Loe raamatut: «Geschwistergeschichten», lehekülg 6

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19 Pelagius-Kirche Bischofszell, um 1900. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Kirche von der reformierten und der katholischen Kirchgemeinde paritätisch benutzt.

Der Vater bezahlte die Stunden nicht nur, sondern kontrollierte nach dem Unterricht die Leistungen, indem die Mädchen bei ihm Bericht erstatteten. Im Lebensbild, das die Kinder kurz nach dem Tod des Vaters zeichneten, wirkte er als milder, aber strenger Förderer. Das Interesse des Vaters an den schulischen Leistungen der Töchter mochte zusätzlich auch ein Interesse am Schulbetrieb im Allgemeinen gewesen sein: «Welche Aufmerksamkeit schenkte er immer unseren Schulerlebnissen, besonders seit wir in die Sekundarschule gingen, an welcher er Präsident war. Da interessierte er sich für die kleinste Tatsache.»53

Der Vater, Präsident der Schulkommission, konnte mit der Berichterstattung der Kinder nicht nur deren Betragen und Leistungen kontrollieren, sondern hatte zugleich guten Einblick in die Unterrichtstätigkeiten des Lehrpersonals. Den Pfarrerskindern kam dadurch wohl eine oft schwierige Rolle zu – sie standen zwischen dem Pfarrer und den Schulkameradinnen und Schulkameraden. Vorbild für die einen und Informanten für den anderen zu sein, muss auch anstrengend gewesen sein. Darüber wird aber nicht geschrieben.

Die Erziehung und Bildung der Pfarrerskinder war exemplarisch. Denn wenn der Pfarrer seine eigene Familie zum vorbildlichen christlichen Leben führen konnte, so vertraute ihm die Gemeinde und glaubte seinem Wort.54 Pfarrerskinder gelangten so, ob sie wollten oder nicht, auf den Präsentierteller. «Um sein eigenes Leben mit seiner Verkündigung in Einklang zu bringen, blieb dem Pfarrer kaum ein anderes Feld als das der Kindererziehung. Hier konnte man die innere Stimmigkeit seiner Lehre, die Fruchtbarkeit seines Glaubens messen.»55 Die besondere Nähe des Pfarrers als Vater mochte für die Kinder zum Teil bedrückend gewesen sein. Beschrieben wird aber – gerade in den Texten der Kinder kurz nach dem Tod – die besondere Nähe zu einem Vater, dessen geistliche Aufgabe ihnen Schutz bedeutete. Dies wird in der Geste des väterlichen Segens besonders deutlich: «Jedes Mal bevor wir wieder nach den Ferien zur Schule gingen nahm er jedes bei Seite u. segnete es u. sagte zu uns: ‹Der Liebe Gott segne dich u. gebe dir Kraft deine Arbeiten u. Pflichten zu erfüllen. Sei fleissig u. aufmerksam und mache uns (den Eltern) u. Lehrern viel Freude.› Er sprach dann gewöhnlich noch Aarons Segen über uns u. wir waren dann neu gestärkt u. fröhlich gingen wir wieder in die Schule.»56

Der zu diesem Zeitpunkt 13-jährige Karl beschrieb diesen Segen als eine Stärkung. Gertrud erwähnte dasselbe Ritual und ergänzte es durch die Information, der Vater habe ihr den Segen ins Ohr geflüstert. Die explizite Zuwendung, die jedes einzelne Kind erfuhr, muss die Jugendlichen beeindruckt haben. Der Vater, der als Pfarrer den direkten Zugang zu Gottes Segen hatte, konnte ihnen damit einen mächtigen Schutz mitgeben. Auch wenn er seine Kinder zu Hausbesuchen mitnahm, wird er als grosse, schützende Figur beschrieben. Dies kommt in den beinahe zu einer Legende verdichteten «Lebensbild eines lieben Entschlafenen» von Ernst Schnyder zum Ausdruck: «Abends stand oft schon der Mond überm Walde und beleuchtete den Heimweg, da tönte es denn auf der einsamen Strasse aus frischen Kinderkehlen von Vaters tieferer Stimme begleitet: Der Mond ist aufgegangen etc. Die Kleinsten durften Ihre Hände in Vaters grosse Taschen stecken und er führte sie durch Nacht und Nebel heim, wo Mutter ihrer schon wartete um die kleine müde Garde möglichst bald unter die warme Decke zu versorgen.»57

Zu Kranken- und Hausbesuchen in der weit verzweigten Gemeinde nahm Johannes Schnyder immer wieder seine Kinder mit. Wieweit dies auch zur Entlastung der Gattin geschah, die wohl mit den Kleinsten zu Hause blieb, geht aus den Quellen nicht hervor. Glaubt man dem Zitat, so war der Pfarrer auch mit den jüngeren Kindern unterwegs, die dann ihre Hand in seine Tasche stecken durften. Dies wird auch von Rosa betont, wenn sie schreibt, er habe oft seine ganze Kinderschar nach Hauptwil, Gottshaus und auf den Tannenberg zu Hausbesuchen mitgenommen. Rührend mutet die Stimmung an, die Ernst in seiner Beschreibung heraufbeschwört, wie der grosse Vater seine Schar «durch Nacht und Nebel» heimbringt. Während der Vater als grosser Beschützer in den Erinnerungsbildern auftaucht, sind die Kinder gleichzeitig seine Helfer. Auf den Touren zu Haus- und Krankenbesuchen gab es immer wieder Gaben der Besuchten, die der Pfarrer, seiner Zuckerkrankheit wegen, nicht annehmen konnte: «Immer gab es Leute, welche die allezeit hungrigen Schnäbel mit Freuden fütterten. Ihm selbst war es oft unangenehm, wenn er das freundliche Anerbieten der Leute abschlagen musste seines Leidens wegen. Desto lieber sah er uns dann zu, wenn es allen so gut schmeckte.»58 Die Kinder übernahmen so die Aufgabe des Pfarrers, sich bewirten zu lassen.

Die Beteiligung der Kinder an den Aufgaben des Vaters war immer auch Erziehung. Verstärkt wurde dies durch die unscharfe Trennung zwischen pfarrherrlicher Arbeit und dem Familienleben im Pfarrhaus. Der Pfarrer studierte zu Hause, er schrieb seine Predigt zu Hause, die seelsorgerischen Fälle kamen zu Hause vorbei. Dies bewirkte, dass die Kinder – wie die Pfarrfrau ohnehin – Aufgaben für den Vater oder für die Mutter zu übernehmen hatten. So liess Johannes Schnyder seine Töchter Klavierstunden nehmen, da sie baldmöglichst die Mutter, die oft im Wochenbett war, am Harmonium bei der Morgenandacht ersetzen mussten. Auch nahm er Lilly, Rosa und Sophie als Organistinnen zu verschiedenen Anlässen mit. In der Sonntagsschule wirkten die Töchter massgebend mit. Die kleineren Kinder hatten Botengänge für den Vater zu machen und beteiligten sich beim Sammeln der Kollekte. Die grosse Kinderschar war für den Pfarrer eine Stütze in der Gemeinde.

Das Arbeitspensum, das sich der Pfarrer auferlegte, war, nach den Worten seines Sohnes, der die Bestattungspredigt hielt, mit der Losung zusammenzufassen: «Ich muss wirken die Werke dess, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.»59 Zu diesem Werk gehörte es, die Kinder auf den rechten Weg zu führen, sowohl die eigenen wie auch die Gemeindemitglieder, die als Gotteskinder verstanden wurden. Die Worte, die an Johannes Schnyders Beerdigung von ‹einem Freund› gesprochen wurden, zeigen die Nähe der Rollen des Vaters und des Pfarrers noch einmal:

«Vater und Pfarrer, das geht in einem:

Ihr Kinder, weint an des geliebten Vaters Grab.

Ihr Ehepaare, dankbar denket noch an ihn,

Ihr Herzen all’ verdankt was er im Herrn Euch gab,

Da tröstend er Euch wies zum Heiland hin.

Doch ob Ihr weint um diesen Vater der Gemeinde,

Der alle liebte, Freunde, wie die Feinde,

So gönnt ihm doch das Glück beim Herrn daheim

Ja er ging heim!»60

INNERE UND ÄUSSERE MISSION – PIETISMUS IM PFARRHAUS DES 19. JAHRHUNDERTS

Was Pfarrer Schnyders Schaffen in allen Bereichen prägte, war seine grosse Begeisterung für die Werke der inneren und äusseren Mission. Diese missionstheologische Überzeugung soll im Folgenden in Verbindung mit dem Begriff des Pietismus betrachtet werden, der die geistige und religiöse Haltung der Pfarrfamilie Schnyder zusätzlich charakterisierte.

Der Pietismus war eine religiöse Erneuerungsbewegung des Protestantismus des späten 17. und 18. Jahrhunderts und gilt neben dem englischen Puritanismus als die bedeutendste religiöse Bewegung seit der Reformation.61 Der Beginn des Pietismus wird auf das Erscheinen von Philip Jakob Speners «Pia Desidera» 1675 datiert.62 Er war eine Reaktion auf die als totes Gewohnheitschristentum angesehene altprotestantische Orthodoxie. Die Begründer des Pietismus setzten dagegen auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens und entwickelten neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens.63 Den Pietisten ging es um einen lebendigen, «gelebten» Glauben, es genügte nicht, die Kirche zu besuchen und eine Predigt anzuhören. «Wichtig war die persönliche Heiligung, zur Vollkommenheit zu gelangen. Diese neue Wendung ins Persönliche wird auch als ‹religiöser Individualismus› bezeichnet.»64 Nebst Spener gilt der im 18. Jahrhundert in Halle tätige August Hermann Francke als Vater des Pietismus. Dieser gründete so genannte Reformanstalten, die nach damals fortschrittlichsten pädagogischen Erkenntnissen geführt wurden. Innerhalb des Pietismus erhielten Frauen eine relativ starke Position, ihre Ausbildung wurde als unabdingbar angesehen. So waren von rund 2000 Schülern an Franckes Schule fast die Hälfte Mädchen.65 Die Kinder Gottes sollten alle ihre persönliche Beziehung zu Gott aufbauen können. «Die Schüler seiner Einrichtungen waren Träger pietistischer Ideale. Indem sie in ihren jeweiligen Ämtern diese Ideale nach aussen trugen, bildeten sie ein Netzwerk pietistischer Stützpunkte innerhalb und ausserhalb Europas. Francke war treibende Kraft für viele christliche Werke, so die ‹Innere Mission› als Kranken- und Armenfürsorge und die ‹Äussere Mission› in Südindien.»66 Diese Aufteilung setzte sich im Sprachgebrauch pietistischer Kreise durch, sodass auch Johannes Schnyder sich selbst als Verfechter der inneren und äusseren Mission bezeichnete.

Wenn ich von Johannes Schnyder als Pietisten spreche, so bedeutet dies nicht, dass er sich selbst als solchen bezeichnete. Dies spiegelt die Schwierigkeiten bei der Verwendung des Begriffes im Allgemeinen wieder. Als eine Art Sammelbegriff der geistigen Haltung protestantischer Erneuerungsbewegungen wird er relativ unscharf verwendet.67 So betonte Johannes Schnyder in seiner Schrift, dass die Mission nicht von «engen Pietisten» vertreten würde, sondern von frei- und weitdenkenden Menschen.68 Die Basler Mission, für welche sich Johannes Schnyder besonders einsetzte, war eine der deutschsprachigen Missionsgesellschaften, die durch den so genannten württembergischen Pietismus stark geprägt war. Das Selbstverständnis dieser einflussreichen Missionsgesellschaft war bis ins 20. Jahrhundert von diesem Geist geprägt.69 Wenn sich Johannes Schnyder für die Werke der inneren und äusseren Mission einsetzte, sich aber gegen die Etikettierung «pietistisch» abgrenzte, spiegelt dies diskursive Feinheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert wider.70 Eine exakte Positionierung war gerade innerhalb der religiösen Richtungen wichtig. So zählte sich Johannes Schnyder zu den «Positiven», womit er seinem Handeln ein politisches Profil gab. In den Augen der Positiven war Francke der «positive Praktiker», während Rousseau der «negative Theoretiker» war. Wenn ich in dieser Arbeit vom Pietismus der Familie Schnyder spreche, so meine ich damit ihre durch diese religiöse Erneuerungsbewegung spezifische soziale und kulturelle Prägung und die damit zusammenhängende alltagsstrukturierende Denkweise und Weltsicht.

Johannes Schnyders Überzeugung war es, die Mission sei «das grossartigste Werk der Gegenwart»,71 und er setzte sich dementsprechend dafür ein. So muss man sich vorstellen, dass der «Basler Evangelische Heidenbote» und das «Evangelische Missions-Magazin» sowie der «Christliche Volksfreund» von den Eltern gelesen und besprochen wurden; auch die heranwachsenden Kinder lasen die Blätter und setzten sich mit den Themen auseinander. Wie bereits oben erwähnt, unterhielt Johannes Schnyder gute Beziehungen zur Basler Mission, der wohl einflussreichsten protestantischen Vertreterin der «äusseren Mission» in der Schweiz und in Süddeutschland. Zudem lag ihm das seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz aufkommende Diakonissenwesen, das im Dienste der «inneren Mission» stand, am Herzen. Seine erste Frau, Sophie Peyer, wäre Diakonisse geworden, hätte sie nicht den jungen Vikar kennengelernt, ihre Schwester war Diakonisse in St-Loup, deren Vater, Pfarrer Peyer, war ein engagierter Mann im Diakonissenwesen. Auch eine Schwester von Caroline, der zweiten Frau Johannes’, wurde Diakonisse.

Wie stark diese Netzwerke weiterwirkten, zeigen die Lebensläufe der Nachkommen von Johannes Schnyder. So wählten zwei seiner Töchter den Beruf der Diakonisse, wobei eine entgegen ihrem Wunsch ihre Schwesterntracht wieder ablegen musste. Ernst, der älteste Sohn, wurde nicht nur Pfarrer, sondern auch Präsident des Missionsvereins Thurgau sowie Präsident der so genannten Heimatgemeindevertretung der Basler Mission, der eigentlichen Synode des ganzen Missionswerks im In- und Ausland. Ernsts Frau Luise war die Tochter des Hausgeistlichen und Vorstehers des Diakonissenhauses Neumünster in Zürich. Sophie arbeitete als Sekretärin bei der Basler Mission, die übrigen Geschwister waren an Bazaren tätig, sammelten und spendeten selbstredend sowohl für die innere wie für die äussere Mission. Zwei von Johannes Schnyders Enkeln fuhren mit der Basler Mission für Jahre nach Übersee.

Ein Überblick über die veröffentlichten Schriften von Johannes Schnyder spiegelt seine Überzeugungen: ein Lebensbild des Zürcher Antistes Breitinger,72 eine volkstümliche Biografie des Johann Hinrich Wichern, des Vaters der inneren Mission,73 eine Abhandlung über Recht, Pflicht und Erfolg der Mission74 und eine abgedruckte Rede zum Buss- und Bettag im Jahresbericht des Thurgauer Missionsvereins.75

Was den Pfarrer am Missionsgedanken faszinierte, kann anhand seiner 1882 veröffentlichten Schrift «Der Evangelischen Heidenmission Recht, Pflicht und Erfolg» erläutert werden: Schnyder teilte mit dem Sprachforscher Max Müller die Religionen in missionierende und nicht missionierende ein. Die nicht missionierenden Religionen, so Schnyder weiter, erstarrten zu Mumien, während die missionierenden Religionen lebendig seien. Müllers wie Schnyders Überzeugung war es, dass das Christentum im höchsten Mass missionierend sein müsse, da es die Offenbarungsreligion des lebendigen Gottes sei.76 Der Auftrag, die Botschaft Gottes an alle weiterzugeben, wurde dementsprechend nicht nur als ein Werk der Barmherzigkeit gegenüber der Heidenwelt angesehen,77 sondern auch als «eine Pflicht der Selbsterhaltung für die alte Christenheit».78 Die Mission – so die Erklärung – erneuere den eigenen Glauben, indem sie ihn ausbreite und verkünde. Dass es bei dieser Ausbreitung nicht nur um Glauben ging, sondern auch um territoriale Ansprüche der expandierenden Wirtschaftsmächte Europas, wird aus dem durchaus pragmatischen Fortschrittsdenken des Missionsfreundes schnell deutlich: Die Mission helfe nämlich dem rasenden Fortschritt, neue Gebiete erschlössen sich dem Weltverkehr und dem Handel, denn die Mission erziehe die Heiden zur Arbeit und zum Pflichtgefühl.79 Diese Argumentation macht sichtbar, dass 1882 der wirtschaftliche Faktor der Mission durchaus in Betracht gezogen wurde und als Argument gegen das den «engen Pietisten» anhaftende altertümelnde Bild verwendet wurde.

Die Erfolge der Mission dienten nach der Ansicht ihrer Förderer nicht nur und vor allem der Expansion der Kolonialmächte, sondern führten vor allem zu einer Erneuerung und Erfrischung des eigenen Glaubens: «Wie es Freiheit wirkt statt der Sklaverei, friedliches Beisammenwohnen statt des endlosen Kriegens und Mordens; Freude und Hoffnung statt der trotzigen Furcht und Angst, die sonst ihr Leben beherrschte; wie Gerechtigkeit waltet, wo sonst der Stärkere rücksichtslos seiner Laune folgte – da muss auch über die alte Christenheit ein neuer Geist freudiger Zuversicht kommen in die sieghafte Kraft des jungen Evangeliums; ja manche heidnische Gemeinde wird uns ein Spiegel zu heilsamer Beschämung.»80

Die Verknüpfung von innerer und äusserer Mission wird hier sichtbar. So argumentierte der Missionsfreund, dass die äussere Mission den Blick für das Elend in den eigenen Ländern schärfe. Schnyder erinnerte daran, dass die in Afrika oder Indien tätigen Missionswerke eng verbunden seien mit den Werken der inneren Mission im eigenen Land. In Basel seien die gleichen Männer, die sich für die äussere Mission in aller Welt einsetzten, auch die, welche Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder gründen oder einsame Fabrikarbeiterinnen schützen und Handwerksburschen- und Mädchenherbergen errichten würden: «Württemberg, das dicht durchzogen ist von einem Netz von Anstalten der rettenden und bewahrenden Liebe für die Unglücklichen, für Kinder, die sonst ordentlicher Erziehung ermangeln müssten – für Blinde, Taubstumme, Epileptische, hilflose Alte, von Diakonissenhäusern zu Gunsten der Kranken – es ist zugleich das Land der Mission.»81

Sein Engagement für die Werke der Mission war dem Pfarrer auch als Familienvater ein wichtiges Anliegen. Ernst schreibt in seinem Lebensbild des Vaters, dass dieser, angesprochen auf seine acht Töchter, schlagfertig zu antworten wusste: « ‹Für jedes Diakonissenhaus eine Schwester› pflegte er seinen Freunden lächelnd zu sagen, auf seinen Segen hindeutend.»82

Tatsächlich handelte der Vater bei seinem zehnten Kind Gertrud in diesem Sinn, wenn er verkündete, es sei eine kleine Diakonisse geboren worden. Dass dieser Wunsch des Vaters nicht einfach so weggesteckt werden konnte, wird aus den Aufzeichnungen der durch diesen Spruch geprägten Tochter klar: Bei ihrem Eintritt in das Diakonissenhaus Riehen und bei jedem Jubiläumsbericht stellte sie des Vaters Bestimmung als unausweichlichen Weg dar: «Es begann mit meinem ersten Lebenstag, als mein lieber Vater, Pfarrer in Zofingen, sein 10. Kind im Besonderen seinem Herrn weihte, indem er allen Verwandten u. Freunden per Karte mitteilte, dass eben eine kleine, muntere Diakonissin zur Welt gekommen sei. So legte er seinen brennenden Wunsch durch die Hingabe der kleinen Gertrud Klara an die Diakonie seinem Kinde in die Wiege. Mein Vater war ein eifriger Förderer der äussern und innern Mission u. hätte gerne alle seine Kinder im Dienste am Reiche Gottes gewusst. Als er dann mit 56 Jahren in Bischofszell rasch heimgerufen wurde, war es mir ein heiliges Vermächtnis dem Wunsch meines Vaters zu folgen. Ich war ja erst ein Kind von 11 Jahren, aber der Gedanke an sein Vermächtnis begleitete mich beständig.»83

Der brennende Wunsch des Vaters und die über den Tod hinaus wirkende Autorität seines schicksalsbestimmenden Spruches zeigt, wie ernst ihm die Sache mit der Mission war. Die Töchter, so könnte man meinen, waren alle Bräute Gottes, die sich in der Verbreitung des lebendigen Glaubens, wie er von den Pietisten verstanden wurde, für eine bessere Welt einsetzten. Dass christlicher Glaube weitergepflanzt werden sollte, war für die Kinder tägliches Brot. Ihre zukünftigen Lebensaufgaben als Erzieherinnen, als Pfarrer, Arzt oder Diakonisse wurden nicht zuletzt in diesem Sinn verstanden.

RELIGION, ERZIEHUNG, BILDUNG UND DIE POSITION DER ERSTEN MUTTER

DIE PFARRERSTOCHTER WIRD PFARRFRAU

Sophie Peyer kam 1844 als erstes Kind eines jungen Pfarrers und dessen Frau in einer der vielen Pfarrwohnungen Schaffhausens zur Welt, die für Pfarrer benachbarter Gemeinden zur Verfügung standen. Ihr Vater, Eduard Peyer, Junker Peyer genannt, stammte von einer alten Schaffhauser Familie, ihre Mutter, Margaretha Oser, kam aus dem Basler Grossbürgertum.

Pfarrer Peyer wurde nach Beringen berufen, wo er mit seiner Frau das Pfarrhaus bezog, dort wuchs Sophie auf und ging zur Schule. Später besuchte sie die Höhere Töchterschule gegenüber dem Obertor in Schaffhausen und musste täglich über die Enge hin- und zurückwandern. Das Mittagessen bekam sie bei ihrem Onkel, dem Steigpfarrer Burckhardt-Peyer, der im «Katzenloch», dem Haus neben der Münsterkapelle, wohnte.84

Eine gute Bildung für Töchter wurde im 19. Jahrhundert für den oberen Mittelstand immer wichtiger. Nicht nur ging es darum, den Töchtern eine Berufsausbildung zu ermöglichen, sondern vor allem auch, sie in ihrer Allgemeinbildung auf ein passendes Niveau für einen allfälligen Gatten zu heben. So galten denn Höhere Töchterschulen als eine «Bildungsstätte der höheren Töchter auf ihrem Weg zur kulturbeflissenen Gattin».85 Gerade für Pfarrerstöchter, die keine grosse Aussteuer in Aussicht hatten, erhöhte eine gute Ausbildung die Heiratschancen und bildete zugleich eine Absicherung, wenn sich kein Bräutigam finden liess. Eine interessante Partie für eine Pfarrerstochter mag ein dem Pfarrer nahestehender Vikar gewesen sein. Der Schwiegersohn trug dann sozusagen das geistige Gut des Pfarrherrn weiter.

Nach der abgeschlossenen Töchterschule arbeitete Sophie im Berner Diakonissenhaus, dem Dändliker-Spital, als Hilfsschwester. Gemäss dem Bericht ihres Sohnes Ernst ging die 26-Jährige kurz vor einem geplanten Eintritt als Probeschwester in eben diesem Spital der Mutter im Pfarrhaushalt zur Hand. Ob diese letzte Zeit vor dem Eintritt von den Eltern, von der Tochter oder von beiden Seiten gezielt genutzt wurde, einen Mann für Sophie zu finden, wird aus den Quellen nicht sichtbar. Sicher ist, dass das Auftauchen des jungen Vikars Schnyder im Winter 1870/71 im Pfarrhaus in Beringen die Pläne der Tochter veränderte.

Vikare verbrachten ihre Lehrzeit im Pfarrhaus und prägten das Familienleben mit.86 Schnyder kam in ein Pfarrhaus mit teilweise erwachsenen Töchtern, die er wohl bei Tisch näher kennenlernen durfte. «Noch stehen vor meiner Seele photographisch treu jene Tage im Pfarrhause Beringen, im Winter 1870/71, da sich unsere Herzen kaum bewusst allmählig gegen einander aufschlossen.»87

Sophie gefiel dem jungen 25-jährigen Johannes in ihrer «reinen Jungfräulichkeit», wie der Sohn der beiden später schrieb, und da er das Vertrauen der Pfarrersleute gewonnen hatte, gaben sie ihm das Jawort für die Heirat ihrer Tochter:88 «Alles freute sich mit dem glücklichen Brautpaare; nur Diakonissenvater Dändliker in Bern grollte dem jungen Vikar, der ihm eine künftige Schwester so kurz vor dem Eintritt schnöde weggeschnappt.»89

Der gerade noch zur rechten Zeit gekommene Mann lässt ahnen, dass in der Interpretation des Autors dieser Zeilen die Ehe besser war als das Los, Diakonisse zu sein.90 Obwohl Ernst das Diakonissenwesen sehr unterstützte, sah er das wahre Glück einer Frau, die ihm nahestand, im Hafen der Ehe und nicht in einer Schwesternkongregation. Dies entspricht der bürgerlichen Vorstellung, in welcher die Heirat den Höhepunkt des Lebens einer Frau darstellte. Dabei war es, gerade im protestantischen Pfarrmilieu, die Liebesheirat, die propagiert und im Falle der Hochzeit von Johannes und Sophie in den Familienerinnerungen wiedergegeben wurde. «Die Vorstellung einer liebes-bezogenen Ehe und das Idealbild der auf die Schaffung einer häuslichen Intimsphäre verpflichteten Ehefrau und Mutter waren im protestantischen Pfarrmilieu allgemein verbreitet.»91

Sophie heiratete 1872, mit 28 Jahren, den um ein Jahr jüngeren Pfarrer und zog in das Pfarrhaus in Fehraltorf im Zürcher Oberland ein. Sophie zog von einem Pfarrhaus in das nächste und war bestens auf ihre Aufgabe vorbereitet. Auch brachte sie von ihrer Arbeit im Berner Diakonissenhaus einige praktische Erfahrungen mit. Eine perfekte Partie für einen jungen Pfarrer. So schrieb Johannes Schnyder in seinen Erinnerungen, die er während einer starken Gesichtsrose, deren Ausgang tödlich hätte sein können, niederschrieb: «Wie waltete sie still, fröhlich und allezeit geschäftig in ihrem neuen Wirkungskreise, liess mich lange Vereinsamten den vollen Segen einer trauten Häuslichkeit erfahren und war bemüht, auch Kranken und Gesunden in der Gemeinde wirklich etwas zu sein in freundlicher Teilnahme, herzlichem Helfen und Trösten, in mildem Zurechtleiten.»92

Johannes Schnyder wollte mit seiner Niederschrift seinen Kindern ein beeindruckendes Bild der früh verstorbenen Mutter zeichnen. Als er sich von seiner Krankheit erholt hatte, versammelte er seine Kinder um sich und las ihnen den Text vor. Das Bild, das sich bei den Kindern von ihrer Mutter festgesetzt hatte, war stark durch diese Schrift geprägt, die regelmässig am Todestag der Mutter verlesen und später an alle Kinder aus erster Ehe verschickt wurde.93 Das Bild Sophie Schnyders mag daher etwas verklärt sein. Sicher ist aber, dass der Pfarrer sich glücklich schätzte, dass sie wusste, wie sie ihren Mann «den vollen Segen trauter Häuslichkeit» erfahren lassen konnte. Die neue Pfarrfrau kannte ihre Aufgaben und wusste, welche Pflichten sie zu erfüllen hatte: Sie war die unermüdliche Helferin in der Gemeinde und im Pfarrhaus, an der Seite ihres Mannes. Wie dies Joris und Witzig zeigten, kann die Pfarrfrau als Mittelpunkt des Pfarrhauses gesehen werden: «In einem Pfarrhaus ohne Pfarrfrau fehlt nichts als die Hauptsache, und will es einen oft fast bedünken, es sehe so ein armes Haus aus wie ein Gesicht ohne Augen.»94

Die Allround-Aufgabe als Organisatorin, Pflegerin, Mutter, Haushaltsvorsteherin und Gehilfin im Schatten des Mannes wurde selbstverständlich vorausgesetzt und erwartet.95 Gleichzeitig schien es aber klar, dass, wer die Aufgabe bewältigte, eine ausserordentliche Leistung erbrachte. Das Lob Johannes Schnyders war insofern eine echte Bewunderung, wie die junge Frau ihre vielen Aufgaben «still und fröhlich» zu erledigen verstand.

«Im Pfarrhaushalt war Innen- und Aussenwelt nicht scharf getrennt; das Pfarrhaus war Wohn- und Amtshaus zugleich, öffentliche und private Sphäre flossen ineinander. Es behielt viele der Merkmale eines ‹Ganzen Hauses›, da alle Mitwohnenden in die dem Pfarrer zugeordneten Funktionen einbezogen waren. Vikare lebten in der Regel im Pfarrhaus und es gehörte zum Pflichtenbereich der Pfarrfrau, ihren Mann in seinen Aufgaben zu unterstützen.»96 Die für die bürgerliche Gesellschaft vorbildliche christliche Pfarrersfamilie lebte im Grunde genommen ein aussterbendes Modell: Der Mann und die Frau arbeiteten in einer Gemeinschaft unter einem Dach. Seine Stellung verlangte zugleich ihre Mitarbeit, ein dem bürgerlichen Ehemodell fremdes Muster. «Trotz der Unterschiede zwischen dem älteren Typus der bürgerlichen Familie, wie ihn der Pfarrhaushalt repräsentierte, und dem neueren Typus der Familie des sich konstituierenden ländlichen Bürgertums gab es schichtbedingte Ähnlichkeiten und gesellschaftliche Beziehungen zwischen diesen Familien. Wir finden Gemeinsamkeiten im Bezug auf die Ausbildung der Töchter, die akademische Berufsperspektive der Söhne, die Formen der Eheeinleitung, die Betreuung von Schwangerschaft und Geburt durch Ärzte statt Hebammen, die Tätigkeit der Frauen in der Öffentlichkeit, die Verantwortung der wirtschaftlich bedeutenden Männer und des Pfarrers in den lokalen Behörden.»97

Die Rolle, die die Pfarrersfrau und deren Töchter im Pfarrhaus spielten, war nicht ganz einfach. Denn sie mussten einem Ideal entsprechen, das den privaten Raum zum weiblichen Raum bestimmte, gleichzeitig waren sie aber immer auch öffentlich tätig. Als Vorbilder für eine bürgerliche Lebensführung waren sie im gläsernen Haus in ihrem privaten Leben ausgestellt. Sie lebten öffentlich und waren öffentliche Personen im eigentlich heiligen, privaten, häuslichen Umfeld. Ihre Aufgabe war es, den weiblichen Auftritt perfekt zu inszenieren.

So wird denn aus der oben zitierten Charakteristik von Sophie ihr Handeln mit lauter weiblichen Tugenden verbunden: sie war ernst und fröhlich, mild, herzlich und freundlich. Das Bild, das Johannes Schnyder von Sophie malte, entsprach ganz den Vorstellungen von Weiblichkeit, insbesondere derjenigen der Pfarrfrau. «Die Verknüpfung von Wohltätigkeit, Caritas im christlichen Sinn, Mütterlichkeit und Pflichten im Haushalt führen letztlich zu einem Konzept, das im Falle der Pfarrfrau mit ihren Pflichten in der Gemeinde besonderen Belastungen ausgesetzt ist.»98 Die mit diesen sanften Mitteln Wirkende hatte, fast dauernd schwanger, nebst ihren Kindern auch die ihm Haus weilenden Besuche zu versorgen, und nebst der Pflege von Kranken in der Gemeinde musste sie die Mägde anweisen. Eine oft schwierige Aufgabe, die von ihrem Mann als «Kreuz» dargestellt wurde, vor allem da Sophie Schnyder auch die «unedlen» Mägde «zurechtbringen» wollte. Das «Zurechtbringen» von «unedlen Mägden» habe sie als Probe verstanden, die ihr «von Gott zugewiesen» wurde.99 Dass sie nicht nur Sanftmut, sondern auch eine grosse Portion an Strenge und Autorität aufbringen konnte, wenn sie Dienstpersonal auf den rechten Weg bringen wollte (anstatt es zu entlassen), kann nur geahnt werden. Falls dem so wäre, liesse die Sprache Johannes Schnyders die starke und autoritäre Pfarrfrau an seiner Seite nicht zu.

DIE KINDER SIND EINE VON GOTT ZUGEWIESENE AUFGABE

Ein Jahr nach der Heirat kam das erste Kind zur Welt, dann in kurzer Folge vier weitere. «Ihre Kinder waren ihr von Anfang an nicht niedliches Spielzeug, sondern eine grosse, von Gott angewiesene Aufgabe.»100 Die Aufgabe bestand darin, die Kinder nach christlichem Vorbild und gemäss den seit Beginn des 19. Jahrhunderts propagierten Erziehungsmaximen zu formen. Wie schon weiter oben beschrieben, waren die Pfarrerskinder in besonderem Mass den Normvorschriften der bürgerlichen und der reformierten Gesellschaft verpflichtet. «Selbstbeherrschung, Selbstüberwindung und Kontrolle der eigenen Sinnlichkeit galten als Voraussetzung zum Erlernen des bürgerlichen Tugendkanons. [...] Sie waren im bürgerlichen Milieu traditionell verankert. Strenge Pflichterfüllung und Sparsamkeit galten [...] in Anlehnung an die reformatorischen Arbeitsgebote und Luxusverbote als konstitutiv. [...] Dieses Erziehungsideal setzte Eltern voraus, welche aus innerer Überzeugung und nicht nur aufgrund materieller Notwendigkeit die Charakterstruktur ihrer Kinder formten. Nicht äussere Gewalt sollte die Kinder zum gewünschten Verhalten zwingen, sondern der verinnerlichte Normenkanon respektive das eigene gute oder schlechte Gewissen.»101 So waren die Selbstspiegelung und die Selbstbefragung im Gebet für die Kinder wichtig. Diese Erziehungsmaximen waren der jungen Mutter bekannt und vertraut. Wichtigste Voraussetzung war das leuchtende Vorbild der Mutter.102 Die Mutter musste also nicht nur die Kinder versorgen und sie vor allem Schädlichen bewahren, sondern auch ihre geistigen und geistlichen Fähigkeiten fördern.103 Ihr eigenes vorbildliches Leben allein aber genügte nicht. Erzählungen, Sprüche, Gebete und Lieder waren als Hilfsmittel, nebst Strafen, von unschätzbarem Wert. Die Kinder konnten nicht früh genug in die Glaubenswelt, die zugleich Vorbild und Gebot war, eingeführt werden. Gerade Geschichten waren dazu besonders geeignet. Sophie wusste vortrefflich zu erzählen, sodass ihre Kinder, wie Johannes Schnyder betonte, in der Welt der Bibel heimisch waren, die Gestalten des Joseph, Moses, Samuel vor ihren Augen lebten und ihnen Vorbilder waren: «Mit unwahrscheinlicher Kindlichkeit redete sie besonders vom ‹Heiland› so natürlich, so herzlich und vertrauend, so fern von aller gemachten Süsslichkeit. Aber auch andere Geschichten wusste sie in reichem Vorrat und sammelte sie neu zum Besten der geschichtenhungrigen Kinder. Manchmal sass ich dabei und hörte mit Verwunderung und Erbauung der Erzählerin zu; denn mit zarter Detailmalerei und fast ohne moralische Nutzanwendung verstand sie zu schildern, dass ich sehr wohl begriff, warum dies die Kinder so fesselte und wie gerade an diesem Erzählen eine erziehende Kraft lag.»104