Xaverna

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel 2

Am nächsten Morgen checkte ich erst einmal meinen Kontostand, bevor ich eine E-Mail mit einer Kostenanfrage sowie dem Manuskript an „Books Selfmade“ schickte. Danach packte ich meinen Laptop inklusive Internetstick in meinen großen Tourenrucksack. Dazu steckte ich ein wenig Geld, um mir später ein Fischbrötchen kaufen zu können. Vielleicht müsste ich ja auch einen Strandkorb mieten.

Es war gerade halb neun, als ich mich auf den Weg machte. Mir blieb keine andere Wahl, als so früh zu starten, wenn bei meiner Ankunft am Strand noch nicht alles von Urlaubern überfüllt sein sollte. Obwohl mir der Waldweg prinzipiell deutlich lieber war, entschied ich mich, auf der Hauptstraße zu fahren, da dies die schnellere Strecke war. Hochmotiviert schlug ich die Haustür hinter mir zu. Mein Fahrrad lehnte noch am Gartenzaun, wo ich es gestern abgestellt hatte. Mit großen Schritten marschierte ich darauf zu – und blickte direkt in Frau Schupaniraks strahlendes Gesicht. Mein Magen verkrampfte sich. Ich hatte weder Zeit noch Lust, irgendwelche historischen Ereignisse zu diskutieren! „Morgen“, brummte ich leise, wandte mich aber sofort meinem Rad zu. „Einen wunderschönen guten Morgen, Cornelia! Ich hoffe, dein Ferienstart war äußerst gelungen!“ Jetzt nicht mehr, dachte ich, nickte jedoch. „Oh, und weißt du, heute ist der zehnte Juli, der Tag, an dem 1821 durch den Onís-Vertrag Florida an die USA überging, 1877 die preußische Nordbahn eröffnet wurde und 1941 … “

„Ja, und 1949 wurde der DFB neu gegründet und Mario Gomez hat heute ebenso Geburtstag wie Johannes Calvin und Maximilian von Baden. Ich weiß“, stoppte ich genervt ihren Redeanfall und hoffte, mich in keinem Fakt geirrt zu haben. Da ich selbst sportinteressiert war und noch dazu David als Bruder hatte, kannte ich mich auf diesem Gebiet allerdings recht gut aus, sodass zumindest diese Daten sicher stimmten. Frau Schupanirak starrte mich entgeistert an. Ich bemühte mich, wenigstens ein kleines Lächeln zustande zu bringen, scheiterte jedoch kläglich. Damit die Situation nicht noch peinlicher wurde, stieg ich nach ein paar Sekunden des Schweigens einfach auf mein Rad und fuhr davon. Auf der Straße waren trotz der frühen Stunde bereits einige Urlauber unterwegs. Die Erwachsenen trugen Handtücher, kleine Schirme und Zelte, die Kinder hielten Schaufeln, Eimerchen, Wasserbälle, Kescher und Luftmatratzen. Ich lächelte. Es war doch jedes Jahr das Gleiche. Unsere Insel war schon wirklich ein Paradies!

Nur wenige Autos bevölkerten die Straße, die mich hätten stören können. Vor dem Bäcker standen schätzungsweise 20 Menschen. Das Geschäft lief offenbar. Geschickt schlängelte ich mich an einem Lkw vorbei, bevor ich wieder auf den Vorplatz der Seebrücke abbog. Heute waren bereits einige Fahrradständer belegt, doch trotzdem hatte ich noch genügend Auswahl. Nachdem ich mein Rad angeschlossen hatte, ging ich entschlossen auf den Strand zu. Mit großen Schritten sprang ich die sandige Treppe hinunter.

Fast hatte ich es mir ja gedacht – Jördis stand natürlich mit am Bootsverleih. Ich hätte wetten können, dass sie das Geschäft eines Tages übernehmen würde! Freudestrahlend begrüßte sie mich. Sofort danach erkundigte sie sich, ob ich mich über „Books Selfmade“ informiert hatte, und war augenscheinlich zufrieden, als ich bejahte. „Sicher suchst du wieder einen Platz zum Schreiben, oder?“, sagte sie. „Ja, besonders in euren Booten bekomme ich immer so viele geniale Inspirationen“, antwortete ich mit einem Augenzwinkern. Wie üblich lag das ramponierte Ruderboot am Dünenrand und wurde nicht benötigt. Unzählige Stunden hatte ich schon darin verbracht, tief in Gedanken versunken, den Laptop oder einen Schreibblock auf dem Schoß. In aller Ruhe angelte ich die im Fußraum versteckte Decke hervor, um sie über den harten Sitzbänken auszubreiten. Ich war so ziemlich der einzige Mensch auf der ganzen Insel, der sie jemals verwendete, doch das genügte Jördis als Grund, sie nicht zu entfernen.

Wieder war ein recht warmer Tag im Kommen, sodass ich es mir ohne Jacke im Boot bequem machen konnte. Jördis wuselte gar barfuß und in kurzer Hose durch die Gegend! Lächelnd beobachtete ich die über den Buhnen kreisenden Möwen, während der Laptop startete. Obwohl es mich in den Fingern juckte, endlich mit dem Schreiben zu beginnen, schob ich zuerst meinen Internetstick in den USB-Port, um mein E-Mail-Fach zu laden. Tatsächlich fand ich darin bereits eine Antwort von „Books Selfmade“.

Mit dem eingeschickten Manuskript sollte mich ein Buch als Paperback acht Euro kosten, der empfohlene Verkaufspreis lag dann bei 9,90 Euro. Das klang erst einmal ganz verlockend. Für die Vermarktung sei ich selbst verantwortlich. Kein Problem. ISBN: 100 Euro. Hm. Lektoratskosten: 200 Euro. Nein, danke. Coverdesign entwerfen lassen: 120 Euro. Oder bitte ein eigenes einsenden. Oh, ich hatte bereits mehrere Entwürfe gezeichnet und digitalisiert!

Ich wählte die drei besten aus und zog sie in den Anhang. Dann bestellte ich kurzerhand 50 Bücher mit ISBN. Mit Verwunderung nahm ich zur Kenntnis, dass es dafür nicht einmal einer Einverständniserklärung meiner Eltern bedurfte.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich auf den „Senden“-Button klickte. Endlich hatte ich es geschafft! Die Lust auf mein neues Projekt verstärkte sich in rasantem Tempo, stets mit dem Hintergedanken, dass auch dafür ein Druck möglich sein würde!

Innerlich jubelte ich lauthals, meine Glückshormone fuhren Achterbahn, wobei sie einen Looping nach dem anderen drehten. Schließlich konnte ich nicht mehr verhindern, dass mir ein kleiner Freudenschrei entfuhr, allerdings schien niemand ihn gehört zu haben. Vor Aufregung gesellte sich gleich noch ein Schluckauf dazu. Als nächstes durchzuckte mich ein Blitz der Erleichterung; welch großer Stein mir dabei vom Herzen fiel!

Vor lauter Glück war mein Kopf wie leergepustet. Es gelang mir mit zitternden Händen, die Word-Datei des Buchkapitels zu öffnen, an dem ich gerade schrieb. Erst kam mir keine Idee, wie mein nächster Satz aussehen sollte, doch schließlich hatte ich den richtigen Gedanken. Eifrig tippte ich los. Der Schluckauf aber ließ mich ständig abrutschen, sodass ich nach nur drei Zeilen eine Pause einlegen musste, um mich ein wenig zu beruhigen. Glücklicherweise konnte ich durch ein längeres Luftanhalten den Schluckauf in die Flucht schlagen. Am Rande nahm ich wahr, wie Jördis mir einige belustigte Blicke zuwarf. Ich versuchte mich an einem Grinsen, bevor ich mich wieder dem Text zuwandte.

Kopfschüttelnd löschte ich die letzten Zeilen. So konnte man sich doch nicht ausdrücken! Voller Tatendrang formulierte ich den Inhalt neu. Schnell füllte sich der Strand und mit ihm mein Bildschirm. Aus den spielenden Urlauberkindern konnte ich eimerweise Inspirationen schöpfen, die sich sofort oder auch später verwenden ließen. Allgemein war ich rundum zufrieden mit dem, was ich an jenem Morgen zu Papier gebracht hatte.

Gegen 13 Uhr trabte Jördis an „mein“ Boot heran. „Cornelia? Wie wäre es mit einer Mittagspause? Papa spendiert uns Fischbrötchen!“ Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen und ich sprang auf. Oh ja, ich liebte Fischbrötchen! Eilig verstaute ich die Decke wieder im Boot und packte meine Sachen ein. Nachdem ich den Rucksack geschultert hatte, schlenderten wir gemütlich in Richtung Salzhütten. Während Jördis wie immer auf Heilbutt setzte, entschied ich mich nach einigem Zögern für Matjes. Mit den knackigen Brötchen ließen wir uns draußen auf einer Holzbank nieder. Wir schwiegen, solange wir genüsslich unser Mittagessen verspeisten. Danach erklärte Jördis fast entschuldigend, dass sie noch einiges in ihrem Kräutergarten zu tun hätte. Ich lächelte. Der Kräutergarten war Jördis‘ große Leidenschaft; wenn man sie am Strand nicht antraf, hielt sie sich mit ziemlicher Sicherheit dort auf.

Außerdem wollte ich mich sowieso auf den Heimweg machen. In meinen Gedanken formten sich bereits die Sätze für eine erste Pressemitteilung über das Erscheinen meines Buches. Diesmal wählte ich wieder den Weg durch den Wald, was ich allerdings nach nur einem Berg bereits bereute: Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Schultern. Trotzdem biss ich die Zähne zusammen, denn zum Umkehren hatte ich wahrlich keine Lust, daher kämpfte ich mich auch die restlichen Steigungen empor. Ein erfrischender Wind wirbelte mir durch die Haare, als ich die Siemensstraße hinab rollte. Dazu kitzelte die Sonne meine Nasenspitze, mein Schmerz verflog, ein paar Vögel zwitscherten sich etwas zu. Die Atmosphäre, die sich wie eine schützende Blase um diesen schönen Moment gewölbt hatte, zerplatzte in dem Augenblick, als ich freie Sicht auf unseren Nachbargarten bekam. Konnte ich denn nicht wenigstens einen halben Tag Ruhe vor Frau Schupanirak haben? Breit lächelnd winkte sie mir zu, ich hob die Hand, startete den Versuch, ebenfalls zu lächeln, brachte jedoch nur eine halbherzige Grimasse zustande. „Na, Cornelia, du kommst aber früh nach Hause heute! Party abgebrochen?“ Frau Schupanirak ließ ihr grässlich hohes Lachen ertönen. „Zu Ihrer Party scheint ja nicht einmal jemand gekommen zu sein, dass Sie immer noch allein hier draußen rumstehen“, erwiderte ich bissig. Aus dem Augenwinkel nahm ich ihren verdatterten Gesichtsausdruck wahr, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern begab mich auf den schnellsten Weg ins Haus, in mein Zimmer. Die Julisonne brannte unerbittlich auf das Dach. Daher herrschte auch in meinem Zimmer drückende Hitze. Ärgerlich öffnete ich ein Fenster, damit die Luft wenigstens nicht noch stickig wurde. Dann widmete ich mich erneut meinem E-Mail-Fach. Tatsächlich befand sich bereits eine Art Vertrag darin. Ich sollte meine Adresse, Telefonnummer und die E-Mail-Adresse meiner Eltern angeben, damit auch diese informiert werden könnten. Dazu bat man mich, einen Verkaufspreis festzulegen, damit dieser auf die Bücher gedruckt werden könne, welche ich in zwei bis drei Wochen erhalten würde. Erstaunt runzelte ich die Stirn. Das war eine außerordentlich kurze Zeitspanne! Lächelnd sendete ich die geforderten Daten ab. Sofort danach machte ich mich daran, einige Versionen für eine mögliche Ankündigung meines Buches in der Zeitung zu ersinnen.

 

Nachdem ich die dritte fertiggestellt hatte und mir der Tatsache bewusst geworden war, dass alle in etwa dem gleichen Muster folgten, ließ ich, mich langsam entspannend, die Hände von der Tastatur sinken. Ich las die Artikel nacheinander, dann in umgekehrter Reihenfolge. Den zweiten nochmal. Doch lieber den ersten? Obwohl, der dritte war auch nicht schlecht. Allen Bemühungen zum Trotz konnte ich mich nicht entscheiden, welcher der beste war.

Damit tat sich unwillkürlich die nächste Frage auf: Wen sollte ich nach einer Meinung fragen? Janis? Jördis? Ich war unsicher. Andererseits … Janis würde sofort Mum und Dad davon erzählen, vielleicht versäumte ja „Books Selfmade“ diese Informationsweitergabe und ich könnte sie mittels der Zeitung überraschen. Also Jördis.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Halb fünf. Nein, da würde ich lieber bis morgen warten. Ganz so eilig war es ja nicht. Stattdessen sollte ich mal wieder eine Runde joggen! Ich wühlte meine Laufschuhe aus einem überfüllten Schrank hervor und entschied mich für die Richtung Kölpinsee. Etwa drei Kilometer eine Strecke, das sollte nach einem größtenteils entspannten Tag kein Problem darstellen. Leise schloss ich die Haustür hinter mir und warf vorsichtig einen Blick in den Nachbargarten. Frau Schupanirak sonnte sich mit geschlossenen Augen auf einer wuchtigen Holzliege. Möglichst wenig Geräusche verursachend eilte ich an ihrem Garten vorbei zum Wald hin. Ein erleichterter Atemstoß entfuhr mir, als ich eine sichere Entfernung zwischen uns gebracht hatte. Mein Herz begann höher zu schlagen, sobald ich den Waldboden unter meinen Füßen spürte. Ein bisschen Laub. Ein paar Tannennadeln. Vielleicht auch ein anderer Nadelbaum, keine Ahnung. Von Zeit zu Zeit ein Zapfen. Wurzeln. Stöckchen.

Mit jedem Schritt breitete sich die Entspannung weiter in mir aus. Mein Atem ging sehr regelmäßig. Nachdem ich schon so viele Jahre joggte, waren sechs Kilometer für mich ein Kinderspiel. Ich war nicht einmal ansatzweise aus der Puste, als ich Kölpinsee erreichte. Trotzdem machte ich kehrt, bevor ich den Ort richtig betreten hatte. Doch auch als ich den Wald in Koserow wieder verließ, keuchte ich kaum. Stattdessen signalisierte mir mein ganzer Körper, dass ihm der Lauf gutgetan hatte. Auf den Gipfel der Freude brachte ich ihn durch eine abschließende Dusche. Toast zum Abendbrot. Ein bisschen Lesen vor dem Einschlafen. Der Abschluss eines alles in allem überaus erfolgreichen Tages.

10. 07. 2010, Xaver

Ich habe mit den Listen begonnen. Pah, wenn diese abgearbeitet sind, muss sich niemand mehr Gedanken über die zu geringen Lagermöglichkeiten der Höhle machen, ein Problem, über das Vater sich aktuell den Kopf zerbricht. Überflüssig! Noch quillt alles über, aber diesem Übel werde ich schnell, sehr schnell ein Ende bereiten, das schwöre ich! Ich bin mir der heutigen Situation bewusst und weiß, dass die Lage verzwickt ist. Heute eröffnete Ludwig XVI. seinen engen Ratgebern, dass er Necker des Landes verweisen werde. Einsprüche gab es nicht, trotz des miserablen Zeitmanagements. Dennoch, für mich ist es vorteilhaft, denn wer sollte mir widersprechen? Ich habe keine engen Ratgeber. Und Vater auch nicht, seine Aufgabe wäre das ja schließlich in unserem Fall. Offen gestanden behagt es mir nicht, dass ich dauerhaft in seine Rolle schlüpfen muss, obwohl er doch der zu Stürzende ist.

Alles wäre viel komfortabler, wenn er selbst Ludwig vertreten würde. Leider wollte mir partout keine Variante einfallen, in der dies möglich wäre. Für den Abend plane ich ein kleines Fest. Die Höhle wird die Champs-Élysées würdig ersetzen, ich kann endlich einmal das Volk symbolisieren. Solange verweile ich in ehrlicher Freude.

10. 07. 2010, Marek

Lange halte ich das nicht mehr aus; wenn es so weiter geht, muss ich über kurz oder lang mit jemandem darüber sprechen. Am besten mit Cornelia selbst, falls ich mich traue. Ich habe sie heute in Koserow am Strand gesehen, wo wir, unsere Fußballmannschaft, uns auf einen Strandkick verabredet hatten. Wahrscheinlich war ich deshalb so unkonzentriert, dermaßen schlecht habe ich noch nie gespielt! Cornelia saß in einem alten Ruderboot, ihren Laptop auf dem Schoß. Sie tippte eifrig. Gott allein weiß, was sie da tat. Ich glaube nicht, dass sie mich bemerkt hat, zumindest gegrüßt hätte sie wohl. Aber sie schien sehr beschäftigt. Gegen Mittag hat sie sich zusammen mit Jördis verzogen. Trotzdem bin ich den Rest des Tages dieses Bild vor meinem geistigen Auge nicht losgeworden.

Cornelia im Boot. Ihre Haare wehten leicht im Wind, ihr Gesicht war angespannt. Manchmal glaubte ich, Aufregung darin lesen zu können. Ich kann es schlecht beschreiben, doch eines weiß ich genau: Dieser Anblick hat meine Gefühle nur noch untermauert.

gez. Marek

Kapitel 3

Am nächsten Morgen machte ich mich sofort nach dem Frühstück mit den Artikelentwürfen in der Tasche auf den Weg zu Jördis. Ich traf sie aufgrund der frühen Uhrzeit noch in ihrem Kräutergarten an. Zu meiner Überraschung zeigte sie sich von allen drei Varianten ziemlich begeistert, sodass auch ihr eine Entscheidung äußerst schwer fiel. Schließlich wählte sie Nummer zwei.

Ohne mehr Zeit als nötig dafür zu verschwenden, bedankte ich mich bei ihr, um schnell meinen Weg fortsetzen zu können. Ich wollte die Pressemitteilung persönlich nach Zinnowitz bringen, zum Redaktionsbüro des Inselkuriers. Der Himmel war etwas bedeckt, als ich mich frohen Mutes auf den Weg machte. Leider sah es trotzdem nicht nach Regen aus, sodass Scharen von Urlaubern sich zu einem Spaziergang auf dem Damm entschlossen hatten, wodurch ich Schlangenlinien um Omis mit Rollatoren und kleine Kinder mit Puppenwagen fahren musste. Nur so gelang es mir, ein halbwegs akzeptables Tempo anzuschlagen.

Ich erreichte das Büro am späten Vormittag. Der einzige anwesende Redakteur zeigte sich von meiner Geschichte begeistert und versprach, den mitgebrachten Artikel definitiv in Kürze der Öffentlichkeit zu präsentieren. Außerdem sollte ich ihn unbedingt jederzeit über weitere interessante Ereignisse in Bezug auf das Buch informieren! Nachdem ich dies versprochen hatte, schwang ich mich bester Laune wieder auf mein Fahrrad. Als ich Zempin hinter mir gelassen hatte, drosselte ich mein Tempo merklich und legte an der Biegung, die wieder auf den Damm führte, eine Pause ein. Ich ließ mein Rad einfach stehen und kletterte auf die Düne, obwohl dies natürlich verboten war. Eine Weile blickte ich einfach nur auf das offene Meer hinaus, sah den Wellen beim Brechen zu, genoss, wie der Wind unter meine Kleidung fuhr. Normalerweise ließ ich es damit gut sein, kehrte nach ein paar Minuten zum Radweg zurück. Doch etwas hielt mich heute davon ab, vielleicht ahnte ich ja in der hintersten Ecke meines Gehirns, dass etwas Außergewöhnliches bevorstand. Also wandte ich mich nach rechts und lief schräg auf die See zu. Irgendwann schwenkte ich um, um parallel zum Wasser zu gehen. Im Nachhinein war es mir nicht mehr möglich, die Gründe für mein Tun zu rekonstruieren – was auch daran liegen konnte, dass es bei einem mehr als halbherzigen Versuch blieb – derart weit war ich jedenfalls noch nie über die Düne gegangen. Ich konnte bereits den nächsten Strandzugang erkennen, da stoppte ich endlich.

Wie um mich zu beruhigen, schaute ich mich gründlich um. Strandidylle pur. Nein, Moment! Was war das? Eine Wurzel, ja. Auf den ersten Blick kaum ungewöhnlich, aber es fehlte der passende Baum. Verwirrt hielt ich inne. Bestimmt bildete ich mir das nur ein, oder? Gewiss war dort rein gar nichts Besorgniserregendes, richtig? Doch ich konnte einfach nicht widerstehen, die Wurzel etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Langsam ging ich auf das seltsam gebogene Holz zu. Aus der Nähe fiel das Fehlen des Baumes kaum auf. Kurzerhand ergriff ich die Wurzel und riss daran. Schon dass sie nur ein kleines bisschen wackelte, kostete mich einige Anstrengung. Bevor es mir gelang, größere Veränderungen zu bewirken, musste ich eine erste Verschnaufpause einlegen. Gehörte die Wurzel vielleicht doch hierher? Beinahe fing ich an, das zu glauben, aber dann besann ich mich. Sie sah einfach zu bizarr aus, wie sie da baumlos aus der Öffnung ragte. Ich umfasste das Holz an einer anderen Stelle. Meine Knöchel traten weiß hervor, so stark umklammerte ich den Wurzelast. Mit aller Kraft stemmte ich meine Füße in den Boden und zog. Sand rieselte in meinen Turnschuh und schob sich unter meinen Strumpf, wo er unangenehm in meine Fußsohle stach. Urplötzlich flog ich nach hinten. Hatte ich es geschafft? War die Wurzel gelöst? Nein. Meine Augen weiteten sich, als ich aufblickte. Alles noch an Ort und Stelle, nur der Sand … ich konnte nicht sagen, was damit passiert war, doch ich war überzeugt, dass er mich zurückgeschleudert hatte.


Fest entschlossen erhob ich mich und klopfte mir den Sand aus der Kleidung. Vielleicht war ja Gewalt gerade nicht die beste Lösung. Vielleicht sollte ich mir die Wurzel erst einmal aus der Nähe betrachten. Vielleicht würde sich dann eine ganz simple Lösung offenbaren. Vielleicht. Ich ging dicht vor dem mysteriösen Loch in die Hocke. Mit zusammengekniffenen Augen ließ ich meinen Blick über die Äste wandern. Nichts. Ich streckte die rechte Hand nach vorn und ließ meine Finger über jedes Zweigchen einzeln gleiten. Stopp! Ich fuhr den Zeigefinger wenige Millimeter zurück. Da war doch etwas, oder? Es fühlte sich an, wie … nun, Hebel war nicht ganz das richtige Wort, traf es aber noch am ehesten. Automatisch schob sich mein Finger in die Einbuchtung unter dem Hebel. Dann drückte er nach oben. Augenblicklich setzte ein lautes Rattern ein. Unwillkürlich sprang ich zurück, der Schreck stand mir wohl ins Gesicht geschrieben. Während die Lautstärke stetig anschwoll, begann die Wurzel sich zu drehen. Wie in Zeitlupe glitten die einzelnen Äste auseinander. Nach einigen Minuten schließlich gaben sie eine Öffnung frei, die groß genug war, dass ein Mensch hindurchpasste. Ich zögerte nur kurz, bevor ich mit dem Kopf vorneweg in das Loch kroch. Sofort umfing mich völlige Dunkelheit. Einen Moment lang bezweifelte ich, dass es eine gute Idee war, sich einfach ins Ungewisse zu zwängen. Was, wenn ich stecken blieb? Niemand war hier, der mir helfen konnte. Nur Sekunden später hatte meine Neugier gesiegt. Denn dass mich hier etwas Aufregendes erwartete, war mir spätestens seit der eigenmächtigen Bewegung der Wurzel klar. Anfangs war der Tunnel ziemlich eng, sodass es mich einige Mühe kostete, mich robbend nach vorne zu schieben. Aber schon bald weitete sich der Gang etwas und ich konnte vorwärts krabbeln. Wenig später hatte sich die Decke weit genug nach oben verlagert, sodass ein geducktes Gehen möglich war. Mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen auch etwas besser an die Dunkelheit, die mich umgab. Dennoch konnte ich nicht viel erkennen, was wohl daran lag, dass es schlichtweg nichts zu sehen gab. Abgesehen von Stein natürlich. Ich war vielleicht zehn Minuten gelaufen, als ich mich zu fragen begann, ob es überhaupt Sinn hatte weiterzugehen. Was würde mich erwarten? Offensichtlich etwas, von dem kaum jemand Kenntnis hatte, da es so gut versteckt war. Ich für meinen Teil lebte nun immerhin seit 15 Jahren auf Usedom und hatte noch nie etwas von diesem Gang in der Düne gehört. Möglicherweise war es ja auch gefährlich, zu tief nach innen zu dringen? Nun, Angst sollte mich nicht abhalten. Falls wirklich etwas Spannendes geschehen sollte, könnte ich bestimmt eine gute Story daraus machen. Ja, vielleicht ließe sie sich sogar im Genre Fantasy verkaufen, das liebten schließlich Jugendliche heutzutage!

 

Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam, aber schmiedete Pläne für eine neue Geschichte! Genauso musste man wohl denken, wenn man als Autor brillieren wollte. Und das wollte ich!


Während ich so dachte, nahm ich kaum wahr, wie der Gang allmählich in die Breite wuchs. Doch auf einmal erblickte ich im wahrsten Sinne des Wortes das Licht am Ende des Tunnels. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich es gern sehen wollte? Wie dem auch war, jedenfalls beschleunigte ich sofort meine Schritte. Vielleicht würde ich nun endlich etwas Interessantes entdecken. Ich lachte innerlich. Während ich meine letzten Gedanken noch einmal Revue passieren ließ, fühlte ich mich wirklich, als sei ich bereits mittendrin in meinem Fantasyroman. Gewiss würde sich das Ganze als völlig harmlos und unspektakulär erweisen, versuchte ich mir einzureden. Plötzlich machte der Gang eine Biegung. Mit einem Mal war ich von Licht umhüllt. Überrascht blinzelte ich ein paar Mal, bevor ich zumindest einige schemenhafte Umrisse erkennen konnte. Aber kaum dass meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, begann ich erneut zu blinzeln, diesmal aus Ungläubigkeit. Vor mir tat sich eine Höhle mit schier gigantischen Ausmaßen auf. Nicht nur, dass sie unmöglich unter unsere Insel passen konnte – schon gar nicht mit ihrer schmalen Breite hier am Achterwasser –, nein, sie war auch unglaublich hoch, ich musste wahrhaftig die ganze Zeit bergab gegangen sein. Ich spürte, wie sich ein angenehmes Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete. Meine Arme waren über und über mit Gänsehaut bedeckt. Der Grund dafür war relativ simpel: Vom Höhlenboden bis zur Höhlendecke zogen sich über das gesamte Areal riesige Reihen von gefüllten Bücherregalen. Ich traute meinen Augen noch immer kaum, als ich langsam anfing zu begreifen. Es brauchte ein paar Minuten, bis ich es wagte, die Höhle richtig zu betreten. Vorsichtig schritt ich auf das nächstliegende Regal zu. Mit jeder Sekunde wuchs meine Neugier um mehrere Meter. Mein Atem ging stoßweise, als ich endlich vor den ersten Bücherreihen stand. Staub lag auf den Regalbrettern und den Buchrücken. Die Werke waren wohl nach Autoren sortiert, diese jedoch ohne erkennbares System angeordnet. Nun gut, vielleicht nach einer groben Zeiteinteilung. Wobei die Betonung auf „grob“ lag – meines Erachtens existierten genau zwei Kategorien. „Alt“ und „Neu“. Denn ich fand neben den „Leiden des jungen Werther“ von Goethe Dante Alighieris „Commedia“ – auf Italienisch, wohlgemerkt. Liebend gern hätte ich eins dieser Bücher in die Hand genommen, einfach nur darin geblättert, aber ich überwand dieses Verlangen. Zu groß erschien mir die Gefahr, dass ich eine Seite beschädigen könnte; schließlich befanden sich hier eindeutig keine druckfrischen Exemplare. Eine Weile starrte ich unschlüssig auf die Regale, bevor ich ein wenig Staub von einem Brett wischte und dann weiterging. Etwa alle 20 Meter setzte ich erneut eine solche Markierung, damit ich später den Weg zum Ausgang wiederfinden würde. Nach einiger Zeit gelangte ich zu neueren Titeln und Autoren. Zuerst entdeckte ich Gottfried Keller, kurz darauf Thomas Mann und Familie. Ihnen gegenüber fand sich Erich Kästner wieder. Wenig später tauchten auch moderne Schriftsteller auf – Ken Follett, Stephen King, Joanne K. Rowling und Henning Mankell …

Stets waren die Buchtitel in der Muttersprache des jeweiligen Autors geschrieben, so beispielsweise „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“. Ein paar Meter weiter stieß ich auf eine Leiter. Sie war hölzern und mit einer dicken Staubschicht überzogen. Dennoch wirkte sie stabil. Ich versuchte sie an eine andere Stelle zu rücken, scheiterte jedoch kläglich. Sie bewegte sich um keinen Zentimeter. Seufzend umklammerte ich eine Sprosse. Dann würde ich mich eben genau hier an den Aufstieg machen. Ich blickte nach oben. Der Drang hinaufzuklettern verstärkte sich. Zugleich aber gesellte sich eine gewisse Unsicherheit dazu: Was, wenn die Leiter umkippte? Sie stand fast senkrecht und aus irgendeinem Grund war ich fest davon überzeugt, dass sie nicht gesichert war und jederzeit fallen könnte. Was hatte es schon zu sagen, dass ich nicht fähig war sie zu verschieben? Nichts, oder? Bestimmt war das alles nur simple Physik. Und deshalb konnte es mich mal. Es gelang mir, die in meinem Kopf auftauchenden Bilder zahlreicher von Leitern stürzenden Menschen auszublenden, während ich mich Sprosse um Sprosse nach oben arbeitete. Je weiter ich mich vom Boden entfernte, desto besser wurde die Luft. Nun ja, möglicherweise bildete ich mir das auch nur ein, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich mich von Sekunde zu Sekunde wohler fühlte. Vollständig zufrieden war ich allerdings erst, als ich das oberste Regalbrett erreicht hatte. Hier schien sogar noch mehr Staub zu liegen, auch wenn das schwer vorstellbar war. Zwischen dem Deckbrett des Regals und der Höhlendecke lag ein Spielraum von vielleicht 35, maximal 40 Zentimetern. Dort hindurch konnte ich also zumindest auf den benachbarten Gang schauen. Von oben sah er ähnlich aus wie der, den ich gerade durchschritten hatte. Auf andere Regale hatte ich nur schlechte Sicht, was daran lag, dass die Höhe der Höhlendecke stark variierte, weswegen das Gestein die Holzbretter teilweise zu berühren schien. Trotzdem genoss ich es, auf dem Gipfel zu stehen.

Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie ich auf eine derart absurde Idee gekommen war, doch auf einmal erschien es mir unglaublich verlockend, in das oberste Regalfach zu kriechen. Vor der Bücherreihe waren zwei Handbreit Platz, das sollte mir genügen. Mit den Händen umklammerte ich das Deckbrett des Regals, während ich vorsichtig meinen linken Fuß in das Regal setzte. Kaum dass er festen Stand hatte, zog ich den rechten nach.

Ein wohliges Gefühl der Aufregung legte sich über meinen Bauch, kein Adrenalinkick oder dergleichen. Nicht, dass ich es so geplant hätte, doch wo ich nun einmal im Regal angekommen war, wollte ich darin ein Stück weiterklettern. Wozu brauchte ich denn bitte eine Leiter? Blödsinn war das. Ich würde ganz einfach über die Regalbretter den Abstieg versuchen.

Was ich nicht bedacht hatte: Schon nach wenigen Schritten verebbte der Nervenkitzel. Ich fühlte mich sicher, sämtliche Spannung war verflogen. Aus diesem Grund zog ich mein kleines Abenteuer auch nicht unnötig in die Länge, sondern machte mich umgehend auf den Weg nach unten.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stellte ich mit einem Blick an mir hinunter fest, dass ich über und über von Staub bedeckt war. Obwohl ich mich redlich bemühte, mich von diesem unangenehmen Ballast zu befreien, gelang es mir nur notdürftig. Achselzuckend beschloss ich, dass den Rest eben der Wind auf der Rückfahrt erledigen würde. Gewiss wäre er glücklich, mir diese kleine Gefälligkeit zu erweisen. Ohne mir darüber weiter den Kopf zu zerbrechen, machte ich mich auf die Suche nach einer meiner genialen Staubmarkierungen, denn mein Gefühl sagte mir, dass ich langsam aber sicher wieder aufbrechen sollte. Und das musste ich schon ohne die Hilfe des Windes schaffen. Ich lächelte still in mich hinein, während ich die erste Markierung entdeckte, der ich folgen konnte. Der Rückweg durch die Bücherregale dauerte nur unerheblich kürzer als der Hinweg, da ich wieder Titel um Titel aufsog. Eines jedenfalls konnte ich schon jetzt mit Gewissheit sagen: Diesen Ort besuchte ich nicht zum letzten Mal. Ich brannte darauf zu ergründen, was genau diese geheimnisvolle Höhle zu bedeuten hatte. Denn dass sie nicht nur zum Spaß existierte, dessen war ich mir sicher. Ein Gefühl von Leere stieg in mir empor, als ich den dunklen Gang, der mich zurück zum Strand führen sollte, betrat. Etwas in mir sträubte sich dagegen, diesen wundervollen Ort einfach zu verlassen. Doch was blieb mir anderes übrig? Ich unterdrückte den Impuls zu bleiben und tauchte wieder in die Dunkelheit.