufelte sie die Asche ihres Vorgängers aus dem unteren Schacht, schichtete sorgsam Holz auf, legte Kohlen darauf und zündete das Holz mit Kohleanzünder an. Als das Holz brannte, schloss sie die Tür der Brennkammer und ließ die untere Tür weit offen stehen. So hatte sie es bei ihren Großeltern gesehen. Ihre Eltern dagegen waren aus ihrer letzten ofenbeheizten Wohnung ausgezogen, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Sie konnte sich an ihre Art zu heizen nicht mehr erinnern. Sie lauschte dem Knistern des Holzes, nahm sich ein Buch und setzte sich in ihre blaue Sitzgruppe, um auf Tilo zu warten.

Nach einer halben Stunde sah sie nach, ob die Kohlen durchgeglüht waren, dann wieder nach zwanzig Minuten. Jetzt schien es so weit zu sein, sie schloss die untere Ofentür, als es klingelte. Eilig sprang sie durch den weiten Flur zur Wohnungstür. Davor stand Tilo und lachte sie an.

„Hallo!“, freute sich Alex, ihn zu sehen. „Ich habe schon geheizt“, fügte sie stolz hinzu. „Leg deine Sachen ab.“

„Bei euch ist’s aber kalt.“

„Na, dann lass die Jacke erst mal an, bis es bei mir im Zimmer warm ist. Willst du Tee oder Kaffee?“

„Schwarzer Tee wäre schön.“

Alex schob Tilo in die Küche, bot ihm einen Platz am Tisch an und setzte Teewasser auf. Dann nahm sie zwei Teegläser aus dem Geschirrberg und wusch sie ab. Als das Teewasser kochte, suchte sie zwei Teebeutel und goss den schwarzen Tee auf.

„Ich freue mich auf meinen Computer“, plapperte sie dabei. „Dann kann ich endlich jederzeit zu Hause arbeiten und muss nicht mehr in diesen lichtlosen Computerpool.“

„Dort ist es doch gleißend hell“, erwiderte Tilo.

„Ja, eiskaltes, weißes Neonlicht! Aber nicht ein einziges Fenster. Das ist doch keine Arbeitsatmosphäre.“

„Wohlgefühlt habe ich mich dort auch nie.“

Sie sah sich durch Tilos Nicken bestätigt und redete einfach weiter. „Was meinst du, was er kostet? Natürlich brauche ich auch einen Drucker. Ich will Referate schreiben und sauber ausdrucken können. Ich bin so gespannt auf meinen ersten Ausdruck, und wenn ich mich erst einmal an die Arbeit mit einem Computer gewöhnt habe, was meinst du, wie dann mein Studium flutscht.“

Ihre Leidenschaft ließ Tilo schmunzeln, und er erwiderte: „Na, erwarte nicht zu viel von so einem Computer. Für dein Ethnologiestudium ist er nicht mehr als eine Schreibhilfe. Und programmieren kann er auch nicht von selbst.“

„Trotzdem, es wird ein ganz anderes Arbeiten sein. Ich werde in meinem Zimmer, bei meinen Büchern jederzeit am Computer sitzen können. Ich kann mir endlich Arbeit mit nach Hause nehmen, weniger Zeit in Bibliotheken verbringen; und auf die Krankenhausatmosphäre im Computerpool kann ich ganz verzichten. Wer hat sich überhaupt einfallen lassen, einen Arbeitsraum für Dutzende Studenten in einem fensterlosen Kellerraum einzurichten? Und das Ganze mit Neonröhren zu beleuchten? Da fehlen nur noch die weißen Fliesen.“

Tilo musste lachen, doch plötzlich verzog er das Gesicht. „Du, was riecht hier eigentlich so angebrannt?“

„Angebrannt?“ Alex blickte verstört um sich, sofort fiel ihr der Ofen ein. Sie stürzte zu ihrem Zimmer, öffnete die Tür, und eine Wolke dichten Qualms kam ihr entgegen. Hustend und mit den Händen wedelnd rannte sie zu den Fenstern und riss sie weit auf. Dann sah sie sich in dem dicht vernebelten Raum um.

Tilo stand in der Tür und lachte: „So, du hast geheizt?“

„Keine Ahnung, was hier los ist. Die Kohlen waren doch durchgebrannt. Wieso qualmt es so?“

Plötzlich stand auch Manne in der Tür. „Was für ein Gestank“, bemerkte er. „Was hast du denn gemacht?“

„Na, geheizt, was sonst!“

Manne trat zum Ofen, und nun sah auch Alex, dass der Qualm aus dessen Fugen herausdrang.

„Der Ofen ist völlig hin“, erklärte Manne und klopfte mit der Faust gegen eine hellbraune Kachel. „Der muss wahrscheinlich neu aufgebaut werden.“

„Aufgebaut?“ Alex rang um Fassung.

„Dein Vorgänger hat mit Holz geheizt. Das hat den Ofen ruiniert. Die Schamotte ist völlig ausgeglüht.“

Sie begriff immer noch nicht. Verstört betrachtete sie erst den Ofen und dann Manne.

„Na, das Innenleben des Ofens ist völlig hin. Verstehst du nicht?“, fragte er mit ungeduldiger Miene. „Im Ofen drinnen ist aus Schamottsteinen ein Kanal gebaut, in dem sich die Wärme halten und gleichzeitig der Rauch abgeführt werden kann. Die Kacheln sind nur die Verkleidung, die die Wärme ans Zimmer abgeben.“

Alex stöhnte: „Bloß das nicht!“

Manne nickte nur. Sein helles Gesicht wirkte gleichgültig. „Das wird dich eine schöne Stange Geld kosten. Im Prinzip muss hier ein neuer Ofen rein.“

Irritiert sah sie zu ihrem leeren Schreibtisch, auf den sie sich einen Computer wünschte, der ihr gesamtes Erspartes kosten würde. Dann blickte sie zum Ofen und wieder zum Schreibtisch.

„Jedenfalls solltest du den nicht mehr anheizen“, sagte Manne und klopfte wie zur Bestätigung noch einmal gegen eine der hellbraunen Kacheln, zwischen denen immer noch Rauch hervorquoll. Dann öffnete er die untere Ofenklappe.

„Jetzt ist Durchzug, und der Qualm kann abziehen. Heizen wird er so natürlich nicht mehr.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und verschwand zu Alex’ Ärger in seinen warmen Räumen.

„Und was jetzt?“, fragte Tilo.

„Was schon, ich kaufe mir einen Computer und verbringe den Winter eben ohne Ofen.“ Alex war wütend. Der Ofen konnte nichts dafür. Aber sie verfluchte ihren Vormieter.

„Wahrscheinlich irgend so ein ignoranter Typ, der dachte, alles besser machen zu müssen als die anderen. Und als der Ofen ruiniert war, ist er ausgezogen“, schimpfte sie in Tilos Richtung.

Aber eins war klar, ihren Plan, einen Computer anzuschaffen, würde sie jetzt nicht mehr umwerfen. Es würde schon gehen, es musste gehen, auch wenn der Winter vor der Tür stand.

9

Als Alex den neuen Computer auspackte, betrachtete Tilo sie von der Seite. Der Stolz, mit dem sie Teil für Teil aus den Kartons hob, rührte ihn. Wenn sie nicht so hübsch wäre, hätte er es längst aufgegeben, ihr zu helfen und säße stattdessen lieber im Rechnerpool, um an seinem neuen Datenbankprogramm zu arbeiten, dem Auftrag eines Kollegen seiner Mutter, der ein Wörterbuch erstellen wollte und ihm eine kleine Summe dafür versprochen hatte. Ob sie einen Freund hatte?

„Das ist der Bildschirm“, sagte er, als Alex sich am größten Karton zu schaffen machte. „Vorsicht, der ist schwer.“ Schnell eilte er ihr zu Hilfe und klappte den eben aufgeschnittenen Deckel auf. Dann packte er mit an, um ihn herauszuheben. Sie stellten ihn gemeinsam auf den Tisch, und Alex rückte ihn sorgfältig in die rechte Ecke, um seinen neuen Platz zu betrachten.

„Aber wo ist der Drucker?“ Tilo bemerkte verwundert die Ungeduld in ihrer Stimme.

„Der Drucker? Den können wir erst mal lassen. Lass mich erst den Computer anschließen.“

Nervös betrachtete Alex die restlichen Kartons, öffnete sie und beruhigte sich erst, als sie den Drucker gefunden hatte. Tilo schüttelte den Kopf und machte sich daran, die Kabel zwischen Computer, Tastatur, Maus und Bildschirm zu ziehen. Dann steckte er den Stecker in die Steckdose und zeigte Alex lächelnd den Powerknopf. Man kann ja nie wissen, ob sie es allein schaffte, ihn zu finden. Doch Alex winkte ab und erklärte süffisant: „Wie man den einschaltet, das weiß ich inzwischen.“

Das Gerät lief tadellos, im Geschäft hatte man bereits das Betriebssystem aufgespielt. Es fehlten die Office-Programme, die Alex gemeinsam mit dem Rechner gekauft hatte. Er suchte die Disketten heraus, setzte sich an Alex’ Schreibtisch und steckte sie in den Tower. Das Installationsprogramm lief, und er genoss Alex’ unverhohlene Bewunderung, mit der sie jeden seiner Klicks verfolgte. Als sie schließlich ihre Hände auf seine Schultern legte und sich über ihn beugte, um die Vorgänge auf dem Bildschirm genauer verfolgen zu können, sprudelte er beinahe über vor Glück.

Dann war die Installation beendet. Er zog die wichtigsten Office-Programme auf den Desktop, damit sie für Alex leichter zu finden waren, und um ihr eine Freude zu machen, öffnete er ein leeres Blatt in Microsoft Word. Lächelnd sah er ihr ins Gesicht. Ihre Augen strahlten verzückt, wie die Augen eines Kindes, das gerade ein lang ersehntes Geschenk erhalten hatte. Doch anstatt sich sofort vor das leere Blatt zu setzen, eilte sie plötzlich zu ihrer Kommode, zog ein Schubfach auf und holte nach einigem Suchen eine Diskette hervor.

„Kannst du mal mein letztes Referat aufmachen?“, bat sie ihn, und Tilo war ihr auch dabei gern behilflich.

„Und jetzt der Drucker“, sagte sie ungeduldig, öffnete den letzten Karton und holte den Tintenstrahldrucker heraus, den Tilo viel zu teuer fand. Ihm reichte ein Nadeldrucker, der wesentlich billiger auf Endlospapier druckte. Auch brauchte man für ihn keine Tinte, sondern bekam preiswert Bänder, die wesentlich länger hielten als jede Patrone.

Nachdem er ihn angeschlossen und installiert hatte, war Alex kaum noch zu bremsen. Sie hatte Kopierpapier gekauft, legte es ein und drängte ihn nun, sie vor den Bildschirm zu lassen. Dann schickte sie ihr Referat an den Drucker ab, und Tilo beobachtete, wie ihre Augen wieder zu leuchten begannen, als sie die ersten Seiten zärtlich in die Hände nahm.

 

„Wie Buchseiten sieht das aus“, sagte sie mit träumenden Augen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie nun auch noch das Papier geküsst hätte.

‚Nein, sie gehörte nicht in die Informatik‘, dachte er und wurde immer besessener von dem Gedanken, dass sie zu ihm gehören könnte. Mit ihr würde er endlich am Leben teilhaben, auf Konzerte gehen, das Studium genießen, und sie war eine Frau, die er stolz vorzeigen konnte. Seine Kommilitonen würden staunen, wenn er Hand in Hand mit ihr zur Vorlesung käme.

Dann überwältigte es ihn. Er trat einen Schritt auf sie zu und legte seine Hände an ihre Taille. Dann neigte er seinen Kopf zu ihrem Mund und spitzte die Lippen zu einem Kuss. Doch sie erschrak, erstarrte, und so abrupt, wie er nach ihrer Taille gefasst hatte, entwand sie sich ihm. Mit hochrotem Gesicht sah sie ihm erschrocken in die Augen, und er spürte, wie auch ihm unvermittelt die Hitze in die Wangen schoss. Ihre kurze, heftige Befreiung aus seiner Umarmung hatte ihm einen tiefen Schlag versetzt. Wie ein verletztes Reh wand er sich in seiner Schmach, wich ihren Augen aus, und plötzlich fiel ein zentnerschweres Gewicht in seine Seele, das ihm den Atem raubte. Sie wollte ihn nicht!

Alex räusperte sich betreten, und er sah sofort den Anflug des ihm so verhassten Mitleids in ihren Augen. „Ich habe einen Freund“, sagte sie mit sanfter Stimme, und tiefer Hass machte sich in ihm breit. Wieso warf man ihn immer zurück, nutzte seine Hilfe aus und wies ihn dann ab? Dachte sie etwa, dass er ihr jetzt noch beim Programmieren helfen würde? Laut und böse platzte es aus ihm heraus: „Das war mir klar, dass du mich nur ausnutzt!“

„Aber entschuldige, ich dachte wir wären Freunde?“, versuchte ihn Alex sofort zu besänftigen. Aber darauf wollte er sich nicht einlassen. Er ertrug es nicht mehr, von allem Reizvollen ausgeschlossen zu sein, erst recht nicht, an den Frauen zu scheitern. Wütend wendete er sich von ihr ab, kein Wort von Freundschaft wollte er hören. Er schnappte seine Jacke, und verließ, so schnell er konnte, die Wohnung und diese Frau, die er nicht haben konnte.

Tilo war seit diesem unglückseligen Kussversuch ausgeblieben, und Alex machte sich keine Illusionen, von ihm noch weitere Hilfe zu bekommen. Doch ihr Computer erinnerte sie Tag für Tag an diesen Informatikstudenten, der sich – unbemerkt von ihr – auf sie Hoffnung gemacht hatte. Doch sie liebte Sven.

Vor Weihnachten schneite es. Es wurde so kalt, dass Alex mit Jacke, Schal, Mütze und halben Fingerhandschuhen arbeitete. Nachts zog sie einen Pullover über ihren Schlafanzug und kroch mit Mütze unter drei Decken. Ihr Atem gefror an den Wänden ihres Zimmers. Am Morgen glitzerten dichte Eisblumen an den Fenstern.

Im Januar funktionierte ihr Computer nicht mehr. Der Bildschirm zeigte rosa-violette Rechtecke. Erschrocken brachte sie ihn in den Laden zurück, wo er nach einer Aufwärmphase tadellos lief. Die Kälte in ihrem Zimmer hatte ihr eine Zwangspause verordnet.

In den folgenden Wochen verbrachte Alex ihre Nachmittage in den warmen Bibliotheken, und an den Abenden und Wochenenden zog sie mit Freunden durch die Kneipen. In ihrem Zimmer war sie nur noch zum Schlafen. Falls sie früher nach Hause kam, dann heizte sie den Badeofen mit Kohlen an, um sich in einer heißen Badewanne aufzuwärmen. Nach dem Bad hielt sie es zwei Stunden in ihrem klirrenden Zimmer aus, ohne zu frieren.

Jedes zweite Wochenende besuchte sie Sven. Dann befeuerten sie seinen Ofen, bis er glühte, und wärmten sich aneinander. Im Februar schlief sie noch mit Mütze im Bett und erst Ende März wurden die Temperaturen wieder erträglich. Dann kam der Frühling und der Kastanienbaum glänzte mit seinen weißen Kerzen über dem matschigen Parkplatz vor ihrem Haus. Und eines Tages dachte Alex, der Winter sei überstanden.

10

Mit geschlossenen Augen und traumwandlerischer Sicherheit lief Professor Hans Ulrich vor der Tafel hin und her und erzählte monoton über die Verwandtschaftssysteme in Afrika. Ulrich war ein mittelgroßer, schlank gebauter und grau melierter Herr mit der würdigen Ausstrahlung eines Menschen, der es seit Jahrzehnten gewohnt war, vor Jüngeren zu dozieren. Seine flüssigen Bewegungen passten sich in den Raum zwischen Tafel und Rednerpult, Tür und Fensterfront ein, wie die schlurfenden zwanzig Schritte eines Tigers in der gesamten Breite seines Geheges. Ulrich blieb vor der Tafel stehen und konstruierte in Symbolen eine patrilineare und eine matrilineare Abstammungsgruppe um ein Ego. Dann nahm er seine Wanderung wieder auf und gab Beispiele für die Schemata.

Wenn er an der Tafel vorbeilief, blieb er stehen und wies auf die Symbole. Die Studenten hingen mit halb geschlossenen Augen auf ihren Stühlen oder beugten sich über die Tische. Einige bemühten sich sichtlich, nicht einzuschlafen, andere schrieben energisch mit, was Ulrich referierte.

Plötzlich hob er die Stimme. Ulrich stand mit weit aufgerissenen Augen vor der Tafel. Erstaunt starrten einige Studenten in sein Gesicht. Er drehte sich zur Tafel und kreiste mehrere Symbole ein. Ein Stein in der Kreide quietschte auf dem grünen Metall, dass es Alex fror. „Die Ehe zwischen einer Frau und mehreren Männern heißt Polyandrie. Bei der non-fraternalen Polyandrie besteht zwischen den einzelnen Ehemännern keinerlei Verwandtschaftsbeziehung“, deklamierte er. „Sind die Ehemänner Brüder, dann sprechen wir von der fraternalen Polyandrie.“ Ulrich schloss die Augen und begab sich erneut auf Wanderschaft. Die Studenten sanken wieder auf ihre Plätze zurück.

Ulrichs Vorlesungen waren nicht besonders spannend. Er dozierte denselben Vortrag, minimal ergänzt, wie bereits vor über zehn Jahren in der DDR. Dazu brauchte er keine Karteikarten wie einige seiner Kollegen, sondern kannte die Abfolge seiner Worte auswendig. Trotzdem war er bei den Studenten beliebt. Sie versammelten sich um ihn nach seinen Vorlesungen und ließen den Unterricht im Studentencafé ausklingen. Alexandra ging oft zum Stammtisch mit. Die Studenten setzten sich um einen Tisch, an dessen Stirnseite stets Ulrich saß und aus der Vergangenheit erzählte. Wie in der DDR üblich, hatte Ulrich sein gesamtes berufliches Leben an diesem Institut verbracht. Seit Mitte der Achtzigerjahre war er dessen ordentlicher Professor und Direktor.

„Die Ethnographie wurde in der DDR als dekadente Wissenschaft betrachtet“, zitierte er sich oft. „Man sagte, sie sei ein Fach im Dienste des Kolonialismus, rückwärtsgewandt und fortschrittsfeindlich. Wir dokumentierten ja präkapitalistische Gesellschaften und fokussierten auf traditionelle Konzepte. Das passte nicht zu einer Ideologie, die das, was sie für überkommen hielt, überwinden wollte.“ Wenn er das DDR-Deutsch zitierte, dann schoss Ironie in seine Stimme, wie es allen ging, die über ihre Vergangenheit in dem untergegangenen Staat reflektierten. „Man sagte, die Ethnologie sei eine Wissenschaft, die nichts mit den ‚um ihre nationale Befreiung ringenden Völkern‘ oder mit dem ‚Aufbau einer neuen sozialistischen Ordnung‘ zu tun haben wolle. Mit solchen Argumenten hat man uns ins Abseits gedrängt und langsam ausgehungert.“

„Und wie sind Sie dem begegnet?“, fragten ihn die Studenten.

„Als in den Sechzigern keine Studenten mehr immatrikuliert werden durften, haben wir begonnen ein Zusatzstudium für Geografen, Historiker, Lehrer, Bibliothekare und Absolventen von Nachbardisziplinen zu organisieren. Auf diese Weise hatten wir wieder Studenten und waren nicht mehr zu übergehen. Solange es Interesse an unserem Fach gab, konnte man uns nicht schließen. Das gab uns Sicherheit!“, erklärte er. „Aber auf der anderen Seite war unsere gesamte berufliche Laufbahn von höherer Stelle geplant und jeder Karriereschritt wurde von anderer Seite zugewiesen. Ob man fachlich reif für eine Beförderung war und ausreichend Einsatz für die ‚zukunftsweisende Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft‘ gezeigt hatte, um die nächste Stufe auf der Karriereleiter erklimmen zu dürfen, das bestimmten nicht wir, sondern andere. Parteikader und -gremien haben dabei genauso mitgesprochen wie Wissenschaftler. Wir selbst hatten den geringsten Einfluss darauf, wie sich unser Berufsleben entwickelte. Freiheit, Unabhängigkeit und individuelle Entwicklung, alles, was ihr heute schätzt, waren damals verpönt. Hatten wir Sonderwünsche, mussten wir uns durch Behörden und Parteigremien kämpfen und Empfehlungen von Parteikadern sammeln. Dann kam man uns mit dem Argument, ‚Warum sucht ihr einen Sonderweg und entzieht euch der sozialistischen Gemeinschaft?‘ Dieser Vorwurf war nicht zu unterschätzen. Er traf jeden, der eigene Ideen verwirklichen wollte. Die DDR funktionierte nach dem Rasenmäherprinzip, wer seinen Kopf über die Rasenkante herausstreckte, der konnte ihn leicht verlieren. Wer sich aber fügte und dem vorgegebenen Plan folgte, dessen Arbeitsleben verlief reibungslos und ferngesteuert, ohne größere Brüche und Wendungen.“

„Aber erst musste man einen Studienplatz bekommen“, sagte eine Studentin.

„Sicher, und wir haben nicht jeden aufgenommen. Die Studienplätze in der Ethnologie waren strengstens limitiert. Es gab Auflagen, wann und wie viel Studenten wir immatrikulieren durften. Es ging ja nicht nur darum, den Bedarf an wissenschaftlichen Nachwuchs zu decken und jedem Absolventen einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Sondern es durften nicht mehr Kandidaten ausgebildet werden, als für die Deckung des Bedarfs nötig und vorgesehen waren. Ein paar Studienabbrecher mit eingerechnet“, erzählte er und die Studenten sahen ihn fragend an.

„Dann hatte man großes Glück, wenn man einen Studienplatz in der Ethnologie bekam?“

„Ja, der größte Erfolg im Arbeitsleben eines Akademikers der Geisteswissenschaften war vermutlich, überhaupt zum Studium zugelassen zu werden“, gab er zur Verwunderung der Studenten zu.

„Brauchte man Beziehungen, um angenommen zu werden?“

„Uns wurde vorgegeben, wen wir zu nehmen hatten. Sicher spielten dabei auch die Interessen der Partei eine Rolle.“

„Das heißt also, wer die Fürsprache von Parteikadern hatte, zum Beispiel aus dem direkten Umfeld der eigenen Familie, der hatte auch Chancen auf ein Ethnologiestudium?“

Die Studenten waren hellhörig geworden: „Spielten schulische Leistungen und Begabung denn überhaupt keine Rolle?“

„Gute Noten musste man schon mitbringen. Aber gute Noten hatten viele. Wir konnten jedoch nur wenige Studenten aufnehmen. Unsere Kandidaten wurden handverlesen.“

Ein älterer Student mischte sich ein: „Wer keine Beziehungen hatte, musste automatisch aus weniger beliebten Berufen wählen, oder ihm wurde ein Ausbildungsplatz zugewiesen“, erklärte er augenscheinlich stolz darüber, dass er mitreden konnte. „Dann wurde ihm zum Beispiel gesagt, dass er nur in dem Fall studieren könne, wenn er sich für einen der vorgegebenen Berufe entscheidet. Eine andere Wahl hatte er nicht. Männer hatten die Möglichkeit, drei Jahre zur Armee zu gehen. Wer Unteroffizier war, der konnte eher noch seinen Berufswunsch äußern.“

Alexandra erinnerte sich an ihre Mutter, der es ähnlich ergangen war. In den Sechzigerjahren hatte sie nur deshalb einen Abiturplatz bekommen, weil sie sich bereits mit vierzehn Jahren dazu verpflichtet hatte, Pädagogik zu studieren, einer Kampagne zur Bekämpfung des chronischen Lehrermangels in der frühen DDR folgend.

„Und die wissenschaftliche Arbeit?“

Ulrich räusperte sich. Das Thema schien ihm unangenehm. Er nahm einen Schluck Kaffee. Dann sah er bedachtsam in die Runde.

„Forschungsreisen konnten kaum finanziert werden. Dazu brauchte man ja Devisen, die kaum zugänglich waren. Dazu kam, dass auch eine Genehmigung für eine Reise ins nichtsozialistische Ausland nur schwer zu bekommen war“, erzählte er. „Natürlich konnten wir unter den damaligen Bedingungen kaum Auslandserfahrung sammeln. Wie auch? Unsere westdeutschen Kollegen haben uns da einiges voraus. Unsere Forschungsquellen waren Bibliotheken, in denen es chronisch an aktueller westlicher Literatur mangelte, und Archive.

Von Entwicklungen des Faches erfuhren wir vor allem über Vorträge und Mund-zu-Mund-Propaganda. Entsprechend waren Vorträge sehr beliebt. Zu unseren Vortragsreihen kamen nicht nur Fachleute, sondern auch viele Laien. In den Sechzigerjahren haben wir einmal die Woche einen Vortrag am Institut für Ethnologie angeboten. Damals sprengten öffentliche Vorträge die Hörsäle. Unsere wenigen Studenten haben sich im Andrang der Öffentlichkeit völlig verloren. Gelehrige Unterhaltung, das war eine der wenigen Abwechslungen, die man in der DDR hatte. Bildung gehörte zum Lebensstil, nicht nur zu dem der Akademiker.“

 

„Es ist doch erstaunlich, wie interessiert die Leute damals waren. Man hat vielmehr gelesen als heute. Auch die einfachen Leute, Arbeiter, Handwerker haben sich gebildet“, warf eine Studentin ein.

„Nicht nur die Akademiker, auch die Arbeiter haben sich damals über ihre eigene Belesenheit und über das Selbststudium von Fachliteratur definiert. Sie haben Bücher abgeschrieben und als handschriftliche Manuskripte weitergereicht“, nickte ihr Ulrich zu, und Alex sah ihren bunt beklebten Ordner mit Exzerpten und Zeichnungen vor sich, den sie in den Jahren ihrer Kindheit aus der populärwissenschaftlichen Bibliothek ihres Stadtbezirks zusammengestellt hatte und der sie bis heute begleitete.

„Diese Leute kamen auch regelmäßig zu unseren wissenschaftlichen Veranstaltungen“, fuhr Ulrich fort. „Ich habe sie beobachtet, wie sie sorgsam mitgeschrieben und Fragen gestellt haben. Mit Wissen hat man sich in der DDR seine eigene Identität geschaffen. Daran lag es wahrscheinlich. Wissensdurst und Leselust gehörten zu unseren Grundbedürfnissen. Sie müssen sehen, alles in der DDR war reglementiert, und äußerlich zur Schau getragene Individualität hatte negative Folgen für jeden. Aber was die Menschen wussten, das konnte ihnen niemand mehr nehmen. Deshalb war es Breitensport, sich Wissen anzueignen, das über die berufliche Bildung hinausging. Man konnte, äußerlich angepasst, mit Bildung sein Selbst formen und sich von der Allgemeinheit abgrenzen. Wissen hatte immer den Vorteil, dass man es nicht wie Westkleidung öffentlich zur Schau tragen musste. Es war nur so öffentlich, wie man es selbst öffentlich machte.“

Bewundernd blickten die Studenten zu ihm auf. Seine Erzählungen waren fesselnd und standen im völligen Widerspruch zu seinem Schweigen in der Wissenschaft. Wie viele ostdeutsche Mitarbeiter des Instituts hatte Ulrich kaum Veröffentlichungen vorzuweisen. Aus einem schwer zu verstehenden Grund hatten sie sich dem Publikationszwang vieler westdeutscher Kollegen nach der Wiedervereinigung völlig verweigert. War es mangelndes Selbstbewusstsein? Die ostdeutschen Mitarbeiter beschränkten ihre wissenschaftliche Existenz auf die Lehre derjenigen Werke, die ihrer kritischen Lektüre Stand hielten, ohne dabei eigene Gedanken und Einsichten mit einzubringen. Die DDR-Ethnologen, das wusste Alex, hatten bis zur Wende in einem wissenschaftlichen Mangel gearbeitet und sie fragte sich nun, ob sie das Verpasste nachholen konnten oder überhaupt wollten? Waren sie resigniert, frustriert oder demotiviert? Was hatte ihre kreative Kraft verlöschen lassen?