Loe raamatut: «Leben»
Anno Dazumal
Leben
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Titel
Leben
Nachworte
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Leben
„Es gibt kein Zurück mehr. Ich muß jetzt endlich und endgültig damit beginnen, mein Leben in die Hand zu nehmen. Viel zu lange habe ich mich treiben lassen und die Verantwortung weitergeschoben“, dachte sich Fabrice. Er war 35 Jahre alt und hatte schon viele Dinge ausprobiert. Aber er hatte nie gewußt, wonach er eigentlich suchte. Klar, er hatte viel gelernt und jede Menge Erfahrungen gesammelt, doch letzten Endes hatte das nur dazu geführt, daß er wußte, was er nicht wollte. Ihm war zwar inzwischen klar, woher das alles kam, aber genau betrachtet half ihm das auch nicht viel weiter. Zu hohe Ansprüche, die er hatte, hervorgerufen durch eine Kindheit, in der man, aber insbesondere Frau, ihn zu sehr verwöhnt hatte. Fast alles hatte seine Mutter ihm abgenommen, sogar die Drogen, die er hin und wieder mit nach Hause gebracht hatte. Die Folge davon war gewesen, daß Fabrice zu den verwöhntesten und unselbständigsten Menschen auf der ganzen Welt gehörte und diese Erkenntnis schockte ihn doch gewaltig. Was konnte er eigentlich? Blöd daherreden, dumme Kommentare abgeben, Unsinn schreiben, das war es aber dann auch schon gewesen. Ziemlich mager, das Ganze. Bisher war er immer nur davongelaufen, immer auf der Flucht vor Verantwortung, Pflichterfüllung und einem geregelten Leben. Ohne es zu wissen, hatte er die Menschen um sich herum ausgenutzt und zwar nicht nur so, daß sie es nicht merkten, sondern sogar so, daß sie ihn dafür liebten. Fabrice hatte sich sein Leben lang für einen kleinen König gehalten und seine Umgebung so manipuliert, daß jene ihm gerne diente ohne es zu merken, denn er war immer der Hilfsbedürftige gewesen, der bemitleidet wurde. „Daß die Menschen niemals begreifen wollen und werden, daß die Bettler im Grunde genauso oder noch schlimmere Könige als die Könige selbst sind. Sie lassen sich fürs Nichtstun bezahlen, sie geben sich devot und unterwürfig und suggerieren den Leuten, daß jene Macht über sie hätten, dabei ist es genau umgekehrt. Die Bettler üben Macht aus, denn sie erzeugen durch ihre Existenz und ihren armseligen Anblick Gewissensbisse und nutzen jene schamlos aus“, kam Fabrice in den Sinn. Zweifellos ziemlich neoliberal angehauchte Gedanken für einen Linken, der auch schon längst nicht mehr wußte, wohin er eigentlich gehörte. Aber was war, wenn er Recht hatte? Im Grunde machte es keinen Unterschied ob man vor Passanten oder seinem Chef buckelte, die Welt hielt ihren Atem niemals an, sondern furzte und rülpste unentwegt weiter. Erdbeben und Vulkane heißen wahrscheinlich die Fachausdrücke dafür. „Ich muß mich endlich selbst finden. Aber wo fange ich an zu suchen? Vielleicht sollte ich mir zunächst einige Ziele setzen. Ein normaler, vernünftig denkender Mensch würde sich realistische, erreichbare Ziele setzen, aber ich mit meinem Anspruchsdenken brauche natürlich höhere Ziele, die unerreichbar sind. Deswegen werde ich mich jetzt auf die Suche nach Freiheit, Liebe und Glück machen“, beschloß Fabrice und beendete abrupt sein 35jähriges Vorleben, das nichts weiter als ein Prolog gewesen war.
Natürlich waren die 35 Jahre nicht umsonst oder gar verschenkte Zeit gewesen, das wäre eine unwahre Behauptung. Aber Selbstbewußtsein bedeutet sich seiner selbst bewußt zu sein und damit fing Fabrice zu jener Zeit gerade an. Er war in seinem früheren Leben ein zurückhaltender, angepaßter und höflicher Mensch gewesen, einer, den man leicht und gerne übersieht, ein Niemand. Daran hatte er sich recht schnell gewöhnt gehabt und sich auch mit jener Tatsache arrangiert. Das Leben des Fabrice war ein farbloses Sammelsurium der Ereignislosigkeit gewesen, er hatte durch Andere und deren Erzählungen gelebt. Da Fabrice unglaublich schnell überfordert und extrem wenig belastbar war, hatte man ihn schnell abgeschrieben. Genau das hatte er auch erreichen wollen, doch nun hatte er das Windschattensurfen endgültig satt. So merkwürdig wie er selbst waren auch seine Freundschaften gewesen. Fabrice hatte sich nie wirklich um andere Menschen bemüht, er hatte sie nur dazu mißbraucht, ihn abzulenken und zu unterhalten. Er war ein Ignorant gewesen und das wußte er auch. Im Grunde war er weder überlebens- noch freundschaftsfähig, von beziehungsfähig ganz zu schweigen. Ein Mann ohne Eigenschaften, der sein hohles Inneres mit den Erzählungen und Erlebnissen von Anderen füllte. Zweifellos hatte Fabrice zu den Schmarotzern und Parasiten gezählt, komischerweise gaben die Opfer gerne und freuten sich sogar darüber, daß Fabrice sie besuchte. Ein absurdes Theater hatte sein abruptes Ende gefunden, jedoch war es wohl kaum möglich, von einem Tag auf den anderen umzuschalten und ein besserer oder vielleicht zunächst mal nur ein Mensch zu werden. Schon seit Jahren hatte Fabrice seine eigene Persönlichkeit vermißt und vergeblich gesucht, er hatte seine Mitmenschen immer nur gespiegelt und ihnen nach dem Mund geredet. Seine eigene Meinung hatte er, sofern vorhanden, verschwiegen. Verliebt hatte er sich in Frauen, ohne zu wissen, ob er tatsächlich etwas von ihnen wollte. In das Bild, das er sich von ihnen gemacht hatte, hatte er sich verliebt, alles andere hatte ihn nie wirklich interessiert. Ohne Zweifel hatte Fabrice zu den großartigsten Laienschauspielern Frankreichs gehört, die Straße war seine Bühne gewesen und im Grunde kannte er nicht mal selbst sein eigenes Gesicht. Er hatte nicht auffallen sowie gefallen wollen, er war beliebig und die Leute mochten ihn, denn er war ein angenehmer Zeitgenosse, der immer Verständnis zeigte und nie wütend wurde. Fabrice hatte herausgefunden wie er sein mußte um akzeptiert zu werden und so hatte er sich immerzu den Erwartungshaltungen der Anderen angepaßt. Schien er auch noch so gesellig zu sein, so war er tief in seinem Inneren der einsamste Mensch auf der ganzen Welt, denn er hatte keine Seele. Und das war etwas, das ihm wirklich zu schaffen machte. Geist und Körper funktionierten und existierten, aber von einer Seele hatte er noch nie etwas mitbekommen. Fabrice war ein kalter, gleichgültiger Mensch geworden, der um sich selbst herum eine Schutzmauer errichtet hatte. Er mißtraute den Leuten, denn sie waren anders als er, sie hatten eine Seele. Blöd an der ganzen Sache war, daß Fabrice seine Seele nicht mal dem Teufel verkauft gehabt hatte, so daß er wenigstens etwas dafür bekommen hätte. Fabrice war ohne Seele zur Welt gekommen und er würde sie auch ohne Seele wieder verlassen, wenn er nicht zufällig eine finden würde. Ich selbst hatte großes Mitleid mit Fabrice und hätte ihm gerne weitergeholfen, zum Beispiel zu einem Seelenverkäufer geschickt. Aber dann hatte ich festgestellt, daß ich selbst keine Seele mehr hatte, denn sie lag verschüttet unter den Trümmern meiner Existenz. So wußte ich, daß nur ich dieses Epos schreiben konnte.
„Am Anfang steht die Erkenntnis: Ich bin ein schlechter Mensch. Das Leben hat es zu gut mit mir gemeint, mir wurde alles hinterher geschmissen, ich mußte mich nie anstrengen, die Steine haben Andere aus dem Weg geräumt. Alles ging so einfach und leicht, es war ein Kinderspiel. Und hat etwas nicht geklappt oder mir nicht gepaßt, dann habe ich einfach abgebrochen und alles hingeschmissen. Ich habe meine Rolle als unfähiges, hilfsbedürftiges Wesen perfekt beherrscht, an mich rangelassen habe ich niemanden, damit kein Mensch erkennen konnte, wie ich wirklich bin. Paradox ist, daß mir das alles niemand glauben würde und selbst wenn, dann würde man es verharmlosen, weil ich ja so lieb, nett und freundlich bin“, überlegte Fabrice und er spürte traurig, daß er sich im Kreis drehte. Ein weiteres Mal hatte er sich in seinem eigenen Netz verheddert, welches er vor langer Zeit ausgesponnen hatte. Warum war er denn allein? Weil er Nähe nicht ertrug. Warum wollte er denn sein Leben ändern? Um der Wiederkehr des Gleichen zu entfliehen und Abwechslung zu haben. Fabrice ärgerte sich darüber, daß er sich immer gedrückt hatte, wenn es darum gegangen war, Entscheidungen zu treffen, er war ein Zauderkünstler gewesen und das hatte er in vielen Jahren perfektioniert. Zwar glaubte er, sich selbst zu bestimmen und frei zu sein, doch im Grunde war er von Anderen abhängig, da er mit sich selbst auf Dauer nichts anfangen konnte. Zweifellos war Fabrice ziemlich intelligent, doch was half der genialste Geist, wenn er keine Seele hatte? „Freiheit ist die erste Sache, die ich suchen werde. Freiheit bedeutet Unabhängigkeit, also müßte ich aufhören zu atmen, zu essen, zu trinken, zu schlafen und zu denken, um vollkommen frei zu sein. Das heißt, daß auf Erden nur eine beschränkte Freiheit möglich ist. Ich bin so frei, diese Gedanken unzensiert in den Reißwolf namens Vergessen zu stecken, doch was nützt mir das? Vielleicht ist Askese der falsche Weg, auch Schlafentzug scheint mir nicht zielführend zu sein, ich habe meine Zweifel. Was ich mir unter Freiheit vorstelle? Tun zu können was ich will, keine Verpflichtungen und Verantwortung haben, sagen können was ich denke und keine Bedürfnisse mehr haben“, sinnierte Fabrice. Tja, genau das aber macht den Menschen aus, genauso wie die Tiere und Pflanzen. Sie würden allesamt keine Nahrung zu sich nehmen, wenn sie nicht hungrig oder durstig wären und sie würden sich (die Menschen und Tiere) womöglich nicht fortpflanzen, gäbe es da keinen Sexualtrieb. Deswegen sind solche Einschränkungen von Freiheit Notwendigkeiten, doch die Gedankenspinnereien von Fabrice gingen noch weiter: „Freiheit beinhaltet für mich auch die Freiheit von Raum und Zeit, ich kann das alles nicht so einfach abhaken, denn wohin müßte ich gehen, um all das zu erlangen? In die Ewigkeit? Wie denn? Wer weiß ob es die überhaupt gibt? Vielleicht ist die nur die Erfindung der Bonzen, um die Unterschicht von der Revolution abzuhalten. Außerdem habe ich eh keinen Zutritt zur Ewigkeit als Seelenloser. Eigentlich könnte ich meine ganzen geistigen Ausdünstungen in den Wind schießen, denn sie bringen mich nicht weiter. Freiheit bedeutet, jetzt und hier die Hände in die Luft zu reißen und einen Tanz aufzuführen und das würde ich auch tun, wenn ich nicht so schrecklich angepaßt wäre. Mein Wille geschehe, das heißt Freiheit, doch damit würde ich wohl mehr Feinde bekommen als wenn ich Terroristen mit der Atombombe bedrohe. Freiheit ist für mich, meine eigene Atombombe zu besitzen, damit mich niemand erpressen und ich mich selbst beschützen kann. So gesehen sind wir ein wahnsinnig freies Land, doch die mißlungene Integrationspolitik zeigt, daß wir uns unsere Feinde im eigenen Land heranzüchten. Wenn ich nur so geschliffen reden könnte wie ich denke, aber eigentlich möchte ich gar nicht mehr über Politik nachdenken, das langweilt die Anderen doch nur, die meine Gedanken lesen können oder müssen. Ja, die Gedanken sind frei, so hieß es früher, aber sind sie das wirklich? Meine zum Beispiel werden gerade von so einem Verrückten aufs Papier gebracht. Der saugt mich aus, der macht mich fertig. Ständig projiziert er seine eigenen Probleme und Wahnvorstellungen in meine Gedankenwelten und das geht mir animalisch auf den Geist. Aus diesem Grunde höre ich jetzt auf zu denken.“ Na ja, dumm gelaufen. Jetzt sitze ich auf dem Trockenen und weiß nicht mehr weiter. Was mache ich nun? Begebe ich mich auf die Suche nach dem Glück? Wo soll ich anfangen? In einem Glückskeks? Frage Dich nicht, was Dein Verstand für Dich tun kann, sondern was Du für Deinen Verstand tun kannst. Meine Entstellungen befriedigen kein parodistisches Panoptikum und bevor ich nicht mehr weiterweiß, schreibe ich lieber Reiterscheiß. Gestatte, daß ich mich verstelle: Ich bin der, der das hier schreibt, und der nach diesem Blendwerk übrigbleibt, ich habe weder Geist noch Sinn, denn ich bin der Trostgewinn. Ich bin ein alter Ego und daß der arme Fabrice von mir ins Leben gerufen wurde, hat allein damit zu tun, daß ich nicht so allein auf dieser Welt sein möchte. Klar, ich umgebe mich ständig mit Menschen, immer sind Leute in meiner Nähe, doch der Glühlampenschein trügt, denn ein Leben ohne Seele ist noch schlimmer als ein Leben ohne Leber. Lebe Dein Leben, Leber! Fabrice freute sich nicht unbedingt darüber, daß ich ihm das Heft aus der Hand genommen hatte, doch er war gerade dabei gewesen, einer jungen Frau hinterher zu spucken, so daß er die Auszeit einigermaßen gefaßt in Kauf nahm. Doch plötzlich veränderte sich sein Gewichtsausdruck und er stellte mich zur Reede: „Schluß mit den Wortspielen, Du Exkremist! Das hier ist mein Leben und meine Geschichte und da pfuscht mir keiner rein! Freiheit bedeutet nämlich auch, nicht ferngesteuert zu werden und so zu leben wie man selbst es will. Verschwinde aus meinem Leben und nimm Deine besserwisserischen schlauen Sprüche gleich mit!“ Da blieb mir nichts Anderes übrig als mich aus dem Feinstaub zu machen und so begab ich mich in die Berge, setzte mich auf meinen Lieblingsgipfel, den Gipfel der Frechheit, und schaute auf die Menschen herab. Dann schnappte ich mir ein Opernglas und beobachtete die Gemsen, doch das langweilte mich recht schnell, so daß ich meine schlechten Vorsätze vergaß und mir ein Fernglas herbei schrieb. Dadurch sah ich die Welt mit anderen Augen, ich war den Menschen irgendwie nahe und doch fern. Aber bevor ich damit anfing, die Menschen und andere Leute zu verglasen, begab ich mich in mein internes Konzentrationslager und beruhigte mich, denn die KZ-Wärter in meinem Kopf versprachen mir, daß mir nichts passieren würde. Auf einmal entdeckte ich Fabrice, wie er dort unten versuchte, sein Leben in den Griff zu bekommen und ich fand es schade, daß ich das aus der Entfernung mit ansehen sollte. Wie das wohl so war, ganz ohne Seele? Klar, ich wußte selbst nur zu gut, daß man die Seele ignorieren und abschieben, verdrängen und vergessen konnte, aber nichtsdestotrotz hatte ich eine, zumindest hieß es das, denn sonst hätte man mich bestimmt nicht getauft. Auf einmal fiel mir ein, daß in Fabrice jede Menge Platz sein mußte, da er ja bekanntlich keine Seele hatte und so wünschte ich mir, mich in sein Inneres begeben und dort seine Weiterentwicklung live miterleben zu können. Noch einmal schaue ich durch das Zielfernrohr, ich habe sein Herz m Visier und plötzlich bin ich drin. Aber wo um alles in der Unterwelt bin ich hier gelandet? Das ist nicht das Herz, zum Glück ist es auch nicht der Darm, nein, es ist das Gehirn, ich bin im Hirn von Fabrice und ein paar Synapsen und Botenstoffe heißen mich willkommen. Freundlich grüße ich zurück und daraufhin schaue ich mir den Laden mal ein bißchen genauer an. Aha, hier findet also der tägliche Wahnsinn statt, leider finde ich keinen großen roten Knopf, den ich drücken könnte. Jetzt bin ich aber schon gespannt, wie das hier weitergeht, vielleicht merkt Fabrice nicht mal, daß ich in seinen Gehirnwindungen herumspuke. Hiermit lege ich ein feierliches Versprechen ab: Ich werde nur beobachten, aber auf keinen Fall eingreifen, denn ich bin hier, um zu lernen und nicht um den Lauf der Dinge zu verändern. Das hier ist eine großartige Chance für die gesamte Menschheit. Ich werde herausfinden, was in uns vorgeht, wie wir funktionieren. Natürlich ist Fabrice ein Einzelfall und da er keine Seele hat, ist er auch nicht sonderlich repräsentativ, aber wenigstens ist er ein Mensch und noch dazu einer von den Wenigen, die ihr Leben verändern wollen. Ich bin schon ganz aufgeregt, denn nun habe ich das Heft des Handelns aus der Hand gegeben und bin ein Teil von Fabrice geworden. Ganz schön riskant, die ganze Sache, aber das macht den Mist ja auch irgendwie interessant, findest Du nicht? Ich habe den Sprung in das nasse Gehirnwasser einer seelenlosen Kreatur gewagt und ich frage mich schon, wozu das gut sein soll. Abwarten und Klee trinken. Zu viel Blödsinn habe ich schon geschrieben und von mir gegeben, als daß ich noch das Recht hätte, mich davor zu drücken, in die menschliche Kleingeisterei einzutauchen. Ich habe es getan und es gibt kein Zurück mehr. Ich bin mir darüber im Klaren, daß ich am Ende nicht mehr derselbe sein werde wie jetzt, aber es kann ja nur besser werden.
„Ich bin frei“, denkt sich Fabrice. Er läuft durch die Straßen einer kleinen Stadt, die einen wenig bemerkenswerten Namen hat und sieht sich die Leute an. Manche von denen schauen zurück, doch er weiß nicht, womit er anfangen soll und deshalb redet er einfach eine junge Frau an, die gerade an ihm vorbeiläuft. „Hallo, ich bin Fabrice“, stellt er sich vor. „Ich bin verheiratet“, entgegnet sie kurz und knapp. „Das freut mich für Sie. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?“ Bei dieser Frage herrscht bei mir dort oben in seinem Kopf atemlose Stille. Wir schütteln den Kopf und fragen uns, was unser Wirt von einer verheirateten Frau will. Zugegeben, sie sieht ziemlich ansehnlich aus, aber das allein kann es auch nicht sein. Wir merken sofort, daß er seine Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen hat, denn bei uns hier oben hat ihn keiner dazu ermuntert, die Frau anzuquatschen. Irgendwie kommen wir uns alle verarscht vor, denn erst jetzt werden wir uns unserer Ohnmacht bewußt. Mag sein, daß Fabrice keine Seele hat, aber auf alle Fälle hört er nicht nur auf seinen Verstand. Das finde ich bemerkenswert und möchte es sogleich notieren, doch da taucht auf einmal ein kleines Männchen auf und schlägt mir meinen Notizblock aus der Hand. „Wir befinden uns hier im sensorischen Sektor. Hier wird nur selektiert. Wenn Du schreiben willst, dann mußt Du Dich ins Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis begeben“, klärt er mich auf. Ich stutze. Vielleicht sollte ich mich unauffälliger benehmen, sonst könnte ich hier oben noch richtig Streß bekommen. Außerdem kann ich mir das Geschehene auch merken, so viel passiert hier ohnehin nicht. Durch die Augen von Fabrice sehe ich, daß sich die Frau tatsächlich von ihm überzeugen hat lassen. Beide sitzen an einem Tisch, warten auf den Kellner und ich spüre, daß Fabrice etwas sagen wird. „Eine schöne Stadt. Doch ich will gleich zur Sachen kommen: Wo finde ich die Freiheit?“ beginnt er. Sie blickt ihn verwundert an. Zu gerne würde ich jetzt brain switiching machen und ganz schnell in ihren Kopf hüpfen, um zu erfahren, was sie gerade denkt. Andererseits sind Frauen ja sehr emotional veranlagt und machen oft aus ihrem Herzen keine Mördergrube. „Letztens lief sie hier über den Platz, aber seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen“, läßt die Frau verlauten und auf einmal ist hier oben im kleinen Hirn von Fabrice die Hölle los. „Was meint sie damit? Will mich die auf den Arm nehmen? Wie wahrscheinlich ist es, daß sie die Freiheit tatsächlich gesehen hat?“ Wir werden mit Fragen bombardiert. Eine Synapse aber bleibt cool und empfiehlt eine brave, inhaltslose Replik, die dann tatsächlich aus dem Mund von Fabrice kommt: „Schade. Wissen Sie, wo sie wohnt?“ „Nein, denn sie ist nie lange an einem Ort, sonst wäre sie schließlich nicht die Freiheit. Letztens kam hier sogar der Aufschwung vorbei und vor ein paar Wochen hat mal die Vernunft vorbeigeschaut.“ „Du meine Güte. Hier scheint ja mächtig was los zu sein.“ „Allerdings. Was wollen Sie eigentlich von der Freiheit?“ Diese direkte Frage versetzt uns in höchste Alarmbereitschaft. Im Sekundentakt präsentieren einige Botenstoffe Antwortvorschläge, verwerfen die meisten davon aber sogleich wieder. Ich bin drauf und dran, meinem Herbergsvater etwas Geniales einzuflüstern, doch gerade noch rechtzeitig fällt mir mein Versprechen wieder ein und ich halte meine Klappe. Langsam wird das Schweigen peinlich und die Frau beginnt bereits ihr Interesse zu verlieren, als Fabrice auf einmal Folgendes erwähnt: „Freiheit, Liebe und Glück sind der Schlüssel zu einem erfüllten Leben. Deswegen suche ich die Drei und wenn ich sie gefunden habe, dann wird alles gut.“ Erleichtert atmen wir auf. Gut zu wissen, daß wir hier oben auch mal versagen dürfen. „Das klingt ja höchst interessant. Erzählen Sie mir doch mehr davon!“ bittet die Frau lächelnd. „Seit 35 Jahren führe ich ein fremdbestimmtes Leben. Ich bin sowas von abhängig, daß es schon längst nicht mehr weh tut. Es kann, darf und wird so nicht mehr weitergehen.“ „Na sowas, ein Mann, der sein Leben ändern will, das ist ja mal was ganz Neues. Und in welche Richtung wollen Sie sich weiterentwickeln?“ „Na in die richtige natürlich“, macht Fabrice deutlich und wir klatschen begeistert Beifall. Was für eine schlagfertige Antwort! Die hätte fast von mir sein können. Schön langsam wird mir dieser komische Kerl richtig sympathisch. Verlegen lächelt die Frau ihn an, wünscht ihm viel Glück, steht auf und geht. Der Kellner kommt und Fabrice erhebt sich ebenfalls. Sie lassen den verdutzten Mann einfach stehen und ich weiß nicht was ich davon halten soll. Es gibt keine Nicht-Kommunikation und vielleicht wird er daraus lernen und seine Gäste in Zukunft früher bedienen. Die Frau bemerkt, daß Fabrice ihr gefolgt ist und ihr scheint das zu gefallen. Er aber ist unsicher, denn er weiß gar nicht, was er eigentlich von ihr will, doch er geht neben ihr einfach weiter.
Wir senden Fragen an ihn, aber er antwortet nicht. Keine Ahnung was da los ist. Vielleicht siegt in diesem Fall der Trieb über den Verstand. Hose satt Hirn. Womöglich ist es gar der Reiz des Verbotenen. Egal, wir machen erst mal Kaffeepause und lassen ihn mit der Frau allein. Er labert sie voll, doch wir hören nicht mehr zu. Ich beginne eine Unterhaltung mit einem Botenstoff, der ziemlich fertig aussieht. „Bist Du immer so kaputt?“ frage ich ihn. „Leider ja. Das hier ist der volle Horrorjob. Den ganzen Tag bin ich unterwegs und der Typ ist echt kraß drauf. Eigentlich dürfte ich gar nicht mehr so schwer arbeiten, aber ich brauche noch ein paar Jahre bis zur Rente und bin auf Fabrice angewiesen. Immerhin haben wir hier oben Kost und Logis frei. Aber Geschichten kann ich Dir aus dem seinen Leben erzählen, da haut es Dich weg.“ „Ich bin ganz Ohr“, gebe ich gespannt zu, woraufhin mich das Trommelfell etwas merkwürdig anguckt. „Also, ich bin ja schon ziemlich lange hier oben, so schätzungsweise 25 Jahre. Fabrice war schon damals ganz schön skurril, ich hatte ja die unangenehme Aufgabe, seine merkwürdigen Gedanken zu übertragen. Früher hat er immer von leeren Keksdosen geträumt, deshalb flippt er heutzutage immer aus, wenn ein Server ein Cookie einrichten möchte. Später hat er dann die Schule geschmissen und eine Ausbildung zum Büromechaniker gemacht. Die war auch nicht das Wahre und so begann seine endlose Irrfahrt durch die Welt der Berufe. Manchmal hat er mir sogar ein bißchen leid getan, doch andererseits ist er auch selber schuld, daß er nichts auf die Reihe kriegt. Mittlerweile halte ich mich aus seinem Leben raus und mache nur noch Dienst nach Vorschrift, denn alle unsere gutgemeinten Ratschläge hat er ignoriert und ist immer tiefer in die Scheiße gesunken.“ „Und was hältst Du von seiner Absicht, sich und sein Leben zu verändern?“ „Alles nur leere Worte. Hin und wieder erzählt er so einen Blödsinn und meint es ja doch nicht ernst. Denn in Wirklichkeit will er ja, daß alles so beschissen bleibt wie es ist.“ Diese Worte des Botenstoffes machten mich nachdenklich, doch als ich einen Blick nach draußen warf, überschlugen sich dort gerade die Ereignisse. Ich hörte einen wütenden Mann lautstark schimpfen, dann kam eine Faust auf uns zu und danach gab es eine heftige Erschütterung. Wir fliegen alle wild durcheinander und versuchen uns irgendwo festzuhalten, doch Fabrice liegt am Boden und braucht uns gerade nicht. Er befindet sich im Reich der Träume und wir sehen eine Filmvorführung in seinem Kopf. Merkwürdig, daß Fabrice davon träumt, ein glücklicher Familienvater in einem neu gebauten Haus zu sein, genau das hätte ich nicht von ihm erwartet. Plötzlich kommt er wieder zu sich und fragt uns, wo er sich gerade aufhält und passiert ist. Wir erklären ihm, obwohl wir ja bekanntlich weder zugehört noch aufgepaßt hatten, daß der Ehemann der Frau ihn bewußtlos geschlagen hätte. „Das verstehe ich nicht. Dabei wollte ich doch nur ein wenig mehr über die Freiheit erfahren. Ich hatte mir nämlich gedacht, daß jemand, der verheiratet ist, also in einem goldenen Käfig lebt, viel mehr über die Freiheit weiß als ich“, kam Fabrice in den Sinn. Der Botenstoff warf mir einen eindeutigen Blick zu und ich wußte Bescheid. Das also war ein weiteres Beispiel für die skurrilen Gedanken, die Fabrice in seinem Kopf produzierte. Nichtsdestotrotz hatte ich das eindrucksvolle Gefühl, der richtige Däumling am richtigen Ort zu sein. Lieber im Kopf eines Durchgeknallten ohne Seele als in der Birne eines Normalbürgers, dessen Gedanken so durchschnittlich wie die Staatsregierung waren. Schön langsam begann es mir im Kopf von Fabrice zu gefallen und ich fragte mich, wie krank ich selber war, daß ich meine Zeit auf diese Art und Weise verbrachte. Hatte ich tatsächlich nichts Besseres zu tun, als in einem fremden Gehirn herumzulungern und einen merkwürdigen Menschen auf seinem Weg der Veränderung zu begleiten? Zweifellos eine rhetorische Frage, doch auf einmal wurde ich fürchterlich müde und legte mich hin. Ich träumte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dauernd werfe ich die Zeiten durcheinander, doch als ich aufwache, bin ich wieder völlig präsent. Was ist los mit mir? Was mache ich im Kopf von Fabrice? Klar, daß er nicht merkt, daß sich da ein Fremder in seinem Schädel tummelt, denn hier laufen ohnehin fast nur dubiose Gestalten herum. Lustig, daß ich fast genauso klein schreibe wie ich bin. Da ist ein Mensch im Umbruch und ich bekomme live mit, wie er versucht, seine Gedankenwelt neu zu ordnen und seine Prinzipien zu verändern. Da vorne laufen gerade alte Gedanken von ihm herum, die er verworfen hat und nicht mehr gebrauchen kann. Sie sehen traurig aus, denn sie wissen was ihnen bevorsteht. Da landen sie auch schon auf dem Schrottplatz, dieser geistigen Müllhalde. Grausam.
Tasuta katkend on lõppenud.