Die Hoffnungsvollen

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17



Als sich an diesem Dienstagnachmittag der Hörsaal füllte, lag Anspannung im Raum. Sie dämpfte die sonst überschwänglichen Stimmen der Studenten, die sich heute leiser über ihre abendlichen Unternehmungen unterhielten. Der neue Professor wurde erwartet. Er sollte seinen Antrittsvortrag halten.



Lehrkräfte und Universitätsangehörige betraten gewichtig den Raum, besetzten die vordersten Reihen des Hörsaals und begannen, sich mit selbstbewusster Miene auszutauschen. Alexandra drängte sich mit den Studenten wie immer in den hinteren zwei Dritteln des Saales. Gewohnheitsmäßig ließen sie drei Reihen Platz zwischen sich und dem Dozenten, als sei Weisheit ansteckend.



Plötzlich wurde es still im Hörsaal. Alle Augen richteten sich zur Tür. Zuerst betrat der Prorektor den Raum. Er drehte sich noch einmal zur Tür und sprach mit gelassener und nun deutlich hörbarer Stimme zu seinem noch unsichtbaren Begleiter. Der Raum knisterte. Dann erschien eine hohe gebeugte Gestalt. Das musste er sein, Prof. Dr. Bodo Lange. Er schien das ihn erwartungsvoll anstarrende Publikum kaum wahrzunehmen. Professionell und sichtlich vertieft in das Gespräch mit dem Prorektor, trat er fast beiläufig durch die Tür, als gehörte er selbst nur zum Auditorium. Die Universitätsangehörigen nahmen ihre Gespräche wieder auf. Doch der Raum war stiller geworden. Fünfzig Studentenaugenpaare beobachteten unter leisem Raunen neugierig den neuen Prof. Im Gespräch mit dem wesentlich kleineren und kräftigeren Prorektor wirkte er wie viele lange Menschen, die sich, ihrer Größe bewusst, tief zu ihren Gesprächspartnern herabneigen.



Professor Lange trug ein beige kariertes Sakko über einem hellen Hemd mit dunklem Schlips in der Farbe seiner dunkelbraunen Hosen. In der linken Hand hielt er ein zusammengerolltes Skript. Herzlich, aber bestimmt schüttelten sich nun der Dekan und Lange die Hand. Während Lange mit dem Rücken zur Tür stehen blieb, trat der Prorektor an das Rednerpult. Der Hörsaal wurde still. Alle Augen richteten sich nach vorn.



„Meine Damen und Herren, werte Kollegen, liebe Studenten. Wir haben uns heute hier versammelt, um Herrn Professor Lange die Gelegenheit zu geben, sich an unserer Fakultät als neuer Institutsleiter des Instituts für Ethnologie vorzustellen. Die Ethnologie in Linden, die inzwischen auf ein ehrwürdiges Alter von immerhin achtzig Jahren zurückblicken kann, ist eines der bedeutendsten Institute unserer Fakultät und sie ist – wohlgemerkt – das älteste Institut für Ethnologie im deutschsprachigen Raum. Ein solches Institut ist genau der richtige Wirkungsort für einen Kollegen, der in der Wissenschaftsgeschichte ebenso zu Hause ist wie in seinen Forschungsfeldern in Afrika. Wir freuen uns auf eine enge und intensive Zusammenarbeit mit dem neuen Institutsleiter und Vertreter der Ethnologie, Professor Dr. Bodo Lange.“ Der Prorektor hob einladend seine Hand in Langes Richtung: „So, und nun möchte ich Ihnen Herrn Professor Lange nicht länger vorenthalten. Bitte, Herr Lange, treten Sie an das Rednerpult und beginnen Sie mit Ihrer Antrittsvorlesung.“



Der Saal klatschte begeistert, während der Prorektor Lange noch einmal die Hand schüttelte, bevor dieser zum Rednerpult schritt. Er legte seine Papiere auf das Pult, sortierte sie und begann seine Rede.



„Ethnologie baut auf Bildung auf, die sie abzubauen hat. An diese entscheidende Erkenntnis Johann Gottfried Herders hat uns Hans-Georg Gadamer erinnert. Aus der Spannung zwischen dem wissenschaftlichen Ansatz, der die Welt rational zu begreifen vorschreibt, und den Welten, die der Ratio nur einen unter vielen Werten zumessen, speist sich eine weitere Aufgabe der Ethnologie. Im Gegensatz zu allen anderen Wissenschaften möchte sie die westliche Sicht von Gott und der Welt nicht absolut setzen oder zum vorläufigen Höhepunkt normieren, sondern relativieren aus der Sicht von anderen Denktraditionen, die sie gleichbehandelt wissen möchte.“



Alexandra erstarrte, ‚Was wollte Lange Ihnen sagen?‘ Hilflos sah sie sich um. Ihre Kommilitonen hockten stumm auf ihren Stühlen. Niemand wagte, auch nur mit den Füßen zu scharren. Vor den Studenten lagen leere Blätter. Sie drehten ihre Stifte in beiden Händen.



„Das Wissen der Ethnologie ist die Frucht solcher Anstrengung, Horizontgrenzen zu überschreiten, Horizonte nebeneinander zu sehen, ja Horizonte zu wechseln. Nicht das gelungene Ergebnis, sondern der gewagte Versuch verdient hier Beachtung“, fuhr Lange fort.



Und Alexandra schüttelte unwillig den Kopf. Sie, die bislang gelernt hatte, in welchen Weltgegenden welche Wirtschaftsformen praktiziert wurden, wo wir Altersklassensysteme vorfinden und was diese von Generationsklassensystemen unterschied, welche Verwandtschaftssysteme existieren und worin sich Schriftreligionen von nichtschriftlichen Religionen abheben, verstand ihr eigenes Fach nicht mehr. Was immer auch der neue Professor sagen wollte, seine Worte erschienen ihr wie kunstvolle ätherische Gebilde, deren Sinn sie nicht greifen konnte. Und genau das war das Problem. Während Lange dozierte, fand Alexandra in seiner Rede keinen Angriffspunkt, an dem sie sich hätte festhalten können, um zu einem vertrauten Bild oder Gedanken zu kommen. Seiner Rede fehlte das Konkrete, das Anschauliche, das die Ethnologie für sie bis dahin immer greifbar gemacht hatte. Mit der Überzeugung einer Lernenden war sie gewohnt, nach Antworten auf die immer gleiche Frage zu suchen: „Worin unterscheiden und worin gleichen sich weltweit die Ethnien, in deren Gesellschaft, Wirtschaft und Religion sie im Unterricht eingeführt wurde?“



Das Publikum klatschte und riss sie aus ihren Gedanken. Lange hatte seinen Vortrag beendet. Dann wurde es wieder still. Der Dekan forderte zu Wortmeldungen auf. doch kein Student wagte es, die Hand zu heben. Darauf beendete er die Sitzung. Nach seinen ausführenden Worten steckten die Studenten betreten ihre leeren Blätter in die Taschen, nahmen ihre Jacken von den Stühlen und verließen schweigend und mit scheuen Blicken für ihren neuen Professor den Raum. Sie setzten sich in die Raucherecke und zündeten sich Zigaretten an. Die Studenten kannten sich inzwischen seit über zwei Jahren. Sie hatten zusammen bei Ulrich studiert und ihre Zwischenprüfungen in der Tasche. Doch die Ethnologie, wie sie sie kannten, gehörte nun der Vergangenheit an. Das war allen deutlich geworden.



„Habt ihr das verstanden?“, fragte Manja in die Stille. Sie hatte wie auch Alexandra vor wenigen Wochen ihre Zwischenprüfung abgelegt.



Einige zuckten mit den Schultern. Die anderen sogen an ihren Zigaretten. In der Ecke unterhielten sich jüngere Studentinnen über ein Konzert.



„Dem kann man erst richtig folgen, wenn man ihn liest“, sagte Kathrin entmutigt.



Stephan versuchte ihr Mut zu machen: „Vielleicht gewöhnen wir uns ja noch an seinen Stil. Jedenfalls haben wir mit ihm eine Chance, nicht den Anschluss an die westdeutsche Ethnologie zu verpassen.“



Doch Manja widersprach ihm: „Wie soll man denn bei dem eine Prüfung vorbereiten. Ich konnte nicht einmal mitschreiben.“



„Seine Vorlesungen sind vielleicht anschaulicher. Das war ja nur ein Antrittsvortrag“, wiegelte Stephan ab. „Wartet erst mal. Gebt ihm eine Chance.“



„Eine Chance?“, fragte Manja aufgebracht. „Er soll uns eine Chance geben!“



Die jüngeren Studentinnen kicherten und wendeten sich dann wieder ihrem Gespräch zu.



Michael, der etwas abseits saß, hatte bisher nichts gesagt. Seine Zwischenprüfung lag schon länger zurück, und er war einer der Lieblingsschüler Ulrichs gewesen. Ihn traf dessen Entlassung besonders hart. Jetzt mischte er sich in die Diskussion ein: „Es ist gar nicht sicher, dass gerade Lange ein Segen für uns ist. Wer kommt denn schon in den Osten? Doch nur diejenigen, die drüben keinen Job finden. Unsere Leute werden entlassen und die arbeitslosen Akademiker aus dem Westen strömen auf die frei werdenden Stellen. Die ostdeutschen Universitäten sind doch nur ein Arbeitsmarkt für sie, nichts weiter.“



„Trotzdem ist es gut, einen Westdeutschen hier zu haben“, mischte sich nun auch Alexandra ein. „Mit einer weitergeführten DDR-Ethnographie wären unsere Aussichten mau.“



„Wer wirklich eine Chance haben will, muss selbst in den Westen gehen. Dort lehren die guten Leute. Wer hierbleibt, ist selber schuld“, widersprach ihr Michael.



„Wir sollten Lange jetzt nicht als einen Wissenschaftler zweiter Klasse abstempeln, nur weil er eine Stelle im Osten angetreten hat“, sagte Stephan darauf. „Warten wir erst mal ab, was er uns zu bieten hat.“



„Jedenfalls können wir mit unserem Studium ganz von vorn anfangen. Ulrichs Ethnographie ist nicht mal mehr ein Auslaufmodell“, sagte Kathrin und zündete sich eine zweite Zigarette an.



Stephan schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, was euch eigentlich stört. Ihr könnt euch doch glücklich schätzen, dass ihr noch das gesamte Hauptstudium dafür habt, einen zeitgemäßen Ansatz zu finden. Ihr müsst es nur tun. Wir sind die erste ostdeutsche Generation, die diese Chance bekommt.“



„Na, ob das nicht zu viel Optimismus ist“, winkte Manja lakonisch ab. „Bei den Massen an Ethnologen, die schon im Westen ausgebildet werden, hat man auf uns gerade gewartet. Und warum nicht mit ostdeutscher Ethnographie punkten? Könnten wir uns nicht lieber ergänzen, als den Westen in allem zu kopieren?“



Kurz hatte Alex gezweifelt. Das tat sie sowieso viel zu oft, dachte sie. Aber nun begriff sie die Chance, die in diesem Personalwechsel lag. Sie sollte, sie musste sie nutzen und sich ein neues Verständnis ihres Faches erarbeiten. Sie konnte von Lange nur profitieren, und sie nahm sich vor, all das Gelernte zur Seite zu legen und einen Neuanfang zu wagen.





18



Vier Stühle standen vor dem Direktorenzimmer des Instituts für Informatik. Alexandra saß auf einem davon und blätterte nervös in ihren Aufzeichnungen. Zwei ganze Wochen hatte sie den Stoff zu Hinrichs Vorlesungen „Mathematische und Logische Grundlagen der Informatik“ gelernt, hatte Theorie gebüffelt, Beweise nachvollzogen und Beispiele in zahlreichen Wiederholungen trainiert. Mit der Zwischenprüfung sollte ihr Informatikstudium enden. Endlich wollte sie sich ausschließlich der Ethnologie widmen. Sie hatte alles versucht, aber es schien ihr unmöglich, ihre Aufmerksamkeit zwischen beiden Fächern zu teilen. Zunehmend war ihr deutlich geworden, wie unmöglich es war, sich auf der einen Seite dem Literaturstudium der Ethnologie und gleichzeitig dem Programmieren zu widmen. Sie brauchte für beide Fächer die Zeit eines vollen Studiums. Beide Fächer verlangten hundert Prozent von ihr. Zu unterschiedlich waren sie, ergänzten sich nicht, profitierten nicht voneinander und – Alex fühlte sich zerrissen zwischen zwei Lebensstilen. Aber sie wollte nicht einfach so aufgeben. Die Zwischenprüfung sollte der Beweis sein, dass sie das Informatikstudium nicht deshalb abbrach, weil sie es nicht schaffte. Sie wollte selbstbewusst aus dem Fach gehen und dafür brauchte sie eine gute Note.

 



Alex spürte, wie ihr Atem immer schneller wurde, während sie wartete und auf die Seiten des Hefters in ihrer Hand starrte. Ihre blaue Schreibschrift verschwamm vor ihren Augen. Jetzt bloß nicht aus der Ruhe bringen lassen, dachte sie, lehnte ihren Kopf gegen die Wand hinter ihrem Stuhl, schloss die Augen und atmete drei Mal tief durch. Dann klappte sie den Hefter schnell zu, denn sie hatte das Gefühl, dass jeder weitere Blick auf die Aufzeichnungen, das Chaos in ihrem Kopf vergrößern würde. Stattdessen versuchte sie nun, mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf noch einmal die Themen ihrer Prüfung zu memorieren und stellte sich die Hefterseiten bildlich vor. Als sie Schwerpunkt für Schwerpunkt ihrer Prüfung erfasst hatte, wurde ihr Atem ruhiger und sie spürte, wie ihr Selbstbewusstsein zurückkehrte. Da öffnete sich die Tür zum Direktorenzimmer und Hinrich bat sie herein. Sie trat in sein Büro, einen hellen, großen Raum, der gegenüber der Tür von einem klobigen Schreibtisch aus dunkler Eiche dominiert wurde. Raum und Schreibtisch schienen einander abzustoßen, denn sie gehörten unterschiedlichen historischen Epochen an. Immerhin lag der Raum in dem vorwendezeitlichen Universitätsgebäude, geprägt von ästhetisch sparsamer sozialistischer Architektur, und der Schreibtisch gehörte mit seinen üppigen Schnitzereien in die Vorkriegszeit.



Hinrich setzte sich auf einen breiten schwarzen Drehstuhl mit bequemen Armlehnen, der eindeutig eine nachwendezeitliche Anschaffung war. Von seinem Platz aus überblickte er den gesamten Raum, während Alex auf die Wand hinter ihm sah und die Tür im Rücken hatte, was wiederum in ihr das Gefühl auslöste, der Fluchtweg sei abgeschnitten. Neben Hinrich, auf einem niedrigeren schlichten Stuhl, saß oder hockte vielmehr sein Beisitzer, Dr. Stephan, ein Mann im mittleren Alter mit freundlicher Miene. Er stützte sich auf einen hellen, viel zu klein wirkenden Beistelltisch, dem man ansah, dass er eigens für die Prüfung in den Raum gestellt worden war. Das Durcheinander des Mobiliars zeugte für Alex von demselben mangelnden ästhetischen Bewusstsein, das sie schon bei vielen Informatikern beobachtet hatte. Sie spürte ob dieser Anhäufung von Stilbrüchen ein Lächeln ihren Mund umspielen und die Aufregung legte sich etwas. Konzentriert und fest entschlossen sah sie Hinrich an, der sich nun gelassen in seinem Stuhl drehte. Nachdem er sie eingehend betrachtet hatte, zeigte Hinrich auf eine kleine weiße Tafel, an die zu treten er sie bat. Dann befragte er sie routiniert, ob sie gesund und im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sei, nahm einen Stapel Karteikarten und begann von ihnen Fragen abzulesen, die Alex mit immer sicherer werdender Stimme beantwortete.



Die Prüfung lief gut, bis Hinrich sie bat, ihm das Induktionsprinzip für rekursiv definierte Mengen darzustellen. Sie erschrak, denn die erwartete Herleitung hatte ihr Kopfzerbrechen bereitet. In ihrem Hefter hatte sich ein Fehler eingeschlichen und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn auf die richtige Weise korrigiert hatte. Unschlüssig schrieb sie die fehlerhafte Version aus ihren Aufzeichnungen an die kleine Tafel.



„Mit dieser Induktion hatte ich Probleme“, erklärte sie Hinrich und dem freundlich nickenden Beisitzer. „Vermutlich ist sie fehlerhaft.“



„Wieso sollte sie fehlerhaft sein?“, fragte Hinrich und begann erst jetzt die Formeln an der Tafel zu studieren.



„Es scheint ein Teil zu fehlen“, erklärte Alex. „Vielleicht habe ich sie unvollständig in meine Aufzeichnungen übertragen.“



„Ich habe Ihnen die Induktion mit Sicherheit richtig exemplifiziert“, unterbrach sie Hinrich und seine Stimme wurde ungeduldig, sodass Alex erschrocken zum Beisitzer blickte. Der wiederum schien sie immer noch kopfnickend aufzufordern weiterzureden. Als sie betreten schwieg und Hinrich zornig begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, forderte Dr. Stephan sie freundlich auf, die Formeln zu berichtigen.



„Ich kann es versuchen“, sagte Alex und ergänzte über ihrem Schriftzug den fehlenden Auszug, wie sie ihn vor einigen Tagen rekonstruiert hatte.



„So ist es richtig“, nickte bestätigend der freundliche Beisitzer und Alex atmete erleichtert auf. Doch Hinrich schien nicht zufrieden.



„Wieso schreiben Sie die Induktion erst falsch an die Tafel? Sie kennen doch die richtige Systematik“, fuhr er sie scharf an. Zornig wandte er sich an seinen Beisitzer: „Lässt einen Teil weg, um dann vorzutäuschen, dass sie den Fehler selbst gefunden und berichtigt hätte.“ Seine Stimme klang aufgebracht.



Erschrocken sah Alex ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet, ja, die Formeln hatte sie falsch in ihren Aufzeichnungen notiert und sicher, das könnte auf ihre eigene Unkonzentriertheit während der Vorlesung zurückzuführen sein. Aber dass ihr mit ihrem Versuch, den Fehler selbst zu finden und richtigzustellen, Betrug unterstellt werden würde, das ging nun doch zu weit. Unsicher blickte sie zur Tafel, als der Beisitzer sie fragte: „Haben Sie die Induktion selbst korrigiert?“



„Ja!“, beteuerte sie. „Der Fehler war genauso in meinen Unterlagen. Ich habe versucht, die Systematik zu verstehen und bin dabei auf Ungereimtheiten gestoßen.“



Doch Hinrichs Stimme blieb eisig. „Selbst wenn Sie den Fehler eigenständig gefunden haben. Sie hätten die Induktion sofort richtig an die Tafel schreiben sollen“, wandte er ein. „Das erwarte ich von meinen Studenten.“



Betreten suchte sie nach Worten. Sie wollte erklären, wie sie tagelang an ihren Aufzeichnungen gearbeitet hatte, jede Formel nachvollziehend, wie sie dabei auf den Fehler gestoßen sei, wie sie vergeblich in den Büchern gesucht hatte und ihren Kommilitonen nicht erreichen konnte, um die Aufzeichnungen zu vergleichen, und wie sie letztendlich selbst versucht hatte, das Problem zu lösen. Doch sie brachte kein einziges Wort heraus. Ihr Gesicht schien zu glühen und in ihrem Hals würgte es.



„Das glauben Sie doch selbst nicht“, ließ Hinrich keinen Zweifel daran, wie wenig er von ihren Leistungen hielt, und zu seinem Beisitzer gewandt fuhr er fort: „Vergessen Sie es, das war ein sehr unseriöser Versuch, hier Eindruck zu schinden! Die Studenten lassen sich immer absurdere Methoden einfallen, um zu täuschen.“



Der Beisitzer nickte mechanisch. „Das können wir jetzt nicht mehr klären“, versuchte er zu vermitteln. „Vielleicht sollten wir mit der Prüfung fortfahren.“



Um sie auf ihren Verhaltensfehler hinzuweisen, fragte Hinrich sie nun mit kalter Stimme nach der Russellschen Antinomie und ließ in den nächsten zehn Minuten von logischen Fehlervermeidungsstrategien nicht mehr ab, um weiter fortzufahren mit rekursiven Definitionen, Notationen, Wahrheitsbelegungen und der Semantik der Logik. Die Zeit dehnte sich endlos und Alex blieb nichts weiter übrig, als Frage um Frage zu beantworten und zu versuchen, sich vor den Prüfern zu beweisen. Doch Hinrichs Stimme blieb undurchdringlich. Ihr war, als rede sie gegen eine Wand der Ablehnung. Immer stockender gab sie ihre Antworten, bis ihr Hinrich mit einer Handbewegung das Signal gab, dass er keine weiteren Fragen mehr hatte.



Erschöpft trat sie auf den Flur. Auf einem der vier Stühle wartete bereits der nächste Prüfling und blätterte ebenso nervös wie Alex zuvor in seinen Aufzeichnungen. Es dauerte nicht lange und sie wurde zurück ins Büro gerufen. Trotzig stellte sich Alex mitten in den Raum und Hinrich begann mit seiner Einschätzung ihrer Leistung.



„Dr. Stephan hat sich sehr für Sie eingesetzt, was nach Ihrem Betrugsversuch nicht selbstverständlich ist. Dennoch waren Ihre Leistungen akzeptabel. Sie hatten uns gegenüber angedeutet, dass sie die Informatik mit der Zwischenprüfung verlassen möchten?“



Er schien ihre Antwort nicht abwarten zu wollen. „Das kann ich Ihnen nur empfehlen. Studentinnen wie Sie sind in den Geistes- oder Sozialwissenschaften besser aufgehoben. Deshalb mache ich Ihnen folgenden Vorschlag. Wenn Sie die Informatik verlassen, dann vergesse ich Ihre Täuschung und Sie bekommen von mir die Note Zwei. Falls S

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