Loe raamatut: «Das Leid von Müttern totgeborener Kinder»

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Annette Stechmann

Das Leid von Müttern totgeborener Kinder

Ein Ort der Theologie

Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

105

Herausgegeben von Erich Garhammer und Hans Hobelsberger in Verbindung mit Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Annette Stechmann

Das Leid von Müttern totgeborener Kinder

Ein Ort der Theologie

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2018

© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg

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ISBN

978-3-429-05308-6

978-3-429-04995-9 (PDF)

978-3-429-06405-1 (ePub)

Vorwort

Der religiöse Quellcode, über lange Jahrhunderte monopolistisch von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften verwaltet, ist in unseren Breiten seit einiger Zeit zur individuellen Nutzung freigegeben. Das hat zwei für christliche Pastoral einschneidende Konsequenzen: Zum einen greift ihre klassische Gottesrede nicht mehr selbstverständlich, da sie nicht mehr mit einem gemeinsamen Plausibilitätsraum rechnen kann – auch nicht in den existentiellen Situationen des Lebens. Zum anderen entwickeln sich außerhalb der christlichen Kontexte neue, eigenständige und auch noch weitgehend unbekannte individuelle religiöse Praktiken und Diskurse. Das lässt vermuten, dass spezifische Orte existieren, an denen Menschen zur Bewältigung ihres Lebens eigenständig Theologien entwickeln.

Die Studie von Annette Stechmann ist von beiden Erfahrungen her geprägt und entworfen. Als langjährige Krankenhausseelsorgerin mit Schwerpunkt auf der Begleitung von Müttern, deren Kinder tot geboren wurden, kennt die Verfasserin die Sprachnot traditioneller christlicher Gottesrede in solchen und verwandten Situationen gut. Andererseits hat Frau Stechmann in vielfältigen Gesprächen mit betroffenen Frauen deren Fähigkeit erlebt, ihre Situation auch mit der Entwicklung jeweils „eigener Theologien“ jenseits christlicher Orthodoxie zu bewältigen.

Es zeichnet diese Forschungsarbeit aus, sich naheliegenden Umgehungsstrategien zu verweigern und weder zu fordern, die Frauen vorsichtig, aber bestimmt auf den Weg zum kirchlichen Glauben zurückzuführen, noch dafür zu plädieren, die christliche Gottesrede mehr oder weniger verschämt zurückzunehmen und es bei jenen kommunikativen Prinzipien Empathie, Authentizität und Respekt zu belassen, die etwa die Humanistische Psychologie empfiehlt und wie sie die neuere Krankenhausseelsorge in berechtigter Ablösung älterer sakramentenpastoral orientierter Konzepte übernommen hat.

Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet vielmehr, wie es heute angesichts des Leidens von Müttern totgeborener Kinder noch oder wieder möglich ist, vom christlichen Gott zu sprechen, also weder zu verstummen, noch einfach auf vergangene theologische Sprachmuster zurückzugreifen. Diese Frage motivierte die Arbeit, treibt sie voran, und findet zum Schluss auch eine spezifische und weiterführende Antwort; sie besitzt zudem Relevanz weit über das engere Forschungsfeld hinaus.

Am „locus theologicus existentialis“ trauernder Mütter wird deutlich, dass es die Kraft weiterzuleben ist, die diese Frauen eint, obwohl oder gerade weil sie erfahren haben, wie zerbrechlich das Leben ist. Die hier interviewten Frauen entwickeln „eigene Theologien“. Sie verwenden dazu christliche, aber auch andere religiöse Traditionen und teilweise entwickeln sie selbst neue religiöse Diskurse. Ihre Theologien liegen quer zu einschlägigen theologischen Fach-Diskussionen. Die Zerbrechlichkeit wie das Neuwerden religiöser Sprache dokumentieren sich hier in einem.

Annette Stechmann hält zu Recht fest, dass die christliche Theologie angesichts der in den Interviews erhobenen, existentiell bewährten unorthodoxen Theologien der Frauen realisieren muss, dass sie mit ihren Traditionen nur noch auf fragilem Boden steht. In einem innovativen methodischen Schritt hat Frau Stechmann eine Reihe renommierter deutschsprachiger systematischer Theologen und Theologinnen eingeladen, diesen Boden zu betreten und sich den spezifischen Theologien der trauernden Frauen auszusetzen. Die Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen aus der Systematik dokumentieren die Bereitschaft zu hören, sich berühren zu lassen, verletzbar und angreifbar zu werden, ohne zu verstummen. Diese Theologinnen und Theologen hören, denken und lernen – um dann ihre Theologie zu wagen.

Dies und auch das Schlusskapitel der Autorin selbst belegen nachdrücklich Dorothee Sölles Feststellung, Theologie habe mehr mit Poesie und Kunst zu tun, als nur Wissenschaft zu sein.1 Wenn Annette Stechmann das Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Zärtlichkeit ortet und Zärtlichkeit dabei mit Isabella Guanzini als elementare Wahrnehmung der Endlichkeit, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge begreift, dann eröffnet sich von hierher eine Perspektive auch auf die Frage nach dem zukünftigen Design der wissenschaftlichen Theologie.

Annette Stechmanns Arbeit ist an der Schnittstelle von Systematischer und Praktischer Theologie angesiedelt, denn sie fragt nach den abduktiven, also überraschenden und nicht direkt planbaren Konsequenzen der neuen Situation der Rede von Gott für diese Rede selber. Sie reiht sich damit ausgezeichnet ein in jenen neueren Forschungsstrang der Praktischen Theologie ein, der, meist mit Mitteln der empirischen Sozialforschung, in den konkreten Praktiken des Volkes Gottes innovative und kreative Orte einer zukünftigen zeitgemäßen Pastoral eruieren und explorieren will.

Auf jeder Seite der hier vorgelegten Arbeit spürt man die langjährige pastorale Erfahrung der Verfasserin. Man spürt aber auch das Vertrauen in die christliche Gottesrede, ein Vertrauen, das freilich nur im Wagnis der ungeschützten und liebevollen Begegnung eingelöst werden kann.

Rainer Bucher

Graz, 10.1.2018

1 Vgl.: D. Sölle, Gegenwind. Erinnerungen (Gesammelte Werke, Bd. 12), hg. v. Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Freiburg/Br. 2010, 62.

Inhalt

Dank

1 Zugänge

2 Mit der Nussschale unterwegs auf bewegter See – Erfahrungen in der Klinikseelsorge

2.1 Eine alte Friedhofskapelle – viele junge Menschen

2.2 Mütter – Väter, Geschwister – Großeltern

2.3 Tränen – Gefühlskälte

2.4 Verstummen – Worte finden

2.5 Gott verantwortlich machen – ihn verteidigen

2.6 Gewalt, Wut und Ohnmacht – Liebe

2.7 Wann ist ein Kind ein Kind?

2.8 Der Griff in die Traditionskiste – moderne Bestattung ohne Gott

2.9 Sonderfall Spätabtreibung?

2.10 Resümee: Es fehlt das richtige Wort

3 Die Forschungsfrage

3.1 Fragestellung aufgrund der erlebten Praxis

3.2 Überblick über die aktuelle theologische Forschung zum Thema totgeborene Kinder und Sprachfähigkeit christlicher Gottesrede heute

3.2.1 Aktueller Forschungsstand in der Theologie zum Thema „totgeborene Kinder“

3.2.1.1 Der Umgang mit totgeborenen Kindern in der Vergangenheit – die Bedeutung von Jenseitsvorstellungen für die Trauer der Eltern und die Bestattungsform

3.2.1.1.1 Der Limbus – ein Sprechversuch der Theologie mit Bedeutung für die Jenseitsvorstellung von totgeborenen, ungetauften Kinder

3.2.1.1.2 Konsequenzen für den Umgang mit verstorbenen Kindern in der Vergangenheit seitens der Kirche

3.2.1.2 Ab wann ist ein Kind ein Kind?

3.2.1.3 Totgeborene Kinder in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart

3.2.1.3.1 Das Erleben von Eltern heute – wenn Lebensanfang und Lebensende zusammenfallen

3.2.1.3.2 Trauer von Männern und Frauen

3.2.1.3.3 Liebe

3.2.1.3.4 Sprachlosigkeit der Eltern und der professionellen „Kümmerer“

3.2.1.3.5 Internet

3.2.1.3.6 Glaubensfragen

3.2.1.3.7 Ansprüche der Gesellschaft an Kinder heute

3.2.1.3.8 Abtreibung

3.2.1.3.9 Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit – ab wann ist heute ein Kind ein Kind?

3.2.1.3.10 Begräbnisordnungen und Liturgie nach dem II. Vatikanum

3.2.1.3.11 Praxis der Seelsorge und anderer Berufsgruppen in der Klinik

3.2.1.3.12 Empfehlungen für das seelsorgliche Gespräch

3.2.1.4 Konkretisierung der Fragestellung aus der Forschung zu totgeborenen Kindern

3.2.2 Sprachfähigkeit christlicher Gottesrede

3.2.2.1 Die Polarität von Glauben und Leben – Spurensuche in der wissenschaftlichen Theologie

3.2.2.2 Pastoralpsychologische Perspektiven

3.2.2.3 Existentielle Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage

3.2.2.4 „Theologische Ansätze zur Akzeptanz des Negativen“ – Eine Abgrenzung zum Theodizeediskurs

3.2.2.5 Gottesrede in der Postsäkularität

3.2.2.6 Die Polarität von Gott und Welt im Fokus der Ohnmacht des Menschen und der Macht Gottes: Der Ort der Theologie in der Postsäkularität

3.3 Konkretisierung der Forschungsfrage aus Praxis und Forschung

4 Das Forschungsdesign

4.1 Empirie und systematische Theologie – Brennpunkte einer innovativen Pastoraltheologie

4.2 Die Wahl der Empirischen Methodik : Die Narrationsanalyse

4.3 „Narrationsanalyse“ konkret

4.4 Die Kommentierung des empirischen Forschungsergebnisses durch systematische Theolog/inn/en

4.5 Pastoraltheologie: Ort der Erarbeitung des Qualitätsmerkmals christlicher Gottesrede an einem existentiellen Ort in der Postsäkularität

5 Die vier Interviews – die Entstehung neuer Theologien

5.1 Theologien von Frauen, deren Kinder in der Schwangerschaft gestorben sind

5.1.1 Verena – „sie war irgendwie ja NIEDLICH, ne, ist ja doch (.) mein Kind“

5.1.2 Martina – ein Himmel ohne Gott

5.1.3 Susanne – mein „kleines Geschenk“

5.1.4 Sabine – „verwundet wie Jakob am Jabbuk und besonders gesegnet“

5.2 Das Zerschmelzen christlicher Theologie und die Kreativität der Frauen

5.3 Das Zerschmelzen christlicher Theologie und die Suche nach einem Halt

5.3.1 Zwischen Abkanzeln und Verstummen – die Ahnung des Weges zärtlicher Achtsamkeit

5.3.2 Der existentielle Sprung auf liquiden Grund – der Weg zu zärtlicher Lebendigkeit

5.3.3 Der theologische Sprung auf fragilen Grund

5.3.4 Es geht ums Ganze

6 Die Kommentierung der systematische Theolog/inn/en

6.1 Brief an die systematischen Theolog/inn/en mit Zusammenfassung des empirischen Ergebnisses

6.2 Michael Plattig: Die Haltung der Freundschaft als verantwortete seelsorgliche Begleitung

6.3 Eva-Maria Faber: Die eigenen Theologien der Frauen – Aufgabe und Lernpotential systematischer Theologie

6.4 Jürgen Bründl: Mütter totgeborener Kinder als prekär privilegierte Theologinnen

6.5 Johanna Rahner: Das Gebet als locus theologicus einer Theologie an der Grenze

6.6 Hans-Joachim Sander: Die Entdeckung der Metonymie als Sprachfigur christlicher Gottesrede

6.7 Elmar Klinger: Der Trost des Theologen angesichts des Todes von Kindern

6.8 Abduktionen christlicher Gottesrede in den Kommentaren selbst

6.8.1 Die unbedingte Akzeptanz der Frauen und das Verstummen des Theologen

6.8.2 Der mit–seiende Gott und die schmerzhafte Antwortlosigkeit der Theologie angesichts der urmenschlichen Frage nach dem Leid

6.8.3 Der riskante Weg wissenschaftlicher Theologie in der Auseinandersetzung um die Theodizee-Frage nach dem Warum des Todes des „Heiligsten“

6.8.4 Das Gebet als locus theologicus existentiell herausgeforderter wissenschaftlicher Theologie

6.8.5 Die Bewältigung quälender Ohnmacht durch die Metonymie Gott und die Entdeckung von Hoheitstiteln für die totgeborenen Kinder

6.8.6 Vom Rand in die Mitte – oder der Trost eines Theologen durch die unverbrüchliche Liebe der Mütter zu ihren Kindern

6.8.7 Zusammenfasssung

7 Die Revolution der Zärtlichkeit Gottes – Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Postsäkularität

7.1 Revolution der Zärtlichkeit Gottes: Die frohe Botschaft der Mütter totgeborener Kinder

7.1.1 Der Sturm – Ein Ende der Liebe Gottes?

7.1.1.1 Der Sturm der Theodizee

7.1.1.2 Der Sturm der Postsäkularität

7.1.2 untergehen – gerettet werden

7.1.3 Die Revolution der Zärtlichkeit Gottes in den Theologien der Mütter totgeborener Kinder

7.2 Revolution der Sprachfähigkeit christlicher Theologie

7.3 Zärtlichkeit – Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Postsäkularität

8 Literaturverzeichnis

„Adventure rarely reaches it’s predetermined end.

Columbus never reached China.

But he discovered America.”2

Alfred North Whitehead 1967

2 Sander, Gotteslehre, 12.

Dank

Mein herzlicher Dank gilt allen, die mich während des Prozesses dieser Arbeit unterstützt und begleitet haben.

Zunächst danke ich den vier Frauen, die mir ihre Lebensgeschichte und die ihrer Kinder erzählt haben, aber auch allen anderen Frauen und Männern, die ich als Klinikseelsorgerin in den schwierigsten Zeiten ihres Lebens begleiten durfte.

Ich danke Prof. Dr. Rainer Bucher, der mich das Fragen neu gelehrt hat und daran festgehalten hat, dass christliche Theologie etwas zu lernen und zu sagen hat in Lebenssituationen, wo sie zunächst verstummt. Er hat mich im Prozess der Dissertation positiv und wertschätzend begleitet. Prof. Dr. Maria Elisabeth Aigner danke ich für ihre Vorfreude auf diese Arbeit. Dr. Daniela Böhringer bin ich für die Begleitung durch die anfänglich unbekannten Gestade der Soziologie sehr dankbar.

Prof. Dr. Jürgen Bründl, Prof. Dr. Eva–Maria Faber, Prof. Dr. Elmar Klinger, Prof. Dr. P. Michael Plattig OCarm, Prof. Dr. Johanna Rahner und Prof. Dr. Hans–Joachim Sander haben mir wertvolle theologische Impulse im Prozess dieser Arbeit zur Verfügung gestellt. Das pastoraltheologische Privatissimum der Universität Graz hat mich unendlich bereichert. Prof. DDr. Walter Schaupp danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens.

Das Bistum Hildesheim hat mich zu 20 Prozent von meiner Arbeit als Pastoralreferentin in der Klinikseelsorge der Universitätsmedizin Göttingen freigestellt. Dadurch wurde diese Arbeit überhaupt möglich. Mein Dank gilt den einzelnen Frauen und Männern, die sich für mich eingesetzt haben. Auch die Drucklegung hat das Bistum großzüg unterstützt.

Meine Familie zeigt mir immer wieder die Schönheit des Lebens und die Bedeutung von wertschätzender Liebe und von Zärtlichkeit als Grundhaltung im Umgang mit anderen Menschen und der Welt. Diese Erfahrung ist tragend für diese Arbeit und mein ganzes Leben.

1 Zugänge

Wer ist dieser Gott, der Liebe genannt wird und der allmächtig ist? Wie ist ein allmächtiger Gott zu denken? Ist er liebend allmächtig? Allmächtig liebend? Ohnmächtig und nur in der Liebe mächtig? Wie gehen Allmacht und Liebe zusammen? Schon meine Diplomarbeit3 habe ich unter dieser Fragestellung geschrieben und war versucht, mit Hilfe der Prozesstheologie eine „Antwort“ auf die Frage nach dem Leiden zu finden bzw. ein theoretisches Modell zu konstruieren, das helfen kann, Allmacht und Liebe in Gott miteinander zu vereinbaren.

Meine Praxis als Pastoralreferentin und Klinikseelsorgerin hat mir gezeigt, dass in der Praxis mit Konstrukten wenig anzufangen ist. Wenn Menschen sterben, bin ich mit diesen Menschen traurig. Wenn sie nach dem Warum fragen, wollen sie keine theologische Unterweisung, sie möchten jemanden, der mitfühlt, die mitgeht, die versteht und akzeptiert was an Bewegungen vorhanden ist.

Konkret die seelsorgliche Arbeit mit Müttern und Vätern totgeborener Kinder ruft Fragen nach Gott hervor, die nicht einfach zu beantworten sind: Wie kann es sein, dass ein Kind nicht lebend auf die Welt kommt? Sie sind doch die unschuldigsten Wesen überhaupt! Was haben sie mit Gott zu tun? Was hat Gott mit ihnen zu tun? Verstorbene Kinder und ihre an ihrem Tod leidenden Angehörigen stellen für alle begleitenden Berufe eine höchste emotionale Herausforderung dar. Was passiert da eigentlich, wenn ein Kind – und dann auch noch ein ungeborenes Kind – stirbt? Es hatte ja gar keine Chance zu leben. Ist es überhaupt ein Kind, wenn es nicht lebend geboren wurde?

Wenn ein Kind noch vor der Geburt stirbt, empfinden Eltern diese Situation wie einen abgebrochenen Anfang, wie eine nicht erfüllte Zusage neuen Lebens, wie ein gebrochenes Versprechen. Zwischen diesen kleinen Menschen und dem übergroßen, allmächtigen Gott klafft eine enorme Distanz. Wenn ein Kind stirbt, dann „stirbt die Zukunft“4. Wenn ein Kind stirbt, stirbt menschgewordene Liebe. Es erschüttert das Vertrauen in den „lieben“ Gott. In einer solchen Situation wird Gottes Allmacht spürbar für die Eltern, erschreckend spürbar, aber nicht so sehr seine Liebe. So ist der Tod von Kindern schon bei Albert Camus in „Die Pest“5 der Grund des Atheismus, der Ablehnung Gottes.

Ich musste in 16 Jahren als Klinikseelsorgerin erfahren, dass es Leiden gibt, auf das einfach keine Antwort möglich ist. In diesen Situationen würden Antworten wie z.B. „Gott liebt dich aber trotzdem“ eiskalt abkanzelnd wirken. Sie erwecken – so gesprochen und selbst mit bester Absicht so gesprochen – den Eindruck, dass Seelsorge das Leiden der Menschen nicht ernst nimmt. Ich erlebe mich in meiner Tätigkeit immer wieder als sprachlos und beginne zu ahnen, dass die Rede von Gott am Leiden eines Menschen weder einfach vorbeigehen noch es – im schlimmsten Fall – dazu benutzen kann, um die eigene Theologie zu retten. Es zeigt sich in der Praxis, dass es keine immerwährende Rede von Gott angesichts des Leidens gibt, die in jeder Situation und auf jeden Menschen zutreffen würde, passend wäre, oder ihn gar trösten könnte.

Aus dieser Situationsbeschreibung erwächst die Frage nach der Sprachfähigkeit der Theologie: Hat sie überhaupt etwas zu sagen in einer Frage, an der sie selbst an ihre Grenzen stößt? Wie wenig es eine Mutter tröstet, deren Kind in der Schwangerschaft gestorben ist, vom gekreuzigten Sohn (!) Gottes zu sprechen, hat einmal eine Mutter von sich aus beantwortet: „Nicht einmal das hast du hingekriegt, Gott! Selbst bei deinem eigenen Sohn nicht!“6

Wenn Theologie etwas zu sagen hätte, was wäre dann Frauen zu sagen, deren Kinder tot auf die Welt gekommen sind? Was wäre Frauen zu sagen, die sich aus Liebe für eine späte Abtreibung entschieden haben?

Hat christliche Theologie an dieser Stelle etwas zu sagen, das noch nicht zur Sprache gekommen ist, das aber in der Offenbarung Jesu Christi grundgelegt ist? Es ist die Erfahrung der Tradition, dass es Menschen in der Geschichte immer wieder gelungen ist, das Evangelium so zu verkünden, dass es eine Bedeutung hatte. Ansonsten hätte sie sich nicht fortgeschrieben bis in die Gegenwart7.

Eine weitere Frage, die mich beschäftigt, ist die Frage nach der Relevanz von Theologie im Hier und Jetzt. Wesentlich damit verknüpft ist die Frage, ob Theologie noch von Gott spricht, oder ob da nicht viel zu viele Worte sind, zu viele Antworten, gesammelt in Büchern, Fachzeitschriften und kirchlichen Dokumenten, die niemand mehr hören will? Ist die Frage nach der Lösung dieses Problems die Frage nach der Art der Rede von Gott, was im Grunde genommen Theologie von ihrem Wortursprung her ist? Wie kann sie so sprechen, dass sie etwas zu sagen hat, dass sie eine Bedeutung hat, dass sie das Wort Gottes in diese Welt trägt, so dass es etwas bedeutet? Wie kann sie Gott „sprachliche Repräsentanz“8 in dieser Welt verschaffen?

Welche Form der Kommunikation ist richtig? Wie geht es, neue Wege zu den Menschen zu gehen, die der Offenbarung, der Tradition und gleichzeitig der Lebenswelt der Menschen, die sich deutlich vom christlichen Glauben abwendet und gleichzeitig nach Spiritualität sucht9, gerecht wird?

Papst Franziskus träumt in Evangelii Gaudium

„von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient“10.

Die Frage ist also nicht so sehr, wie Kirche bewahrt bzw. erneuert werden kann, sondern die Frage ist, was Kirche für Menschen tun muss, um ihnen durch das Evangelium in ihrer Wirklichkeit zu helfen. Welche Theologie, welche Rede von Gott, welche Verkündigung des Evangeliums ist heute notwendig? Welche verändert die existentielle Not von Menschen?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es wohl notwendig, die existentielle Not von Menschen genauer in den Blick zu nehmen. Es ist nicht notwendig, zuerst in Bibel und Tradition eine Antwort auf eine Frage zu finden, die vielleicht noch nicht einmal gestellt wurde, sondern die „Zeichen der Zeit“11 in den Blick zu nehmen, um sich den notleidenden Menschen zuzuwenden.

So beginne ich nun mit einem Blick in die Gegenwart in meine Arbeit als Klinikseelsorgerin.

3 Stechmann, Gott und ihre Gerechtigkeit.

4 „Für einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit“, Auerbach, Aphorismen.

5 Camus, Die Pest.

6 Vgl. Stechmann, „Sie beerdigen doch Fußnägel!“, 208.

7 Vgl. Bucher, Wer braucht Pastoraltheologie wozu?, 197.

8 Bucher, Die Theologie im Volk Gottes, 37.

9 „Die Macht der etablierten, von alters her ansässigen religiösen Regime geht noch immer zurück. […] Andererseits spricht viel dafür, dass religiöses Interesse kein aussterbendes Phänomen ist. Selbst Menschen jüngerer Generationen wünschen die rituelle Gestaltung von Lebenswenden, machen sich ihre Vorstellungen von einem Leben nach und vor solchen Übergängen, beten und glauben an Wunder. Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist, dass den konfessionellen Formen, die uns aus der Vergangenheit vertraut sind, nun vielfältige individuelle Auswahlmöglichkeiten gegenüberstehen, die sogar die Möglichkeit einschließen, anscheinend widersprüchliche Optionen zu kombinieren. Diese Entwicklung können wir als religiöse Individualisierung bezeichnen. Allenthalben lautet die Diagnose in den Niederlanden: ‚Religion’ ist in, ‚die Kirche’ ist out.“ (de Groot, Fluide Formen religiöser Gesellschaft, 22-23).

10 Papst Franziskus: Evangelii Gaudium Nr. 27.

11 Sander, Die Zeichen der Zeit erkennen.

Žanrid ja sildid

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