Zama wartet

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Aus dem argentinischen Spanisch von Maria Bamberg. Mit einem Nachwort von J.M. Coetzee

Den Opfern des Wartens

Die argentinische Originalausgabe erschien erstmals 1956 unter dem Titel Zama bei Editorial Doble P in Argentinien, 1967 eine vom Autor überarbeitete Neuausgabe. Die deutsche Übersetzung wurde erstmals 1967 beim Erdmann Verlag in Lenningen veröffentlicht, eine von Maria Bamberg über-arbeitete Neuausgabe 2009 beim Manesse Verlag in Zürich.

Das Nachwort von J. M. Coetzee erschien 2017 in Late Essays. 2006–2017 bei Harvill Secker in London (Übersetzung aus dem Englischen: Linus Guggenberger).

E-Book-Ausgabe 2021

© 1999 Adriana Hidalgo editora/Luz Di Benedetto für die Übersetzung von Maria Bamberg: Manesse Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© für das Nachwort: 2017 J. M. Coetzee.

First published by NYRB, Volume LXIV, Number 1.

© 2006, 2008, 2009, 2010, 2011, 2012, 2013, 2016, 2017

J. M. Coetzee. First published in Great Britain by Harvill Secker, an imprint of Penguin Random House UK.

All rights reserved. Arranged by Peter Lampack Agency, Inc.

© 2021 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978-3-8031-4308-2

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3333 5

www.wagenbach.de

1790

1 Ich ging aus der Stadt hinaus, flussabwärts, zur einsamen Begegnung mit dem Schiff, auf das ich wartete, ohne zu wissen, wann es kommen würde.

Ich kam bis zur alten Mole, diesem unerklärlichen Bauwerk, denn Stadt und Hafen lagen immer dort, wo sie liegen, eine viertel Legua1 flussaufwärts. Gegen ihre Pfähle schwappt trübes Wasser, das der Fluss dort zurücklässt. Auf den kleinen Wellen und Strudeln schaukelte gleichmäßig ein toter Affe hin und her, noch heil und nicht zerfallen. Das Wasser vor dem Wald war immer eine Aufforderung zur Reise gewesen, die er nicht eher angetreten hatte, als bis er kein Affe mehr, sondern Affenleiche war. Das Wasser wollte ihn mitnehmen und nahm ihn mit, aber zwischen den Pfählen der halbvermoderten Brücke verfing er sich, und da war er, wollte fort und doch nicht – und da waren wir.

Da waren wir, wollten fort und doch nicht. Bei all ihrer Sanftheit hütete ich mich vor der Natur dieses Landes, denn sie ist kindlich und imstande, mich zu verzaubern, und in meiner halbwachen Mattigkeit setzte sie mir jähe, ahnungsvolle Gedanken in den Kopf, solche, die einen missmutig und zeitweilig ruhelos machen. Sie bewirkte, dass ich mir selbst in Äußerlichkeiten begegnete, in denen ich mich wiedererkennen mochte, wenn ich wollte.

Diese Betrachtungen behielt ich für mich und schloss sie aus der Unterhaltung mit dem Gouverneur und allen anderen aus; denn die Leichtigkeit, Freunde zu gewinnen, denen ich mich hätte anvertrauen können, geht mir fast gänzlich ab. Ich musste das Warten – und den Verdruss – im Selbstgespräch, in Mitteillosigkeit ertragen. So drückte es dieser manchmal vorlaute Ventura Prieto aus, der mir an jenem Nachmittag entgegenkam, sicher nicht, um mich zu suchen, sondern aus Zufall. Er meinte, ich lebte auf diesem platten Land wie in einem Brunnen. Er hatte es mir schon einmal, ja sogar mehrmals gesagt, er hatte es zu anderen gesagt, ungeachtet dessen, was alle wussten: dass ich vordem Kampfhahn oder zumindest Herr des Kampfplatzes gewesen war.

Er tauchte auf, als mich eben der Affe beschäftigte, und ich zeigte ihm den, um ihn abzulenken und zu verhindern, dass er mich fragte, worauf ich dort wartete. Und er, Ventura Prieto, der mir untergeordnet war, sann einen Moment nach, als ob er suchte, mit was für einer Entdeckung oder Merkwürdigkeit er mich beeindrucken könnte. Dann erzählte er mir von einer seiner »Untersuchungen«, wie er sie nannte, und ich weiß nicht, ob es welche waren; aber sie forderten so seltsam zu Vergleichen heraus, dass sie mich verwirrten und bis zur Unerträglichkeit in mir nachklangen.

Er sagte, es gebe in eben diesem Fluss einen Fisch, den das Wasser nicht liebe, und er, der Fisch, müsse sein Leben, sein ganzes Leben, in ständigem Hin und Her wie der Affe darin zubringen; aber qualvoller, denn er sei lebendig und müsse dauernd gegen das nasse Element ankämpfen, das ihn an Land schleudern wolle. Ventura Prieto sagte, dass diese zähen Fische, die so an dem Wasser hingen, das sie abstoße, die vielleicht gegen ihren Willen daran hingen, ihre Kräfte fast vollständig darauf verwenden müssten, sich ihr Bleiben darin zu erobern. Und obwohl sie immer in Gefahr seien, aus dem Strom geschleudert zu werden – man finde sie auch niemals in der Mitte, sondern nur an den Ufern –, würden sie sehr alt, älter als für Fische normal sei. Sie unterlägen erst, sagte er auch, wenn ihre Beharrlichkeit sie überfordere und sie sich keine Nahrung mehr verschaffen könnten.

Ich war dieser wenig glaubhaften Geschichte mit gemischter Neugier gefolgt. Mir war es unbehaglich, zugleich an den Fisch und an mich zu denken. Darum forderte ich Ventura Prieto auf, mit mir zurückzukehren, und behielt meine Meinung für mich.

Ich suchte meine Gedanken auf den Zweck meines Spaziergangs zu lenken, auf die Tatsache, dass ich ein Schiff erwartete, und wenn ein Schiff anlegte, könnte es eine Botschaft von Marta und den Kindern bringen, auch wenn sie selbst nicht kämen, noch jemals kommen würden.

2 Ich kann mich meiner selbst erbarmen und muss mich nicht kasteien, wenn ich nicht mehr fürchte, vor den anderen beschämt zu werden, sondern das Maß zu überschreiten, das ich mir freiwillig gesetzt habe. Wenn ich einräume, dass ich zur Sinnlichkeit neige, dann darf ich mir keinerlei erdachte oder gesuchte Reize erlauben. Wenn der Instinkt uns warnt und wir ihn nicht achten, gilt keine Nachsicht.

Die Sonne stieß mich vorwärts. Befreit von den Wolken so vieler Tage ohne Gewitter, war sie bis zur Weißglut erhitzt, und ihr farblos starrer Glanz floss zusammen mit dem des blanken Sandes, der Gesichte vorgaukelt. Mir war, als sähe ich einen Puma, unbeweglich, harmlos wie ein Ornament, ganz flächig und ohne Einzelheiten, so, als ob er weder Krallen noch Zähne hätte, keine Spannkraft zum Sprung in den Rundungen seines Leibes, sondern Gefügigkeit und sanfte Hingabe an eine streichelnde Hand. Bei diesem nicht gesehenen Puma fielen mir die Spiele ein, die entsetzlich waren – oder sein können –, nicht im Augenblick, da man sie spielt, sondern vorher oder nachher.

Ich strebte dem laubigen Schutz des Baches zu und musste unter den ersten Bäumen anhalten, denn ungezwungen und ahnungslos klangen Frauenstimmen herüber, erregt von dem Genuss des Bades.

Aber ich drang doch weiter hinein und sah, verborgen vom Laubwerk, einen Augenblick lang nackte Leiber, braun und braungolden, von vorn; dann von der Seite, mit abgewandtem Gesicht – ich unterschied nur einen Nacken und hochgebundenes Haar – noch einen, von dem ich nicht wusste, ob er weiß oder schwarzbraun war. Ich wollte nicht weiter hinsehen, denn er entzückte mich und mochte doch einer Mulattin gehören, und die durfte ich nicht einmal anschauen, um nicht von ihnen zu träumen, wankend zu werden und zu unterliegen.

Ich floh. Aber es war deutlich, dass sie mich bemerkt hatten, und als ich den Lärm hinter mir hörte, war ich nicht sicher, ob nicht Jubel darin mitschwang.

Meine Beine wurden wieder fest bei den langen Schritten, denn etwas warnte mich, dass ich verfolgt wurde. Ein Mann konnte es nicht sein, denn Männer bewachen nicht das Frauenbad; wohl aber eine Indianerin oder Mulattin, so schnell bewegte sie sich abseits des Pfades, wo Unkraut wuchert und Stämme den Weg versperren.

Fast holte sie mich ein, und dieser Eifer warnte mich, dass sie mein Gesicht zu sehen, mich zu erkennen suchte; ihre Herrin musste ihr das befohlen haben, also war sie eine Weiße. Ich ärgerte mich über meinen Rückzug, darüber, dass ich sie kaum gesehen, mir versagt hatte, zu erfahren, wer sie war. Ich musste umkehren und mich allem stellen, was es auch war: sie entdecken, mich entdecken.

Es ging nicht.

Ich konnte meine Angriffslust, die von meiner Enttäuschung genährt war, nur auf die Späherin entladen.

Mit einem plötzlichen Haken nach links sprang ich zwischen die Bäume, und so überrumpelt, fiel es ihr nicht ein, zu fliehen. Nackt, wie sie war, packte ich sie am Hals, erstickte ihren Schrei und ohrfeigte sie, bis der Schweiß an meinen Händen getrocknet war. Mit einem Stoß schleuderte ich sie zu Boden. Sie duckte sich und drehte mir den Rücken zu. Noch einen Fußtritt ins Hinterteil, und fort.

Mich begleitete meine verrauchende Wut, die einer unerbittlichen Einsicht wich: Standhaftigkeit! Meine Standhaftigkeit! Ha!

Meine Hand mag die Wange einer Frau treffen, aber der Geohrfeigte bin ich, denn ich habe meine Würde verletzt.

Auch wenn es nicht so wäre, auch wenn nur meine Dreistigkeit ungehörig wäre, wusste ich doch, dass ich im Unrecht war, meinen Jähzorn schießen zu lassen und im nächsten das zu unterdrücken, was ich selbst in ihm geweckt hatte.

3 Wieder war es die Stunde der Siesta, die mir das Lager wünschenswert und doch gefährlich erscheinen ließ, die ich wenigstens heute, so kurz nach dem Bad der Frauen, nicht wieder im Freien verbringen wollte.

 

Siestazeit war es, und der schreckliche Kerl kam über die leere Straße wie ein Meteorit von der Sonne auf mich zu, von unfehlbaren Mächten ausgerechnet auf mich unter allen Sterblichen abgeschossen.

Er packte mich am Gewand, und ich wollte ihn mit einem energischen »Mein Herr!« abwehren. Er hörte mich gar nicht und nannte mich atemlos »Anschleicher auf ehrbare Frauen« und »widerlicher, feiger Gaffer«. Verwirrte Entrüstung meinerseits, Begreifen, dass es sich um den Ehemann handelte, Erfahren, wer sie war, Versuch, mich loszumachen – während er mich anschrie: »Ich werde Sie fordern!« Dann schritt er davon und ließ mich stehen. Ließ mich stehen, wo ich ihm nachgehen und ihn hätte schütteln müssen, doch ich hielt an mich, betrog mich selbst mit der Aussicht auf Rache; denn, das hatte er gesagt, er würde mich fordern.

Aber er würde es nicht. Die Straße entlang lief nur eine läufige Hündin mit ihren vierbeinigen Freiern; kein Zeuge würde daher die Erfüllung seines Versprechens verlangen. Es war nur eine Aufwallung gewesen, die gewiss ausgereicht hatte, um seine Lust, mich anzuschnauzen, zu kühlen. Was mich betrifft, so konnte ich mir üblere Schwächen vorwerfen.

Doch ich schwor mir, es sollte meine letzte gewesen sein. Ich sagte mir, wenn ich mich damit abfand, diese zu verwinden, so nur, weil ich den Grund seines Ausbruchs verstand und meine Schuld daran anerkannte. Allerdings hätte er mich nicht beleidigen dürfen. »Widerlicher Gaffer«: Das sind Worte, die treffen und nicht vergessen werden können.

Wenn es so war, wenn das angedrohte Duell niemals stattfinden würde, musste ich daraus folgern, dass es sogar bei den scheinbar rohesten Menschen ein Maß für die Satisfaktion einer Kränkung gibt. Sollte ich glauben, dass der Mann, der seine Frau nur lau verteidigt, vielleicht eher durch heimliche Motive gehemmt wird als durch Angst um sich selbst: dass ein verborgener Hass, ein vager Ekel, eine erloschene Liebe, die niemandem, nicht einmal ihm selbst, offenkundig sind, ihn daran hindern, sich allzu viel um sie zu kümmern?

4 Der Gouverneur übergab mir einen unverständlichen Fall. Er bat mich nur um meinen Rat, und ich hielt mich an die Bitte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, ob er, der Gouverneur, Befugnis hätte, einen des Mordes Angeklagten aus dem Kerker holen und ihn in mein Amtszimmer bringen zu lassen, nur von einem Wächter begleitet, der mir »die Situation erklären« sollte, damit ich feststellte, »wo und wie ein Freispruch zu erreichen sei«. Ich musste ihn anhören, so tun, als wüsste ich nicht, wie er zu mir kam, noch mit welch dringlichen Empfehlungen und Absichten seines Gönners. Ich musste unter allen Umständen meine Sicherheit, meine Stellung halten, gerade um sie, die Stellung, loszuwerden.

Ich musste den Gefangenen anhören, was sich binnen weniger Minuten als unmöglich erwies, da es nicht möglich ist, jemanden anzuhören, der nicht spricht. Er war verschlossen – nicht verstockt, sondern abwesend – und schwieg über den Kern der Sache, nämlich den Hergang seines Verbrechens.

Der Wächter, der hinter dem Angeklagten stand, warnte mich taktvoll, dass wir einen Weinkrampf oder ähnlichen Gefühlsausbruch befürchten müssten.

Es handelte sich also nicht um einen gefährlichen, sondern um einen zerrütteten Menschen.

Um mir die Szene zu ersparen, die ich vielleicht durch meine unverblümten Fragen und den Verdruss, der mich allzu bald überkam, selbst verursacht hatte, ließ ich ihn allein mit dem Wächter, der ihn mehr zu beschützen als zu bewachen schien.

In der Pause ging ich, wohl um anderer Laune zu werden, in das Zimmer, in dem Ventura Prieto arbeitete. Ihm erzählte ich den Fall von Stummheit hinter meiner Tür.

Ich brauchte es nicht zu bereuen, denn Ventura Prieto bat mich mit einem durchaus nicht verächtlichen »So geht das nicht« um die Erlaubnis, mit dem Mann reden zu dürfen und mir zu helfen.

Mit Hilfe eines Lächelns, als ob er sein Freund sei – der er wohl hätte sein können, da er kaum wie ein Beamter aussah –, brachte es Ventura Prieto fertig, dass dieser verschlossene Geist sich für einen kurzen Augenblick öffnete.

Mit niedergeschlagenen Augen, ehrliche Betrübnis in der leisen Stimme, sagte der Bursche, der stattlich gewesen war und vor der Zeit verwelkt schien: »Ich war ein leidenschaftlicher Raucher. Eines Nachts bemerkte ich voll Entsetzen, dass mir ein Fledermausvogel gewachsen war …«

Er unterbrach sich.

Mit der spärlichen Angabe beunruhigte er uns so weit, dass wir wünschten, er möge nicht wieder verstummen. Er tat es nicht. Er hatte gemerkt, dass seine Worte nicht völlig seine Gedanken wiedergaben, und strengte sein Gedächtnis an, um den richtigen Zusammenhang zu finden. Sehr bald begann er seine Rede von neuem, geordneter: »Ich war ein leidenschaftlicher Raucher. Eines Nachts schlief ich mit der Zigarre im Mund ein. Ich erwachte mit der Angst vor dem Erwachen. Mir schien, als wüsste ich es: Mir war ein Fledermausflügel gewachsen. Voll Ekel suchte ich in der Dunkelheit mein großes Messer. Ich schnitt ihn mir ab. Als der Tag hell wurde, lag da ein braunes Weib, und ich sagte, dass ich sie liebte. Man brachte mich ins Gefängnis.«

Mehr sprach er nicht.

Wir schwiegen mit ihm.

Mit einem Blick wies ich den Wächter an, ihn zurückzubringen.

Auch Ventura Prieto sagte, dass ich einen Weg finden müsse, ihn zu retten.

Er bedauerte, den gemetzelten Leib der braunen Frau nicht gesehen zu haben. Er wollte wissen, wo jener zugestochen hatte.

5 Diese aufreibende Unterredung brachte jene Donnerschläge in meinem Herzen zum Schweigen, die von zwei lange nachhallenden Kanonenschüssen ausgelöst worden waren. Sie kündigten die Ankunft eines Schiffes an.

Der Postsack wurde ins Regierungsgebäude gebracht, bevor ich wie sonst an die Mole hinuntergehen konnte, um aus nächster Nähe mögliche Neuigkeiten zu erfahren und die Gesichter der Seeleute und der wenigen angekommenen Passagiere zu sehen.

Gewissenhaft verteilte der Amtmann auf seinem Tisch die Sendungen für jeden Einzelnen; keine für Don Diego de Zama, denn meine Hände sollten noch lange Zeit leer bleiben.

Dieses Fehlen jeder Nachricht von Marta, von meinen Kindern und von meiner Mutter bereitete mir eine Enttäuschung, die ich bei mehr als einer Ankunft eines Schiffes hatte erdulden müssen, die mich aber durch ihre Wiederholung im Laufe der vierzehn Monate meines Hierseins zusätzlich entmutigte.

Als ich mein Amtszimmer verließ, verzichtete ich auf das sonst stets willkommene Schauspiel: wieder ein großes Schiff im Hafen, von Reiselust umwittert.

Ich vergrub mich zu Hause.

Eine Sklavin bat ich um eine leichte Speise aus Hühnereiern. Da ich sonst auswärts aß, erregte meine ungewöhnliche Bitte die Aufmerksamkeit der Töchter meines Wirts, Don Domingo Gallegos Moyano, und veranlasste später eine von ihnen, bei mir zu erscheinen und mir einen Mate anzubieten, den ich annahm.

Die zweite Hälfte des Tages widmete ich einem ausführlichen Klagebrief an Marta, den das Schiff auf seiner Fahrt flussabwärts mitnehmen sollte.

Langsam spulte ich in Gedanken die Reise des Briefes ab: zu Wasser bis Buenos Aires, dann Hunderte von Leguas über Land nach Westen, und mich schmerzten die Vorwürfe, noch frisch auf dem Papier, die meine Frau, weit weg und allein, drei, vier Monate später lesen würde, vielleicht an einem Tag, an dem ich glücklich war. Aber ich änderte mein Schreiben nicht.

Gegen Abend wurde mir in meiner Einsamkeit ein Besucher angekündigt. Da ich nicht wusste, welches Schiff angelegt hatte, war mir ebenso wenig bekannt, dass der Kapitän ein Freund von mir war, der Offizier Indalecio Zabaleta, den ich mit kräftig-herzlicher Umarmung begrüßte.

Ich ahnte, dass er etwas mitbrachte, wenn er mich so bald aufsuchte und die Geschäfte, die ein Kapitän normalerweise am ersten Tag im Hafen zu erledigen hat, aufschob. Aber jemand anders zog meine Aufmerksamkeit auf sich, bevor ich eine Frage stellte.

Vor der Tür, auf der Galerie, stand – auf Befehl, wie mir schien – ein Knabe. Gewiss kam er mit Indalecio und mochte dessen Sohn sein. Aber nicht das fiel mir auf, sondern sein Gesicht, von hoher Erregung durchglüht, und die Augen, in denen schon die Tränen standen, die ohne weitere Aufforderung quollen, als der Kapitän sich zu ihm umdrehte. Er lief herbei, stürzte sich in meine Arme, und ein Schluchzen schüttelte ihn, das mir freudig und begeistert zu sein schien.

So war es. Bewegt und vielleicht stolz über die Aufwallung seines Sprösslings erklärte mir Indalecio: »Auf der Fahrt habe ich ihm gesagt, wer Doktor Don Diego de Zama war.«

Die rührende, unerwartete Huldigung eines zwölfjährigen Knaben für den Doktor Diego de Zama. Diese Anerkennung wog auf, was ich an kränkender Zurücksetzung so lange Tage bis zu diesem Abend hatte ertragen müssen.

Doktor Don Diego de Zama! Der Tatmensch, der Vollstrecker, der Friedensstifter unter den Indianern, der Gerechtigkeit geübt hatte, ohne das Schwert zu gebrauchen. Zama, der den Aufstand der Eingeborenen eingedämmt hatte, ohne spanisches Blut zu vergießen, der eine Auszeichnung des Königs und den Respekt der Besiegten gewonnen hatte. Das war nicht der Zama der Amtsstuben, wo es niemals Überraschungen und keine Gefahren gab. Zama der Landverweser2 verleugnete hochmütig Zama den Justitiar, und dieser bemühte sich, mehr als eine Verwandtschaft, ja, gewissermaßen die völlige Identität beider nachzuweisen. Dem früheren Landverweser Zama gegenüber brüstete er sich mit seinem Amt, das zweithöchste in der ganzen Provinz, direkt unter dem des Gouverneurs. Aber dabei wusste Zama der Justitiar, ohne es sich verheimlichen zu können, dass in diesem Land, mehr als in den anderen des Königreichs, ein Amt allein niemanden erhöht und niemand zum Helden wird, der nicht sein Leben aufs Spiel setzt – selbst wenn die Sache es nicht wert ist. Zama der Justitiar musste sich als gebunden erkennen, ohne Gelegenheit, sich hervorzutun.

An diesem Punkt des Streites angelangt, durfte Zama der Geringere argwöhnen, dass Zama der Mutvolle vielleicht doch nicht ganz so kriegerisch und furchtgebietend gewesen war: Ein gerechter Landverweser hat es leicht, den guten Willen von Sklaven zu gewinnen, die durch monatelange allzu harte, ja grausame Unterdrückung demoralisiert sind.

Dieser Landverweser war ich: ein Mann des Rechts, ein Richter, und solche Verdienste – waren sie auch nicht die eines Helden – durften nicht unterschlagen, ihnen Reinheit und Erhabenheit nicht abgesprochen werden. Ein Mann ohne Furcht, berufen und ermächtigt, zum mindesten mit den Verbrechen aufzuräumen. Ohne Furcht.

»Ich habe ihm erzählt, wer Zama war.« Ein Schimmer meines früheren Lebens, nicht genug, um mein gegenwärtig glanzloses Leben zu erhellen.

Zama war gewesen und konnte nicht ändern, was er gewesen war. Man mochte glauben, dass mich eine Vergangenheit bestimmte, die eine glänzendere Zukunft forderte. Dieses Kind – Indalecios Sohn – kam mit seiner bewundernden Ergriffenheit, sie von mir zu verlangen.

Ich aber sah meine Vergangenheit ungestalt, formlos und zugleich der Vervollkommnung fähig. Trotz vortrefflicher Züge verhehlte ich mir nicht, dass einiges – das meiste – darin schmierig, unangenehm und schwer fassbar war, wie die Eingeweide eines eben aufgebrochenen Tieres. Ich ärgerte mich nicht darüber, nahm es als einen Teil meiner selbst, einen unentbehrlichen sogar, auch wenn ich nicht an seinem Entstehen beteiligt war. Aber trotz allem hoffte ich, durch die Zukunft, in der Zukunft ich zu werden.

Mag sein, dass ich glaubte, schon ich zu sein und meinem Zukunftsbild entsprechend zu leben. Vielleicht gründete sich dieser Zama, der vorgab, dem kommenden Zama zu ähneln, auf den gewesenen Zama, ahmte ihn nach, als ob er fürchtete, etwas zu unterbrechen.

Überm Branntwein erfuhr ich, dass Indalecio in Buenos Aires bei meinem Schwager gewesen war, der sich beim Vizekönig um die mir zukommende und dringend nötige Versetzung bemühte.

Versprechen gab es, zwar für einen unbestimmten Zeitpunkt, aber die Anzeichen waren ermutigend.

Als Gegenleistung für die Nachricht, der ich – allerdings auf Grund einiger böser Erfahrungen nur halb – vertraute, beichtete ich dem Kapitän meine Nöte: Ich sehnte mich weniger nach einer Rangerhöhung als nach einem Posten in Buenos Aires oder Santiago de Chile, denn meine Laufbahn war festgefahren an einem Platz, der, so hatte man mir bei der Ernennung angedeutet, nur eine flüchtige Zwischenstation sein sollte. Und mehr noch: Von meiner Frau trennte mich die Hälfte der Länge zweier Länder und die ganze Breite des zweiten.

 

Doch das vollständige Geständnis behielt ich für mich, vielleicht weil das Kind dabei war: wie sehr die Trennung Qual bedeutete, da ich Marta streng die Treue hielt, obwohl ich vor meinem Gewissen nicht deutlich erklären konnte, warum ich ihr so treu war.

Wir aßen in der Herberge zu Abend.

Auf dem späten Heimweg durfte ich mich an der einsamen Herrschaft des Mondes begeistern und, vom Alkohol angestachelt, bereit fühlen, es ihm in jeder Gefahr gleichzutun. Die verlassenen Straßen, von großen Häusern und leeren dunklen Grundstücken gesäumt, das unebene Gelände, das sich zum Fluss hin senkte, waren günstig für jede Art von Überraschungen, aber mein Degen würde schon nicht mit der Antwort zögern.

Ich fühlte mich heute Nacht mutig und grenzenlos zur Liebe bereit.

Meine Überraschung bekam ich, als ob es so bestimmt wäre, und ein schönes, frisches Weib dazu.

Weil es schon so spät war, betrat ich das Haus durch die geheime Pforte, die noch hinter dem Hof der Dienerschaft in den Garten führte. Ich glaube, meine Anwesenheit, unvermutet an diesem Ort und zu so später Stunde, stiftete Verwirrung. Bevor ich ganz eingetreten war, hatte wohl jemand die Flucht ergriffen oder sich allzu gut versteckt.

Aber noch jemand konnte sich nicht genügend verbergen und suchte, zu spät, im Schutz der Gartenmauer zu entkommen. Ich sah, es war eine Frau, erkannte sie aber nicht. Mit zehn langen, wohlberechneten Schritten war ich an der Stelle, wo ich ihr den Weg abschneiden konnte; und da sie sich offenbar hoffnungslos abgefangen sah, blieb sie nicht stehen.

Sie ging direkt auf mich zu, und vielleicht prägten sich diese Momente des Wartens mir tiefer ein als ihr, denn kühn und zuversichtlich machte ich mir augenblicklich Hoffnungen.

Es war Rita, die jüngere Tochter Don Domingos, meines Wirtes. Ich erkannte sie, als uns noch vier Varas3 trennten, trotz der Mantilla, die kaum die Mondhelle auf ihrem Gesicht dämpfte. Mondfrau, sagte ich zu mir, um dem Augenblick Zauber zu verleihen; aber ein anderer Aufruhr gewann die Oberhand über meine Sinne.

Nach kaum zwei Schritten stolperte sie und fiel zu Boden; ich eilte, ihr zu helfen, obwohl sie sich schon halb aufrichtete und meine Hilfe sichtlich nicht mehr brauchte. Aber ich, unbeherrscht, die Gelegenheit nutzend, umfasste sie von hinten und hob sie vollends hoch, wobei meine gierigen Hände ihre Brüste pressten. Die waren schlaff, wie abgegriffen.

Ich ließ mir mein Schweigen über ihre nächtliche Eskapade abkaufen. Ohne jede Zurückhaltung ließ ich meine Absichten merken. Sie übersah sie. Gefasst, sanft, aber sich aus meiner Umarmung lösend, blickte sie mir entschlossen in die Augen, sagte ein paar leise Worte des Dankes, als wenn ich ihr einen großen Gefallen getan hätte, und ging würdevoll und vorsichtig ins Haus zurück.

Sie konnte mir weder Frechheit noch Missbrauch vorwerfen. Das verstand sie sofort. Ihrerseits gab sie mir zu verstehen, dass sie mich nicht fürchtete.

Ich blieb noch im Garten. Eine Weile schaute ich auf die Stelle, wo sie verschwunden war. Albern, steif und entrückt muss ich dagestanden haben.

Dann kam ich zu mir und warf mich auf einen Fleck duftenden Krautes. Eine Weile noch musste ich den Zauber des Erlebnisses dieser Nacht im Freien auskosten. Denn eine Möglichkeit hatte sich mir enthüllt, unter meinem eigenen Dach: Weiße und Spanierin; blutjung. Meine Hände wussten, dass sie nicht unberührt war.

6 Gesellschaft bei Don Godofredo Alijo, Minister des Königlichen Schatzamtes.

Seine Gemahlin hatte verkündet, dass es nach englischer Mode zugehen würde, und uns für fünf Uhr nachmittags geladen. Sie ließ dampfenden Kakao zusammen mit Gläschen süßen Likörs und Naschwerk reichen. Alle sagten, es sei »sehr englisch«; ich enthielt mich eines Urteils, denn an der pazifischen Küste hatte ich beobachtet, dass diejenigen Engländer, die Kakao als Nahrungsmittel zu trinken pflegten, Matrosen waren. Den Gästen, vor allem den Männern, hätte es nicht missfallen, dass es ein Seemannsgetränk war, denn die Sitten sind hier ziemlich einfach; aber keinesfalls hätte es einen guten Eindruck gemacht, wenn man erfahren hätte, dass Kakao für jene Leute ein Nahrungsmittel und keine Leckerei war. Schließlich bot die Hausfrau, zur Abwechslung und um der Gewohnheit nicht untreu zu werden, auch Mate an, und eigentlich schmeckte er allen besser als der Kakao.

Vor dem Abendessen stellte sich noch jemand ein, der sich den »englischen Empfang« geschenkt hatte. Kaum dass sie den Fuß über die Schwelle setzte, entdeckte ich sie, und von diesem Augenblick an wurde das Fest für mich ein reizvolles, erregendes Spiel.

Es war die Frau des Meteoriten, Luciana, Gattin Honorio Piñares’ de Luenga, eines Kollegen Godofredo Alijos. Piñares war wieder einmal abwesend, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nahm, denn seine Frau – und nicht er – erschien stets auf Gesellschaften, und der kleine offizielle Kreis hatte sich schließlich damit abgefunden.

Natürlich war Luciana mir nicht unbekannt, und wir hatten uns sogar schon ein paar Mal unterhalten. Seitdem ich durch die Forderung ihres Mannes wusste, dass sie die Badende im Bach gewesen war, gab ich mich ab und zu phantasievollen Betrachtungen über ihren Körper hin, der wohlgebildeter war, als ihre Kleidung ahnen ließ. Immerhin war mir klar, dass das etwas Verbotenes, Unmögliches war.

Wenn auch Piñares nicht gekommen war, so lähmte, hemmte ihre Gegenwart auf dem Fest meine Bewegungen, vor allem, weil sie nicht ein einziges Mal den Blick auf mich richtete, noch mir Gelegenheit zu einer persönlichen Begrüßung bot, die ich auch nicht anzubringen gewusst hätte.

Ich verfluchte mich, weil ich die Begegnung, die völlig logisch war, da Alijo und Piñares dem gleichen Amt angehörten, nicht vorausgesehen hatte. Aber an den Tagen seit der Einladung war meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Rita gerichtet gewesen.

Ich war so viel zu Hause geblieben, wie ich es früher nie getan hatte. Ich hatte auf ihren Schritt gelauert, ihre Gänge zur Messe überwacht, nur auf ein Zeichen der Neigung als Dank für mein Stillschweigen bedacht. Aber sie übersah mich stolz.

Ich bekam Fieber, es war, als ob mein Kopf fieberte, der an nichts denken konnte als an Rita und die Pläne, die ich für uns beide schmiedete.

Das Fest erschien mir als mögliche Atempause.

Drei Stunden des Beisammenseins, zwischen Kakao und Abendessen, mussten ganz von selbst eine Vertrautheit vermehren, die ohnehin dadurch begünstigt wurde, dass unser Kreis so klein war und wir über Monate und Jahre hinweg täglich Umgang pflegten.

Wir durften uns allerlei miteinander erlauben, obwohl ich wahrlich mehr durchgehen ließ, als ich mir aus angeborener Zurückhaltung anderen gegenüber gestattete.

Einer aus der Runde der Herren schlug vor, man solle nach dem Abendessen, wenn die Damen wieder zu Hause seien, ein Treffen mit freien Mulattinnen in einem gewissen Haus am Stadtrand veranstalten. Die meisten stimmten mit deutlicher Geilheit in den Mundwinkeln zu, und ein unternehmungslustiger Mann – begeisterter Organisator – fragte jeden einzelnen, ob er mitkommen würde, damit er die ungefähre Anzahl wüsste und alles durch einen raschen Besuch vorbereiten könnte.

Ich kämpfte heftig mit meiner Unentschlossenheit, dann kam die Reihe an mich, und ich entschuldigte mich.

Daraufhin fragte mich arglos einer der Herren, der wie viele andere meine Haltung kannte: »Darf es nur eine Weiße sein?«

»Und Spanierin!«, erwiderte ich hochmütig.

Die Entschiedenheit meiner Antwort schnitt jede mögliche Erörterung ab.

Der Organisator fuhr in seiner Zählung fort.