Loe raamatut: «Geschwistergeschichten», lehekülg 9

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MUSIK UND LITERATUR: DIE BÜRGERLICHE KUNST, SICH SELBST ZU ERKENNEN

Das Pfarrhaus war vor allem in ländlichen Gegenden die Stadt im Dorf, wo ein exemplarischer Ausschnitt städtischer, bürgerlicher Lebenswelt sichtbar wurde.195 Bildung, Sprache und gepflegte Umgangsformen zeichneten das Pfarrhaus aus und unterschieden es von den anderen Häusern. «Bilder und Bücher, Kunst und Dichtung, Musik und Gespräch füllen das aparte Haus aus, sie sind die Accessoires der zugleich religiösen wie bürgerlichen, der in zweifacher Weise exemplarischen Familie.»196

Liedtexte waren, wie auch Bibelsprüche und berühmte Stellen aus literarischen Werken, dauernde Begleiter der Geschwister. In Briefen, in Tagebüchern und in Gedichten, in Lebenserinnerungen und in Nachrufen wurden sie zur Illustration von Situationen, als Trostspender oder als stärkende Hilfeleistungen zitiert. Zum Repertoire gehörten in erster Linie Bibelzitate und die Lieder des Gesangbuches. Dies erstaunt nicht weiter, wenn Lilly erklärt, jedes Kind habe gemeinsam mit Caroline einen Bibelvers pro Woche auswendig gelernt, um dem Vater eine Freude zu machen.197 Das Kirchengesangbuch war das erste Liederbuch der Kinder. Neue Auflagen von Gesangbüchern wurden in Briefen kritisch diskutiert, gestrichene Lieder schmerzlich vermisst. Dazu kamen umfassende Kenntnisse der grossen klassischen und romantischen Komponisten, Dichter und Schriftsteller. Die mit der Rezeption dieser kulturellen Werte verbundenen und vom Zeitgeist geprägten Idealvorstellungen verweisen darüber hinaus auch auf den persönlichen und individuellen Wunsch nach Eintracht, Einklang und Harmonie.198 Die Musik und die Literatur waren den Geschwistern heilig; wenn der Vater, später der jüngste Sohn, den Geschwistern aus Büchern vorlas, wenn die Mutter erzählte, wenn gemeinsam musiziert wurde. Dabei hörten Schwestern, Mutter oder Gattin mit einer Handarbeit in den Händen zu. Eine Schülerin von Walter Schnyder beschrieb das Glück dieser bildenden Harmonie: «Ich han au törfe zus Dr. Schnyders hei. Lang hani vo do a jede Dunschtig törfe zuenene amene Abig. Dänn hätt er vorgläse und sini Frau hätt glismet oder gflickt. Ich weiss nüme, wie all die Büecher gheisse händ, woni so ha törfe känne lehre, es isch für mich alls wunderbar gsy. Und denäbe hätt er mer au d’Wält ufta zur Musig, zu de Schubertlieder, zur Italienische Sinfonie vom Mendelssohn, won er mit eme Nachbarspurscht zäme vierhändig gspillt hätt i einer Begeischterig.»199

Die tief beeindruckte Schülerin, die selbst aus ärmeren Verhältnissen stammte, empfand dieses Familienidyll als totale Harmonie. Der gebildete und tätige Mann war auch nach Feierabend für das Geistige zuständig, indem er seiner Familie vorlas. Derweil legte seine Zuhörerin, die Gattin, ihre Hände nicht müssig in den Schoss, sondern beschäftigte sich mit Handarbeiten. Ein bestimmtes Repertoire an Musik und Literatur bildeten die Attribute des gebildeten Bürgers, hier in besonders vorbildlicher Weise durch den Lehrer und Pfarrerssohn verkörpert.

Musik und Literatur wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als bildende und erbauende Kräfte verstanden. So schrieb Hanna an ihren Bruder Ernst im Sommer 1944: «Kürzlich war der Generalsekretär des CVJM, ein Herr Schmid, hier, um uns zu erzählen, was er gesehen u. erlebt beim Besuch von Gefangenenlagern in Deutschland und uns Lichtbilder zu zeigen. Er zeigte uns auch Arbeiten Kriegsgefangener. Wie gut, dass man sich dieser Ärmsten annimmt u. ihnen Lektüre, Musikinstrumente u. dgl. verschafft.»200

GESANG UND MUSIK ALS AUSDRUCK DES HERZENS

«Hauptsächlich sangen wir gern zusammen und alle langweiligen Arbeiten verkürzten wir uns womöglich auf diese Weise. Es war überhaupt ein sangesfrohes Pfarrhaus, wo die Kinder fast singen konnten, ehe sie reden lernten. Jeden Morgen war es das erste, dass wir uns ums Klavier versammelten und ein Gesangbuchlied sangen. So ist z. B. ‹Die goldne Sonne› von klein auf eins meiner liebsten Lieder gewesen, sie verbreitete schon im Kinderherzen ein strahlendes Licht.»201

Das Singen war innerhalb des evangelischen Pfarrhauses wohl der wichtigste musikalische Bestandteil. Durch die in der Familie regelmässig abgehaltenen Morgen- und Abendandachten verfügten die Geschwister Schnyder über ein grosses Repertoire an Liedern und Liedtexten. Das gesungene Wort, welches formelhaft das Leben regulierte und Sinn stiftete, spielte in der bürgerlichen Kultur im Allgemeinen und in pietistischen Kreisen im Besonderen eine zentrale Rolle.

In der bürgerlichen Familie nahm Musik bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige Stellung ein. Der gemeinsame Gesang oder das Musizieren am Klavier bedeutete nicht nur Harmonie, sondern liess zugleich Bildung und Vermögen sichtbar werden. Man hatte Geld, Musikstunden zu nehmen, man konnte sich ein Klavier leisten, man kannte mehrstimmige Werke und konnte diese interpretieren. Was vorher in den Salons der Adligen stattfand, nahm Einzug in den Stuben des Mittelstandes.202 So war es Johannes Schnyder ein Anliegen, sich das Klavierspiel anzueignen: «Papa hatte selbst grosse Freude an der Musik u. noch nicht so lange ist es her, da hat er es durch fleissiges Üben zu seiner Freude dahin gebracht, seine Lieder ganz ordentlich ohne Absätze, wie früher zu spielen, denn da hatte es oft minutenlange Pausen von einem Ton zum andern gegeben, bis er die Noten gelesen hatte.»203

Auch veranstaltete die Familie kleine Hauskonzerte, «bei denen alle etwas leisten mussten. Papa sass dann sehr vergnügt auf dem Sopha.»204 Diese bürgerliche Familienidylle entsprach aber nicht dem musikalischen Alltag im Pfarrhaus, der vielmehr durch das Singen und Begleiten der Kirchenlieder während der Hausandachten geprägt wurde.

Um die Bedeutung der Musik und des reichen Liedgutes in der Kultur des evangelischen Pfarrhauses besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Bestrebungen der Reformatoren. So war für Luther, dessen Leben von Pfarrer Schnyder seinen Kindern immer wieder geschildert wurde und der im religiösen Verständnis des Hausherrn eine wichtige Rolle spielte, der Kirchengesang Zeichen der hörbaren Einheit der im Glauben verbundenen Gemeinde.205 Die spezielle Förderung des Gesangs und der Musik in der Tradition der Reformatoren hatte auf die gesamte deutsche Musikgeschichte grossen Einfluss. Nicht nur die Werke Johann Sebastian Bachs, den man den fünften Evangelisten nannte, auch katholische Komponisten wie Beethoven und Bruckner verweisen darauf, dass die Musik hier über das Weltliche hinauswies. Sie sollte dazu verhelfen, Rätsel zu lösen oder Aufgaben zu bewältigen, die vom Menschen allein nicht zu begreifen sind.206 Komponisten wie Bach, Beethoven, Mendelssohn oder Schubert gehörten im musikalischen bürgerlichen Haus zum Kanon.

Das Wort der Bibel und die Auslegung der Bibel standen im Mittelpunkt der reformierten Kultur. Eine interessante Beobachtung der Auswirkungen dieser Tradition im Gegensatz zur katholischen Tradition finden wir in der schwedischen Theologie: «Während der katholische Gottesdienst vorwiegend ‹visualisch› sei, das heisst das Auge des Besuchers anspreche, sei der evangelische Gottesdienst vorwiegend auditiv, das heisst, er wende sich vor allem an das Ohr der Gemeinde.»207 In der katholischen Messe entfalteten sich bis zum zweiten Vatikanischen Konzil 1964 vor allem die Künste, die sich an das Auge wenden: Malerei, Bildende Kunst, Architektur und das Schauspiel. Im Mittelpunkt des evangelischen Gottesdienstes steht die Predigt, das verkündigte Wort Gottes.208 Dazu kommt, dass mit der Aufgabe der Gemeinde, während des Gottesdienstes aktiv mitzusingen und sich so am «gesungenen Evangelium» zu beteiligen, eine allgemeine Musikerziehung stattfand.209 Es ist also nicht vor allem das geschriebene, sondern das gesprochene, das gesungene Wort, das Rezitieren und Vorlesen, alle Künste des Ohres, die hier zur Entfaltung kamen. Weltliche Vergnügungen wie Tanzen oder Kartenspielen waren in orthodoxen reformierten Kreisen verpönt. «Einzig religiöse Lieder wurden zur Ehre Gottes gesungen, der Pietismus hat so ein überaus reichhaltiges Liedgut hervorgebracht.»210 Eine grosse Anzahl der Lieder kompensiert das Verbot von Tanz und Vergnügen in sehr zu Herzen gehenden Melodien, die, im Dreivierteltakt komponiert, einen tänzerischen Charakter aufwiesen und oft aus dem Englischen übersetzt worden waren.211

Da nun die reformierte Gemeinde beim Verkünden des Evangeliums singend mitmachen musste, war eine Begabung im musikalischen Bereich für den Pfarrer sozusagen Berufspflicht. Die Familie, die den Gottesdienst auch zu besuchen hatte, war dabei eine Verstärkung des Gemeindegesanges, der die Einheit und Stimmigkeit des Glaubens bezeugte und die Kraft der Predigt unterstützte. So galt die Pfarrfamilie bis vor kurzem «als Kern der singenden und musizierenden Gemeinde. Mit ihren Instrumenten und Stimmen halfen Ehefrau und Kinder im Gottesdienst, bei Konzerten, zu Weihnachten und all den Festtagen, die durch Kirchenmusik ihren Glanz bekommen. Wie weit die Kinder sich später vom Elternhaus geistig und geistlich entfernen mochten, über die Musik waren sie immer noch am dauerhaftesten mit den Quellen ihrer Kindheit verbunden.»212

GEMEINSAMES MUSIZIEREN UND DIE SONDERSTELLUNG DES KLAVIERS

Gemeinsames Musizieren bildete einen besonderen Akt der Geschwisterbindung. Ähnliche musikalische Vorbildung, ähnliche Vorlieben und vor allem gemeinsame Erinnerungen konnten über den musikalischen Weg ausgetauscht werden. Das Zentrum des gemeinsamen Musizierens war das Klavier. Es gehörte zum Alltagsleben und durfte in einer besseren Wohnung nicht fehlen.213 Das Klavier bedeutete Harmonie und Zusammengehörigkeit, wie dies im Zitat der um das Klavier versammelten Pfarrersfamilie sichtbar wurde. Zugleich demonstrierte es einen Standard an Vermögen und Bildung.214 Im Pfarrhaus von Johannes Schnyder standen ein Harmonium und ein Klavier. Während der Pfarrer das Spiel auf dem Harmonium recht gut beherrschte, war er des Klavierspiels lange nicht mächtig.215 Das Harmonium war das Instrument in pietistischen Kreisen, für Schwestern und Brüder der Basler Mission bildete die Anschaffung eines Harmoniums zur Hochzeit ein deutliches Zeichen der zukünftigen harmonischen Beziehung des Ehepaars.216 Nach dem Tod des Vaters wird das Harmonium nicht mehr erwähnt. Ein Klavier, das teurere und künstlerisch ergiebigere Instrument, stand in der Mietwohnung von Caroline Schnyder, bei Onkel Gustav in Basel, später verfügten fast alle Geschwister über ein Klavier, selbst die allein wohnenden Geschwister Paula und Sophie hatten ihr eigenes Klavier. Das Verstummen eines Klaviers war Zeichen fehlender Personen, es markierte eine Beziehungslücke. So schrieb Lilly, nachdem ihre 29-jährige Schwester nach den Ferien wieder als Lehrerin in «ihre» Schule zurückkehrte: «Es ist jetzt sehr still bei uns; damit will ich nicht gesagt haben, Paula habe Lärm gemacht, aber ihre lebhafte Art und ihre Musik fehlen uns immer, wenn sie fort ist.»217

Ähnlich klingt es in einem Brief von Hanny an ihren ältesten Bruder Ernst nach der Abreise ihrer Nichten: «Es war gestern gar still bei uns, besonders am Abend. Da tönten keine hellen Kinderstimmen zum Klavier! Tante Pauline hielt Jungfrauenverein, Tante Meta war ganz vertieft ins ‹Theresli› u. Onkel u. ich spielten Sulta.»218

Hanna blieb mit ihren alten Tanten und dem Onkel allein. Während sich die beiden alleinstehenden Frauen selbst beschäftigten, musste deren Bruder durch ein Spiel unterhalten werden. Das Verstummen des Klaviers zeigt zugleich das Fehlen von Kindern, von Leben an.

Zur grossen Mode wurde das Klavier ab 1815. Es wurde zum bürgerlichen Instrument, das nicht nur als Statussymbol galt, sondern auch Bildung und gute Erziehung bedeutete und vor allem für Frauen zu einer Art ästhetischen Mitgift wurde.219 Zu einer guten Erziehung gehörte das Klavierspiel wie die Predigt zum Sonntag. So ist der Seufzer von Renée Mauperin kurz vor der Jahrhundertwende verständlich: «Mit den Frauen kann man nur über die letzte Predigt sprechen, die sie gehört haben, über das letzte Klavierstück, das sie geübt haben oder über das letzte Kleid, das sie getragen haben: das Gespräch mit meinen Zeitgenossinnen ist beschränkt.»220 Das Klavier wurde zum weiblichen Attribut, das Klavierspiel unterstrich die weiblichen Wesensmerkmale. Mit einer aufrechten Haltung, bedeckten Beinen und geneigtem Kopf gab sich die Frau der Musik hin, beim Zusammenspiel war sie Begleitung, ihr Talent erforderte Einfühlungsvermögen für den – selbstverständlich männlichen – Solisten.221 «Danièle Pistone hat in der französischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts zweitausend Szenen entdeckt, in denen das Klavier vorkommt. In der Hälfte dieser Szenen spielt ein junges Mädchen eine Rolle, in einem weiteren Viertel eine verheiratete Frau.»222 Dass in zwei Dritteln der Fälle eine Frau vorkommt und in der Hälfte der Fälle ein unverheiratetes Mädchen, ist nicht bloss auf ein romantisches Klischee der französischen Literatur zurückzuführen, sondern hat mit der Ausbildung bürgerlicher Mädchen zu tun. Waren die Männer «militärpflichtig», so waren die Frauen, wie Kritiker meinten, «klavierpflichtig».223 Als bürgerliches Hausinstrument war das Klavier ein weibliches Accessoire. So wollten es die gesellschaftlichen Regeln, über die sich nur adlige Frauen oder Frauen aus der Unterschicht ungestraft hinwegsetzen konnten.224 Alle Schnyder’schen Töchter hatten Klavierstunden gehabt, dabei wurden sie je nach Talent mehr oder weniger gefördert. Die Stunden wurden ihnen zu Beginn zu Hause von der Mutter erteilt. Später erhielten sie Unterricht bei einer Klavierlehrerin. Diese genoss dafür unentgeltlichen Lateinunterricht bei Pfarrer Schnyder.225 Während des Welschlandjahres gehörte das Klavierspiel zu den Pflichtfächern,226 und es durfte im Stundenplan des Lehrerinnenseminars an der Neuen Mädchenschule nicht fehlen. Dass das Klavierspiel die Heiratschancen erhöhte, mag sein. Jedoch war dabei jede Form von Virtuosität für Frauen nicht vorgesehen. Das Klavier kam im Falle grösserer Begabung eher der Selbständigkeit der Frau entgegen und erhöhte ihre Chancen, selbständig Geld verdienen zu können.227 Sophie gab während der vier Jahre, in welchen sie in Aachen wohnte, Klavier- und Sprachunterricht und verdiente so einen Grossteil des Unterhalts des jungen Paars. Sie hatte Mühe, den Ansprüchen ihres Gatten in puncto Haushalt zu genügen, sorgte aber durch ihre Begabung für Einkommen: «Ich darf aber wohl sagen, dass ich mir alle Mühe gab meine Pflicht zu erfüllen. [Die Pflicht, den Haushalt zu führen, Anm. A. S.] Dazu suchte ich mir Schüler und hatte schliesslich eine ganze Schar, so dass ich des Tags oft 13 Stunden zu geben hatte. Das tat ich auf eigenen, aber ebenso sehr auf meines Mannes Wunsch, der nach kurzer Zeit gefunden hatte, ich wäre wohl ‹zu hochmütig und zu faul›, sonst würde ich als Klavierspielerin in ein Kino gehen. [...] Ich stand immer um 5 auf, da ich eine ganze Haushaltung zu machen hatte, bevor die Schüler kamen und brachte dem jungen Herrn sein Frühstück ins Bett, weil ich doch bis 8 Uhr fertig sein musste. [...] Ich erteilte Klavier-, Französisch- und Englischstunden und so bald ich konnte, bezahlte ich die Miete.»228

Sophie sah es als selbstverständlich an, ihr Geld selbst zu verdienen. Ihr Mann assoziierte ihre Fähigkeit, Klavier zu spielen, mit der Möglichkeit, durch öffentliche Auftritte Geld zu verdienen, was für Sophie ausser Diskussion stand, schliesslich war sie Lehrerin, und mit Unterricht verdiente sie auch hier ihr Leben.

Auch innerhalb des erlernten Berufes der anderen Schnyder-Schwestern bedeuteten ihre Kenntnisse im Klavierspiel eine Aufwertung ihrer beruflichen Fähigkeiten. Als Schwester Gertrud, Diakonisse von Riehen, wegen Spannungen mit dem Ärzteteam vom Spital Teufen, wo sie in einer leitenden Position war, in das Frauenheim Pilgerbrunnen versetzt wurde, schrieb ihre Mitarbeiterin, die Versetzung komme überraschend: «Wir werden sie in manchen Teilen vermissen, hat sie es im Grunde ja gut gemeint, und dann fehlt halt auch die Haus-Organistin!»229 Die etwas eigenwillige und widerspenstige Schwester wurde wohl in manchen Dingen vermisst, was aber auch heisst, dass sie in vielem nicht vermisst wurde. Ihre Fähigkeit als Hausorganistin wurde aber speziell vermerkt und schien, im Gegensatz zu allem anderen, eine besondere Auszeichnung gewesen zu sein. Rosa, die in Horgen als Sprachlehrerin tätig war, wurde als Chorleiterin angestellt, als der Musiklehrer aus Kostengründen weggespart werden musste. Ob sie für diese zusätzlichen Stunden entlöhnt wurde, ist nirgends festgehalten.

Das Klavier bot eine erstklassige Möglichkeit, gleichzeitig zu unterhalten, weiterzubilden und Beziehungen zu pflegen. Verschiedentlich wird in Briefen das gemeinsame Musizieren oder das Vorspiel der einen oder des anderen erwähnt. Die meistgenannten Komponisten sind Beethoven, Mendelssohn, Schubert, Händel und Bach. Dem Lied kam dabei eine Sonderposition zu. Wie wichtig die Kombination von Musik und Wort war, wird aus dem folgenden Zitat sichtbar. Sophie schrieb an ihren jüngsten Bruder Walter: «Seit langer Zeit wieder einmal habe ich wirklich von Herzen Klavier gespielt, auch gänzlich Unvorgeschriebenes. Mendelssohn war es und 3 Schubertlieder, die Tante Rosa auch öfter zu spielen und Rösy zu singen pflegte; die ‹Stadt›, von Heine und dann das einzige Lied, was ich mit meiner Stimme eigentlich noch richtig singen kann und was mir doch immer aus tiefstem Herz gesprochen war, nämlich ‹Musik›. Ich weiss nicht, ob Du Dich erinnerst. Du musst es in 8 Tagen spielen während ich koche, ich hab es doch so gern. Und zum Schluss das Herbstlied von Lenau ‹Holder Lenz du bist dahin› das ich mir einmal angeeignet, weil es so für mich passt und ich für Worte und Melodie eine Vorliebe habe. – Ich spielte übrigens schon heut früh eine Stunde vierhändig mit Frl. Weckerle, die plötzlich gestern abend an meine Türe polterte, so dass ich schleunig allen Grümpel vom Tisch in die Schublade wischte. [...] Wir spielten das erste Händelkonzert und ich muss sagen, immer reisst mich Händel einfach hin. Das ist etwas was ich lebhaft bedaure im Grab nicht mehr hören und spielen zu können und Händel versteht auch Frl. W. eher als anderes und geht mit.»230

Sophie schrieb jede zweite Woche einen solchen Sonntagsbrief an ihren Bruder Walter. Die Briefe gleichen Protokollen der Tätigkeiten, mit denen die alleinstehende und oft einsame Frau den einzigen freien Tag ihrer Woche verbrachte. Der Bruder konnte am Musik- und Literaturprogramm der Schwester teilnehmen und sich auf den kommenden Sonntag – zu diesem Zeitpunkt besuchte er seine Schwester vierzehntäglich – vorbereiten. Schliesslich wollten die Geschwister gemeinsam musizieren und über Lektüre debattieren. Im Zitat wird das Klavier zum Ort des Gemeinsamen und Vertrauten schlechthin. Es weckte Erinnerungen an Rosa, die Tante, die mit der Schwester Rösy musizierte, es war der Ort, an dem der Bruder spielte, während die Schwester zuhörte und kochte. Das vierhändige Klavierspiel war Ausdruck davon, dass Sophie an diesem Sonntag nicht allein war. Auch wenn Fräulein Weckerle den Ansprüchen von Sophie nicht genügen konnte, gab die Freundin ihr doch die Möglichkeit, in der gemeinsamen Musik über sich hinauszuwachsen. Noch bedeutender wurde dies allerdings, wenn die Schwester mit ihrem Bruder gemeinsam spielte, zum Beispiel Mendelssohns «Italienische Symphonie», die der Bruder, so Sophie im selben Brief, auf den kommenden Sonntag hin zu üben hatte.231

Wie berückend und berührend das gemeinsame Musizieren der Geschwister sein konnte, beschrieb die bereits oben zitierte Schülerin von Walter: «Später hätt er sogar eini vo sine Schwöschtere, s Marthy, won e schöni Stimm gha hätt, i d Schuel mitbracht, und sie hätt eus das Lied – und anderi – mit der Melodie vom Schumann gsunge, vo ihm am Flügel begleitet. Ich bi gsy wie verzauberet, ich ha tänkt, öppis Schöners chönns überhaupt nüme gäh.»232

Die Musik war für Frauen um die Jahrhundertwende einer der wenigen Orte, ihre Gefühle auszudrücken.233 Besonders berühmte Vorbilder finden sich unter den literarischen Beispielen Klavier spielender Frauen. So in Goethes «Wahlverwandtschaften», wo Ottilie durch ihre einfühlsame und virtuose Klavierbegleitung das Herz des solospielenden Eduards gewinnt. Die Harmonie, die zwischen den beiden während des Spiels entsteht, dient als Spiegel ihrer Charaktere, die einander zugeneigt sind. Während die Begleitung der Gattin von Eduard nur vom Willen, ihn zu begleiten, getrieben ist, führt die von Ottilie zur perfekten Harmonie.234 In der Musik kam zum Ausdruck, was niemals ausgesprochen werden durfte, sie wurde zum Ort vollkommenen Glücks und vollkommener Verzweiflung. Auch Meinrad Inglin bediente in seinem Roman «Schweizer Spiegel» dieses Klischee: Die noch kaum geahnte Liebe, die sich zwischen dem armen Dichter Albin und der Frau von Oberst Hartmann regt, wird im gemeinsamen Spiel sichtbar. Sie begleitet ihn auf dem Klavier. In der Musik offenbart sich die Liebe und Harmonie, die sich hier verbotenerweise im verdunkelten nächtlichen Zimmer ausbreitet.235

Das Klavier wurde durch diese Intimität zum Verbündeten, es kannte die innersten Regungen und Wünsche der spielenden Person. So war denn in den Gedichten Sophies das Klavier der Ort, an den sie sich in ihrer Sehnsucht zurückzog:

«Dämmrung

An dem Klavier in meinem kleinen Zimmer

So sitze ich im trauten Dämmerschein

Und spiele bei dem letzten trüben Schimmer

Die alten Lieder die wir sangen immer

Als Kinder schon und gestern noch zu zwein.

Die Finger gleiten auf den weissen Tasten

Das Lied vom Herbst und von der Jugendzeit

Vom Trommelklang und Kriegsgeschrei und Hasten

Und wie der Pilger sucht ein Haus zum Rasten

Vom Heimatglück und Erdenlieb und Leid.

Die alten trauten Weisen leis verklingen

Und nimmer werde ich des Spieles müd

Vor meine Seele alte Bilder dringen

Dass nicht ein einzig Lied ich mehr mag singen

Weil alles Weh durch meine Seele zieht.

Weil ich gedenke alter Schuld und Fehle

Auch am Klavier im letzten Dämmerschein

Mich Tag und Nacht mit wilder Reue quäle

Und einen Ausweg suchet meine Seele

Und einen Gott, denn ach, ich bin allein.»236

In «Dämmrung» wird das Klavier zum Anbindungspunkt an die verlorene Heimat, die durch die alten Lieder, die zu zweit gesungen wurden, heraufbeschworen werden sollte. Die zitierten Volkslieder lassen noch einmal das Liedgut aufscheinen. Nun kommen keine Lieder mehr über die Lippen, nur noch die Finger gleiten über die Tasten und bringen die Erinnerungen zurück. Die verstummten Lieder blieben in Worten als Verse, Zitate, als Literatur zurück. Während das Musizieren immer an Gemeinschaft und Harmonie erinnerte, konnte Literatur der Ort werden, an dem die Einsamen im Zwiegespräch Gehör und Verständnis fanden.

LESEN, VORLESEN, ZUHÖREN UND DER DRANG NACH AUSTAUSCH UND BESTÄTIGUNG

Im bäuerlichen Elternhaus von Johannes Schnyder waren Bücher eine Rarität. Bauernkalender und die Bibel waren der Lesestoff, der im Haus zu finden war.237 Das Fehlen anderer Bücher und die gleichzeitige Lesewut des Jungen führten zur weiter oben zitierten Anekdote, er habe bis zu seinem 15. Lebensjahr die Bibel vier Mal durchgelesen.238 Anders mochte das Verhältnis zu Büchern bei den beiden Frauen von Johannes Schnyder gewesen sein. Im Pfarrhaus in Beringen bei Pfarrer Peyer standen gewiss einige literarische Werke. Onkel Gustav Peyer, der Bruder Sophies, hatte eine grosse Bibliothek. «Der Bücherschrank im Pfarrhaus versammelte das Bildungsgut der Zeit, allerdings meist ohne die fortschrittliche oder gar avantgardistische Literatur.»239 Auch auf dem Wyttenbach’schen Gut im Wyssenbühl waren Bücher vorhanden. So erinnert sich der Vater Caroline Schnyder-Wyttenbachs in seinen Memoiren, dass zum täglichen Programm seines Vaters Lektüre gehörte.240 Bücher gehörten zum Ausweis von Wissen, Bildung und Geld. Allerdings spielten auch öffentliche Bibliotheken eine wichtige Rolle.241 So liess sich Ernst Schnyder, der als junger Pfarrer in Nesslau keinen Zugang zu einer grossen Bibliothek hatte, von seinem Onkel Gustav Peyer in Basel Bücher aus der Lesegesellschaft schicken. Die Schwester hatte dann jeweils den Auftrag, diese zu holen und zu verschicken. Um die Bücher in der Lesegesellschaft ausleihen zu können, musste der Onkel Mitglied sein.242

Lesen war zugleich Bildung und Luxus. Lesen war keine produktive Arbeit.243 So wurde es nicht geschätzt, wenn Mädchen zu viel lasen. Lektüre wurde oft am Sonntag oder auch am Abend genossen, wobei die oben zitierte Arbeitsteilung, einer liest, die anderen erledigen Handarbeiten, bevorzugt wurde. Im Pfarrhaus Schnyder gehörte eine regelmässige Abendlektüre zum Tagesprogramm: «Am Abend lasen wir gewöhnlich gemeinsam ein Buch vor, und Papa war dabei, um uns Freude zu machen, zu erklären und zu korrigieren. So lasen wir verschiedene Spyribücher und auch endlich einmal die ganze Odyssee, was mir in der Schule sehr zu statten kam.»244

Das gemeinsame Lesen wurde vom Vater erklärt und kontrolliert. Die Pfarrerskinder konnten sich im Vorlesen üben und zugleich ihr Wissen vergrössern. Dies war in der Schule ein Vorteil, wie Lilly selbst betonte. Bücher spielten in der Etablierung bürgerlicher Vorstellungen vom häuslichen Leben eine wichtige Rolle. Besonders aktiv und prägend bei der Produktion dieser Literatur der Mittelschichten waren Pfarrer, Prediger oder pietistisch geprägte Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Inspiriert wurden sie unter anderem durch die englische Erweckungsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts,245 die auch auf die Schweiz grossen Einfluss ausübte. Bei Schnyders las man Reuter, Frommel, Voss, Hebbel, C.F. Meyer, Lavater, Gotthelf sowie die Schriftstellerinnen Emma Waiblinger, Maria Waser, Dora Schlatter, Johanna Spyri und Elisabeth Müller. Natürlich wurden auch theologische Abhandlungen und evangelikale Traktätchen hin- und hergeschickt. So lasen die Geschwister reihum einen Text darüber, wie der Pietismus in Zofingen Fuss gefasst hatte, später sandte man sich Texte von Karl Barth zu und diskutierte diese kontrovers. Die vielfältigen Spuren, die diese Lektüre in Briefen, Tagebüchern und Memoiren hinterliessen, sind Zeichen des hohen Stellenwerts, der dem Lesen, Vorlesen und Zuhören zukam.246

Bücher waren kostbare Geschenke, sie wurden ausgetauscht und zurückverlangt, sie wurden beschriftet und gehortet und immer wieder gelesen. Bücher waren Träger von geistigem Gut, sie waren Gesprächspartner und Tröster, sie öffneten die Welt und machten Verborgenes oder gar Verbotenes zugänglich. Interessant ist, dass in den Quellen nie von unpassender oder gar «verbotener» Lektüre die Rede ist, obwohl gerade für Mädchen viele Bücher als unpassend oder gar verderblich angesehen wurden.247 Es ist anzunehmen, dass diese Diskussion durchaus stattfand, da fast alle Geschwister in irgendeiner Form einen Bildungsauftrag hatten und somit mit der Auswahl passender Bücher konfrontiert waren.

Sich über Literatur auszutauschen, bedeutete für die erwachsenen Geschwister, Lebenswelten zu teilen. Kaum ein Brief, in dem nicht ein kurzer Überblick über die derzeitige Lektüre vorkam. Dies konnte von religiösen Traktätchen über politische Schriften bis hin zu Goethes «Faust» und Baudelaire alles sein.

Eine Ausnahme und zugleich ein Beispiel für die zentrale Rolle, die Literatur spielen konnte, bilden die Quellen Sophies. So zum Beispiel im Brief vom 8. November 1925, in welchem die Schwester ihrem jüngsten Bruder zunächst eine literaturkritische Abhandlung zu Strindbergs Dramaturgie lieferte, um dann den modernen Dramatiker in seinem Urteil über Shakespeare zu widerlegen. Dann verglich sie Strindberg mit Hebbel, Ibsen, Hauptmann, Mörike und Dumas, um sich zum Schluss bei Wilhelm Busch zu erholen. Weiter ging die Aufzählung zu den während der Woche geübten Fremdsprachen: Maupassant auf Französisch, eine leichte Liebesgeschichte zur Erholung auf Englisch und «Garben und Kränze», eine historische Abhandlung über Gregor den VII., der die Priesterehe abschaffte. Der Brief schloss folgendermassen: «Auswendig lerne ich Schillers ‹Weltweise› und wiederhole alles Gelernte immer zweimal im Tag und jeden Abend im Bett einen Buchstaben Gesangbuchlieder. Frl. W. sagte, ich wäre verrückt! Was sagst Du? Herzl. Gruss und Kuss in Dank und Liebe. Dein altes S.»248

Solche Aufzählungen bilden in diesem Briefnachlass durchaus nicht die Ausnahme, der unglaubliche Wissensdrang und das rastlose Lernen und Weiterbilden sind Ausdruck des Stellenwerts, den Literatur und Musik für die Geschwister hatten. Im schwankenden Gemütszustand Sophies halfen diese kulturellen Stützen des Bildungsbürgertums, die Depression zurückzuhalten. Dass die Werke nur angedeutet werden mussten, zeigt, dass der Bruder mit dem Kanon bestens vertraut war. Diese Kenntnisse gehörten allerdings zum Beruf des Deutschlehrers, während für Sophie Literatur wie auch Musik überlebenswichtige Mittel waren, ihre Freitage ohne Familie zu überstehen.


26 Die Kinder von Walter Schnyder sagen, als Bergblumen verkleidet, Verse auf, um 1940.

Die Abhandlungen in den Briefen gleichen Gesprächen mit einem imaginierten Gegenüber, sodass in der kleinen Wohnung der alleinstehenden Frau eine familiäre Nähe im brieflich-literarischen Austausch entstand.

Grundstein aller Bücher und allen Lesens bildete die Bibel. Sie wurde zum Vergleich herangezogen, in ihr war alle Welt versammelt. Die Bibelfestigkeit der Geschwister lieferte Hilfe in guten und in schweren Situationen. So repetierte Paula während ihrer Krankheit Sprüche und Lieder, um ihre Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Ihr Tagebuch ist von Gedichten und Sprüchen durchdrungen, die sie sich selbst als Trost oder als mahnende Rufe hinschrieb. Wenn die Sprüche versagten, war die Kranke sehr verzweifelt: «Alles Aufsagen lieber Liedverse nützt nichts – die Verbindung mit Gott ist abgeschnitten, gottlob nur in solch dunklen Stunden!»249