Loe raamatut: «Auslöschung»

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DARK PLACES

Anthony J. Quinn

Auslöschung

Aus dem Englischen von Sven Koch

Herausgegeben von Jürgen Ruckh


Originaltitel: Disappeared

© Anthony J. Quinn, 2012

First published in the United States in 2012 by MysteriousPress.com/

Open Road Integrated Media.

First published in the UK in 2014 by Head of Zeus Ltd

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2021

Aus dem Englischen von Sven Koch

Mit einem Nachwort von Ulrich Noller

© 2021 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann

Coverfoto: © JTATODD / Adobe Stock

Autorenfoto: © Eileen Quinn

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

ISBN: 978-3-948392-26-0

eISBN: 978-3-948392-27-7

Für Cathal und Marie, die sich meine ersten Geschichten angehört haben und dabei lächelten

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Danksagung

»Nature Writing – mit Leichen«

Prolog
20. Januar, Washing Bay, Lough Neagh, Nordirland

Den ganzen Winter über hoffte David Hughes, ehemaliger Polizist der Special Branch, dass die Sonne den schwarzen Horizont durchstieß und die Trübnis lichtete. Zwar jagten häufig kräftige Winde die schweren Wolken über den Himmel, aber sie von dort zu vertreiben gelang ihnen nicht. Mit jeder Dämmerung breitete sich von Osten her ein verwaschenes Grau aus, das die Hügel in schales Licht tauchte, jedoch nicht für einen Farbtupfer als Fluchtpunkt für Hughes’ Gemüt sorgen konnte. Die an sein Cottage grenzenden Felder waren morastig und kahl, die Hecken aus Schlehdorn und Weißdorn um sie herum schwarz und verschlungen wie Stacheldraht.

An diesem Nachmittag war Hughes so unruhig, dass es ihn nicht im Haus hielt. Der Wind, der vom Lough herüberblies, war wieder finster geworden. Dunkel wie die Nacht, weil er ihn umfing und von der Welt abschirmte, während er gegen die Steinmauern des Cottage rempelte, über das Dach fegte, an die Fenster klopfte und sich mit spitzen Fingern in seinen Kopf bohrte, bis Hughes meinte, die versteckten Dämonen würden sich aus den Schatten darin hervorwinden.

Um sich zu beruhigen, schluckte er eine der vom Arzt verschriebenen Tabletten. Zwar halfen sie ihm nicht mehr beim Einschlafen, aber immerhin schoben sie die Gegenwart beiseite und machten ihn zu einem hohlen tumben Schatten seiner selbst. Lieber das, dachte er, als die Schreie zu hören, die aus den tiefsten Ritzen seines Gehirns kamen.

Mit grimmiger Entschlossenheit stellte er den Fernseher an und sah sich eine Heimwerkersendung an, gefolgt von einer Talkshow und einer Reportage über Flugbegleiter. Dabei schaltete er ständig um oder dämmerte weg und wachte wieder auf. Allmählich kehrte er in die Gegenwart und das dumpfe Gleichmaß eines Winterabends zurück. Schließlich ging er leicht humpelnd in die Küche, setzte den Wasserkessel auf und blickte aus dem Fenster.

Am Ende des Gartens entdeckte er einen Mann, der wild mit den Armen herumfuchtelte. Hughes hatte ihn bereits zuvor an der Hecke, die den Garten vom Ackerland trennte, entlanggehen sehen. Jetzt stand der Mann mit freiem Blick auf das Cottage unter der alten Eiche und warf die Arme in die Luft, als würde er wutentbrannt unsichtbare Steine schleudern.

David Hughes vergaß den Tee und den Keks, den er neben die Tasse auf den Unterteller gelegt hatte. Der Anblick des Fremden verwirrte ihn. In der Diele zog er etwas über, um sich gegen den heulenden Wind zu wappnen. Sein Spiegelbild und der um ihn schlotternde Mantel verrieten ihm, dass er abgenommen hatte. Zögernd und zweifelnd trat er ins Freie. Der Wind brüllte ohrenbetäubend. Ihm wurde davon so schwindlig, als hätte er sich den Kopf angeschlagen.

Erst als er direkt auf den Mann zuging, bemerkte er, dass der etwas rief. Doch der schwarze Wind ertränkte alle anderen Geräusche.

Vielleicht sollte ich diesen Mann mehr fürchten als meine Krankheit und den Wind, der schon den ganzen Winter so bläst, dachte Hughes. Vielleicht sollte ich mich um ihn und das, was ihn aufregt, nicht scheren und in meinen stumpfsinnigen Abend und die Sicherheit meines Hauses zurückkehren. Warum einen komischen Typen stören, der an einem Winterabend draußen rumläuft, mit den Händen in der Luft rumfuchtelt und sich selbst anbrüllt?

Aber die Neugier machte ihn mutig.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er den Fremden mit einem treuherzigen Lächeln, während er in die Rolle des arglosen Alten schlüpfte.

Der andere schrie und gestikulierte weiter, nur wurde das Gebrüll jetzt durch fliegende Schatten gedämpft. Der Wind war in die Äste über ihren Köpfen gefahren und rüttelte sie durch, sodass sich die Zwischenräume mit dem Tosen des Lough füllten.

Der Fremde baute sich vor ihm auf.

Sobald er sprach, bemerkte Hughes, dass das Geräusch des Winds und der Äste verschwand und der dämmrige Himmel noch düsterer wurde. Das Gesicht des Manns erstrahlte in kaltem Licht.

»Glauben Sie, dass wir selbst darüber bestimmen, wie wir leben und sterben?«

Hughes lachte auf. Die Frage des Fremden bereitete ihm bittere Freude. »Nur im Kleinen«, antwortete er. »Im Großen und Ganzen herrscht das Chaos über uns.«

Der Fremde zog einen kleinen Metallgegenstand aus der Hosentasche und warf ihn wie ein Spielzeug von einer Hand in die andere.

»Was ist das?«

Der Fremde erklärte, es sei eine besondere Art Batterie.

»An sich völlig harmlos«, sagte er. »Aber sie soll dem Zeitzünder einer Bombe, die viele Menschen das Leben kosten wird, den Strom liefern. Schon der Gedanke daran lässt es mir kalt den Rücken runterlaufen.

Aber diesmal werde ich die Sache absichtlich vermasseln«, verkündete er Hughes. »Das wird der letzte Auftrag, den ich für die IRA übernehme.«

Das Gesicht des Fremden war sehr blass. Hughes sah das Mitgefühl in seinen Augen. Es glich dem eines Vaters, der sich verzweifelt abmüht, seinem Sohn einen Schiefer aus dem Daumen zu ziehen.

Ein Detail der Geschichte kam ihm bekannt vor. In seinem Kopf trieb ein Bild aus der Vergangenheit heran.

»Wer sind Sie? Sie können unmöglich der sein, für den ich Sie halte!« Hughes klang plötzlich erregt.

Kurz spähte der aufgehende Mond durch die Wolkendecke, dann war er erneut verschwunden.

»Hören Sie nicht?«, rief Hughes. »Wer sind Sie? Ich kann doch unmöglich mit Oliver Jordan sprechen. Der ist seit fast zwanzig Jahren tot!«

»Ich bin wieder da«, sagte der Fremde. »Ich bin mit dem schwarzen Winterwind gekommen, um meine Mörder heimzusuchen.«

Erschüttert trat der alte Mann einen Schritt zurück. Jordans Tod war ihm immer etwas eigenartig vorgekommen.

»Sind nicht alle Morde eigenartig?«, fragte der Fremde, als könnte er Hughes’ Gedanken lesen.

Aber der Mord an Jordan war besonders merkwürdig gewesen. Nicht nur, dass die Ermittlungen dazu im Sande verlaufen waren, auch die republikanischen Paramilitärs hatten all die Jahre darüber geschwiegen. Doch wer konnte glauben, dass ein Geist an einem stürmischen Winterabend einfach so ein tief in der Vergangenheit begrabenes Verbrechen ansprach?

»Sie haben mich übertölpelt«, sagte Hughes, und jetzt schwang in seinen Worten ein Vorwurf mit. »Die Behörden konnten Ihr Verschwinden nie richtig aufklären. Was wollen Sie von mir?«

An den Handgelenken des Fremden sah er dunkle Ringe, Spuren der Fesseln, die ihm seine Kidnapper angelegt hatten. Das Bild in Hughes’ Kopf trat nun klar erkennbar an die Oberfläche. Er sah einen mit Paketschnur gefesselten Mann kopfüber in einem Kuhstall hängen, auf den Handrücken Brandmale, auf dem Boden lagen büschelweise ausgerissene Haare zwischen dem Kuhmist.

»Tote Körper wiegen schwerer als lebende«, sagte der Fremde.

»Das weiß ich. Ich schleppe die Erinnerung an Sie schon Jahre mit mir herum.«

»Trotzdem sind Sie damit immer weiter in die Sackgasse gelaufen. Es wird Zeit umzudrehen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich will, dass Sie die Ermittlungen wiederaufnehmen. Die vielen losen Enden aufsammeln und zusammenführen. Sie sind der Letzte, der das Rätsel meines Verschwindens noch lösen kann.«

»Warum kommen Sie mir jetzt damit, wo ich so alt bin? Schauen Sie mich doch an. Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen.«

»Selbst Sie haben eine Seele. Sie müssen das für Ihr eigenes Seelenheil tun.«

»Aber ich verliere mein Gedächtnis. Ich vergesse Gesichter, Namen und Zeiten, sie verschwinden wie Knöpfe, die mir vom Hemd springen. Mein Verstand löst sich auf.«

»Wenn Sie Frieden finden wollen, müssen Sie auch einen Weg finden, sich zu erinnern.«

Der Fremde reichte dem alten Mann die Batterie, seinen ersten Hinweis.

»Tun Sie’s für mich. Nur Sie allein. Ohne Polizei oder sonst jemanden. Die werden Sie nur davon abhalten wollen.«

»So hab ich immer gearbeitet«, flüsterte Hughes. »Immer allein.«

Er betrachtete die Batterie, dann steckte er sie in die Tasche.

Der Wind frischte wieder auf, und ein Schauer peitschte durch die Luft, der dem Fremden wie Dornen in Hände und Gesicht stach.

»Gut«, sagte er. »In einem Monat komme ich zurück und erkundige mich nach dem Fortschritt.«

Der dornige Schauer wurde heftiger, und er zerkratzte die Luft mit einem Geräusch, als würde eine Sense geschärft. Das Gesicht des Fremden schien in der Flut zu verschwimmen. Er tat ein paar Schritte rückwärts, und auf einmal wurde sein Körper wie ein schwarzes Leintuch vom tosenden Wind fortgetragen.

1
Ein Monat später, Coney Island, Lough Neagh

»Diesmal wollen sie dich töten.« In der vollgerümpelten Vogelbeobachtungshütte wandte sich Joseph Devine um, um zu sehen, wer ihn angesprochen hatte, aber außer ihm war niemand da. Seine Augen waren müde, und der beißende Wind, der vom grauen Seeufer über eine Meile heranfegte, brachte sie zum Tränen.

»Gott im Himmel, reicht’s denn nicht, mich zu erschrecken?«

»Diesmal nicht. Nicht für sie. Sie haben bereits zu lange gewartet.«

»Ich hab niemandem was getan«, sagte er. Aber das hatte er immer behauptet.

Schon den ganzen Tag versteckte er sich auf einer Insel, die für Wasservögel ein Rückzugsort war, aber für einen verängstigten alten Spitzel eine unsichere Zuflucht.

Sogar bis hierher war ihm die Stimme gefolgt.

»Ich bin kein Informant mehr«, sagte er flehend. »Ich tu auch nicht mehr so, als wär ich ein andrer als der, der ich bin. Merkst du das nicht?«

»Hast du’s etwa vergessen, Joseph?«, stichelte die Stimme weiter. »Ein Spitzel ohne Tarnung ist bald gar nichts mehr.«

Dem konnte er nicht widersprechen.

Er spähte durch das Fernglas auf den Ort, von dem er befürchtete, dass er für seinen Tod vorgesehen war – ein leer stehendes Cottage, das sich an dem baumbestandenen Ufer duckte. Für ihn war es kaum vorstellbar, dass er ausgerechnet jetzt, in dieser Phase seines Lebens, nach dem Ende der Troubles und dem Abschluss des Waffenstillstandsabkommens, sterben könnte.

Die Schuld, die ihm die Stimme aufbürdete, wog schwer.

»Am Ende hat dein Gewissen dich doch mürbe gemacht, Joseph. Jahrelang hat es geduldig gewartet. Aber es hatte dir gegenüber einen entscheidenden Vorteil. Die Zeit war auf seiner Seite.«

Die meiste Zeit seines Lebens war Joseph Devine vor etwas weggelaufen – vor der British Army, der Royal Ulster Constabulary, der IRA, merkwürdigen Autos im Rückspiegel oder unerwarteten nächtlichen Anrufen, sogar vor Schatten am Ende einer Gasse. Zwar würde er niemals das geringste Bedauern über den wiederholten Verrat äußern, der seine vierzigjährige Karriere begleitet hatte, aber er hatte auch nie aufgehört, hinter sich zu blicken und nach den Schatten Ausschau zu halten, von denen er wusste, dass sie immer dort warteten. Nachdem die Troubles vorüber waren und die Special Branch ihn praktisch in den Ruhestand versetzt hatte, war seine größte Befürchtung die, dass er sogar seinen geheimsten Verfolgern entwischt sein könnte. In was für ein Loch fiel er, wenn sogar sie verschwunden waren? Er wusste, dass er, wenn ihn keiner mehr beobachtete, auch nie mehr von sich selbst befreit sein und vor den Stimmen in seinem Kopf verschont bleiben würde.

Der klagende Ruf eines Stockentenerpels zerschnitt die Luft. Devine hielt die gewölbten Hände vor den Mund und antwortete mit einem heiser-kehligen Laut, dann ließ er schnell hintereinander vier Lockrufe folgen, um das unruhige Tier zur Rückkehr an die Beobachtungshütte zu bewegen. Er wollte den Vogel in seiner Nähe halten, weil er hoffte, er würde Alarm schlagen, wenn sich ein Eindringling näherte. So ein quakender Geigerzähler schlug bereits an, wenn auch nur ein Ast knackte.

Der Erpel hörte den falschen Ruf einer Ente in Not, flog eine enge Kurve und kehrte zurück. Ungefähr fünfzehn Meter vor dem Versteck schlug er mit den Flügeln und landete auf dem Wasser. Devine gestattete sich ein kurzes Lächeln, weil er den Vogel so problemlos angelockt hatte.

»Schon besser«, sagte die Stimme. »Jetzt sicherst du dich ab. Schließlich gibt’s auf der Welt keine besseren Wachposten als Wildvögel. Ein Meisterstreich, Mr. Devine, wie Master Brannigan, der alte Brandy Balls, sagen würde.«

Während im Westen die letzte Glut am Horizont noch einmal angeblasen wurde, hob Devine wieder das Fernglas vor die Augen und blickte auf das Haus, von dem er gehofft hatte, es würde sein Altersruhesitz werden. Sorgfältig inspizierte er das Ende des Feldwegs, das undurchdringliche Schlehdorndickicht, das an den verwilderten Garten grenzte, die Position der zerschlissenen Vorhänge in den Fenstern und prüfte alles auf ein Anzeichen der Schatten, vor denen er sich seit seiner Jugend versteckte.

Bei einer Kopfdrehung strich er mit seinem Stoppelkinn über den schlanken kühlen Lauf des Jagdgewehrs, das neben ihm an der Wand lehnte. Da fiel ihm ein, dass er mit den neuen Handschuhen noch keine Schießpraxis hatte, und er fluchte. Sie waren so dick, dass es womöglich einen Einfluss darauf hatte, wenn er die Waffe hielt und den Abzug betätigte. Beim Dehnen seiner müden Finger spürte er die feuchte Kälte, die sogar durch das Leder gekrochen war, und packte das Fernglas fester.

Von einer nahen Eiche flog ein Krähenschwarm auf und lenkte ihn von der eingehenden Betrachtung des Cottage ab. Als er sich wieder darauf konzentrieren konnte, lag es unverändert still am Ufer. Abgesehen davon, dass kein Rauch aus dem Kamin stieg, war es ein Sinnbild häuslichen Friedens. Die Krähen ließen sich nieder, und die Nacht schlich die Uferlinie entlang. Er seufzte und ließ das Fernglas sinken.

»Du hast dir Ruhe verdient, Joseph«, schnurrte die Stimme. »Es war mühsam für dich, über all die Jahre den Schein zu wahren. Die Anstrengung hat dich müde werden lassen. Es ist weiß Gott ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst.«

Froststacheln bohrten sich durch die eisigen Bodenbretter und stachen ihm ihre kalten Spitzen in Füße und Knie. Er meinte zu spüren, dass er, von der kalten Schwerkraft des Winters angezogen, wie ein Tier im Winterschlaf immer tiefer in sein Innerstes hineinsank. Die stundenlange Überwachung begann an ihm zu zehren.

»Mach einfach die Augen zu und schlaf, Joseph. Du hast das perfekte Versteck für einen perfekten Spitzel gefunden.«

Obwohl er sicher war, dass seine Feinde tief in ihren Gräbern ruhten, schwirrten ihre Geister seit Jahren durch seine Träume und peinigten ihn mit ihrem nächtlichen Gestöber, als wären sie Laub von einem unsterblichen Baum. Einzige Ablenkung war das Abspielen seiner Lieblingsplatte, die das erste Geschenk seines Vaters war, eine zerkratzte Aufnahme mit dem Titel Dawn in the Duck-Hide. Die A-Seite bestand aus einer gesprochenen Einführung in die Vogeljagd, auf der B-Seite waren nur die erwachenden Wasservögel bei Sonnenaufgang zu hören.

Sein ganzes Leben lang war er ein passionierter Entenjäger gewesen, und diese Aufnahme erfreute ihn stets aufs Neue. Das Schnattern, Quaken und die leisen Lockrufe waren ein Labsal für seinen Geist und schenkten ihm das innere Gleichgewicht, das er früher im Alkohol gefunden hatte. So war ihm auch die Lösung, wie er sich endgültig von der Vergangenheit befreien konnte, beim Lauschen dieser Vogelstimmen eingefallen.

Allerdings hatte er sich damit in falscher Sicherheit gewiegt. Als an jenem Morgen das Telefon klingelte, befiel ihn die kälteste Panik. Die vertraute Stimme am anderen Ende hatte nur wenige Worte gesprochen, dennoch hatte ihn der Anruf zur sofortigen Flucht aus dem Cottage veranlasst. Augenblicklich und ohne den geringsten Zweifel war ihm klar geworden, dass sich seine Feinde versammelten, um endgültig Rache zu nehmen.

Die Hintertür war von der Kälte verzogen gewesen, und er musste sie mit der Schulter aufstemmen. Trotz der Schmerzen in den arthritischen Händen zog er das Ruderboot über das glitschige Ufer, während er schnaufend unregelmäßige Atemwölkchen in der kalten Luft ausstieß. Die schneidende Morgenkälte schmerzte in seiner Lunge, und unter seinen Schritten zerbrachen kleine Eisplatten, deren Krachen und Knacken das stille Ufer aufschreckte.

Die Insel. Er war sicher, dass seine Verfolger nichts von dem Versteck wussten, das er sich dort eingerichtet hatte. Niemals hätte er so lange überlebt, wenn von seiner alten Findigkeit nicht noch einiges übrig wäre.

Er war ein Teenager gewesen, als die Schatten angefangen hatten, ihn zu verfolgen. Erst hatte er gemeint, der schnittige Wagen, der auf dem Nachhauseweg von einem Fußballspiel neben ihm hielt, habe sich verfahren und die Insassen wollten nach dem Weg fragen. Als auf der Fahrerseite das Fenster heruntergekurbelt wurde, erschien ein Mann mit grauem Gesicht und grauen Augen, dessen Stimme so dunkel und tief war wie der kräftige Motor seines Wagens.

»Hättest du Lust, für die andere Seite zu spielen, Joseph?«, fragte er mit einem Lächeln.

Woher kannte der Mann seinen Namen? Für einen Moment dachte er in aller Unschuld, der Fahrer sei der Trainer des Teams der Nachbargemeinde.

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Das ist für den Augenblick nicht so wichtig, Joseph. Sagen wir einfach, ich bin Forscher und du bist mein Spezialgebiet.« Mit kühlem Blick lauerte er auf die Reaktion im Gesicht des Jungen.

»Ich will nichts weiter von dir als ein paar Informationen über die bösen Jungs und darüber, wer was mit wem macht. Dafür passen wir auf dich auf, du kriegst gutes Geld von uns, und wir helfen dir, wenn du Schwierigkeiten kriegst oder Soldaten dich belästigen.«

Devine machte einen Schritt rückwärts, dabei sanken seine Turnschuhe in den Schlamm am Straßenrand ein. Plötzlich hatte er das Gefühl, er habe sich in ein Schlüsselloch verwandelt, durch das gleißendes Licht fiel.

»Nein, danke«, sagte er, ohne den Anflug von Panik in seiner Stimme verbergen zu können.

Der Mann, der für ihn später nur der Anbahner war, nickte kurz. Er schien mit der Antwort zufrieden.

»Alles klar, war ja nur eine Frage«, sagte er und kurbelte das Fenster wieder hoch. Er salutierte knapp und fuhr davon.

Aber es folgten weitere Begegnungen auf einsamen Straßen, Gespräche über Onkel, die zusammengeschlagen worden waren, kranke, von Soldaten drangsalierte Verwandte und Warnungen, dass er von Paramilitärs verfolgt wurde. Manchmal wurden ihm Geld und schnelle Autos versprochen, manchmal verklausulierte Drohungen ausgesprochen, bei denen der Anbahner mit seinem kühlen Blick dem Jungen so starr in die Augen sah, als würde er magnetisch von einem Makel, einem inneren Pol der Schwäche angezogen, von dem Devine nicht einmal geahnt hatte, dass es ihn gab.

In den langen Jahren voller Ausflüchte und Täuschungen, die folgen sollten, hatte sich ihm eine Wahrheit offenbart, vor der es kein Entrinnen gab – dass nämlich sein erster Verrat einem Feuer glich, das niemals völlig herabbrennen würde. Sein ganzes Leben hatte er sich gefühlt wie ein Kind allein im dunklen Wald und sich immer einen so allumfassenden Verrat gewünscht, dass alles hinter ihm Liegende vollständig niederbrannte. Kein Rauch, keine Funken, keine glimmende Kohle, keine Spuren oder Schatten sollten übrig bleiben, nur noch Schutt und Asche.

Das ferne Krächzen einer Krähe weckte ihn aus einem kurzen unbequemen Schlaf. Aufmerksam lauschte er der Tonfolge. Krah-rah, krah-rah, krah-rah, krah-rah. Obwohl der Krähenruf halb vom Abendnebel verschluckt wurde, erkannte er den Laut, mit dem der Vogel anzeigte, dass keine Gefahr drohte.

Er lächelte über den Gedanken, dass er auf einen Krähenruf baute, um seine ärgste Furcht in Schach zu halten. Bei einem Jagdausflug hätte er sich vielleicht einen Spaß daraus gemacht, den Vogel vom Himmel zu holen.

Für die Wasservögel war die Schlafenszeit gekommen, und überall am Ufer schwärmten sie zurück in die Nester. Ihre Rufe antworteten der heranflutenden Nacht. Devine schloss die Augen, versammelte in Gedanken die Schlafrufe aller Vögel und verortete sie an ihren Schlafplätzen. So wob er sich in der Dunkelheit des Verstecks langsam selbst ein in das bewegliche Gespinst der Vogellaute, und während er dem Rufen und abendlichen Flügelrauschen zuhörte, schlief er wieder ein.

Das klägliche Quaken der Stockente ließ ihn aufschrecken. Der Laut erfüllte ihn mit Sorge, dieser Krächzer klang wie ein Todesschrei, ein klammes Gurgeln, das aus dem Vogelhals herausgepresst wurde. Er kletterte aus dem Versteck und watete in die Richtung des Lauts, aber er hatte abrupt geendet, wie verschluckt von der Schwärze der eisigen Nacht.

Doch dann hörte er ein weiteres klägliches Quaken aus dem Unterholz. Jetzt, im Freien, erkannte er den Misston darin. Den falschen Klang. Einen menschlichen Ton. So zu quaken erforderte Übung, aber ihn konnte man damit nicht täuschen.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, und im selben Moment wurde ihm klar, dass sich ein Pfad zum Tod aufgetan hatte. Die Binsen schwankten, Schatten stürzten auf ihn zu. Während er durch das Ried zu seinem Versteck rannte, entdeckte er einen weiteren Schatten vor sich. Als er einen Haken schlug, hörte er etwas, das wie Lachen klang.

Die Stimme, die er heute Morgen am Telefon gehört hatte, sprach jetzt aus der Dunkelheit. Sie hatte sich verändert, war von jahrelangem Hass oder Krankheit entstellt. Er versuchte, ihren genauen Ursprung zu orten, den schwarzen Umriss, der die still ausschwärmenden Schatten auf die Beute lenkte.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so viele Verfolger sein würden. Die große Zahl erfüllte ihn mit Grauen. Was wäre, wenn sie alle Sühne von ihm forderten und ihn aufteilten, ein Stück von ihm für jede ihrer ganz persönlichen Versionen von Hölle wollten? Wie viele Tode konnte ein Mensch ertragen?

Als ihn ein schwerer Gegenstand im Gesicht traf und sein Mund sich mit Blut füllte, ließ er alle Hoffnung fahren. Ein zweiter Schlag drosch ihm das linke Auge wie einen Nagel in den Schädel.

Sein verbliebenes Auge irrlichterte umher, während die Schatten an seiner Kleidung rissen, bis sein Oberkörper entblößt war, und Schlag auf Schlag auf ihn einprasselte. Dann Totenstille, als sie innehielten und Atem schöpften. Die Arme schützend an den nackten Oberkörper gepresst, versuchte er sich wegzurollen. Seinen Körper nahm er nur noch als Schmerz wahr.

»Du mörderisches Dreckschwein«, sagte die bekannte Stimme nah an seinem zwinkernden Auge. Ein kaltes Lächeln zerschnitt dünne Lippen.

»Ich hab Jordan nicht umgebracht, wenn ihr das glaubt«, winselte er.

»Aber du hast mit denen, die’s getan haben, gemeinsame Sache gemacht«, entgegnete die Stimme. Sie schien von Speichel zu triefen, bereit, das kalte Mahl zu verschlingen, das gleich serviert werden würde.

»Ich wollte nur der Familie helfen. Wiedergutmachen, was passiert ist.«

Zu verletzt, um sich zu bewegen, begann er um Gnade zu flehen.

»Ich geb auf«, flüsterte er. »Ich geb auf.« Es wirkte eher wie ein an ihn selbst gerichtetes Versprechen.

Aber die Schatten ließen nicht von ihm ab, bis es fast dämmerte. Sie schlugen und traten auf ihn ein, als hätten sie jahrelang auf diese Gewalt verzichtet und genössen das Fest jetzt umso mehr.

Nachdem sie fertig waren und die Insel verlassen hatten, versammelte sich ein Krähenschwarm um das Opfer. Sobald die ersten hellen Flecken der Dämmerung am Himmel erschienen, begannen die Krähen zu zetern, als würden sie sich mit dem Krächzen über den schrecklichen Anblick beschweren, und übertönten damit den üblichen Morgenchor. Nur gab es kein Publikum, sie zu hören. Dünner Regen setzte ein und senkte sich wie ein Vorhang über den Informanten und die Insel, die ein Rückzugsort für Wasservögel war.

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