Schlüsselbegriffe der Public History

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Gesellschaftliche Diskurse verändern Emotionsregeln

Dieser Exkurs über Heimwehdiskurse in über 300 Jahren zeigt beispielhaft, dass es kein universelles Heimwehgefühl gab und gibt, mehr noch: Das Heimweh startete als Krankheit, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Verlust- und Sehnsuchtsgefühl und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein modernitätskritisches Gefühl. Diese Geschichte verdeutlicht, dass sich Gefühle im Wechselspiel mit medizinischen, pädagogischen und philosophischen Diskursen und in Abhängigkeit von historischen Ereignissen permanent verändern. Das ist ein Befund, der verallgemeinert werden kann: Emotionen sind kulturell und historisch wandelbar und unterliegen permanenter Aushandlung und Anpassung an die je zeitgenössischen Emotionsregeln und an die je eigene Gemeinschaft. Der Exkurs zu Heimweh unterstreicht, wie sich ein bestimmtes Gefühl im Laufe mehrerer Jahrhunderte wandelte, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen und Diskurse veränderten und wie diese festlegten, was zu fühlen erlaubt war und was nicht, wie ein bestimmtes Gefühl in der Öffentlichkeit gezeigt werden durfte oder nicht bzw. welche Gefühle warum überwunden werden sollten.

Das Beispiel zeigt aber auch, dass Emotionen als Modus menschlicher Weltwahrnehmung und menschlichen Handelns ein elementarer Bestandteil von Geschichte sind. Zugleich sind sie aus diesem Grund auch immer Teil von Geschichtsdarstellungen. Es liegt auf der Hand, dass sie auch in der Begegnung mit Geschichte eine große Rolle spielen.

3.3.2Subjektebene: Emotionen in der Begegnung mit Geschichte

Emotionen sind bei der Geschichtsvermittlung immer vorhanden

Ein bedeutender institutioneller Rahmen für Begegnungen mit Geschichte ist der schulische Geschichtsunterricht. Die Theoriebildung zu Emotionen in Auseinandersetzung mit Geschichte findet daher bisher durch die Geschichtsdidaktik statt, auch wenn es bisher kaum empirische Forschung dazu gibt. Die Impulse kamen in den letzten Jahren zum einen aus der fachwissenschaftlichen Emotionsgeschichte; zum anderen ist das akademische Interesse an Emotionen in Lehr-Lern-Kontexten in der letzten Zeit ganz besonders ausgeprägt.

Aus diesem Grund leiten sich die folgenden Überlegungen über subjektive Emotionen in der Begegnung mit Geschichte aus geschichtsdidaktischen Überlegungen her, die sich zum großen Teil aus Forschungen zum Geschichtsunterricht speisen. Diese werden am Ende dieses Kapitels in Hinblick auf die Fragen und Anforderungen der Public History zugespitzt.

Aktivierung und Blockierung von Emotionen sind Emotionsmanagement

Emotionen sind in der Auseinandersetzung mit Geschichte, egal in welchem institutionellen Rahmen, schon immer vorhanden.31 Geschichtsdarstellungen sollen traditionellerweise Kenntnisse vermitteln und Orientierungswissen bereitstellen. Um das leisten zu können, sollen sie Neugierde wecken können, möglichst spannend sein, Interesse herstellen, bestenfalls für historische Themen begeistern. Emotionen haben aber keinen klar bestimmbaren, systematischen Ort in der Begegnung mit Geschichte, der sich auf diese Darstellungs- und Aktivierungsebene begrenzen lässt. Alle beteiligten Personen bringen ihre Emotionen in die Begegnung mit Geschichte mit hinein. Damit verändert jede_r Einzelne die Atmosphäre im Klassenzimmer, in der Ausstellung, in der Gedenkstätte und beeinflusst den Prozess der Geschichtsaneignung. Dabei lässt sich der Umgang mit Emotionen unterscheiden einerseits in die bewusste Aktivierung von als positiv konnotierten Gefühlslagen wie Interesse, Neugierde oder Empathie. Andererseits werden als störend bewertete Emotionen wie Langeweile oder Ablehnung aus der Perspektive der Geschichtsmacher_innen gezielt blockiert, wohingegen Schüler_innen, die sich gezwungenermaßen mit Geschichte beschäftigen müssen, auch ablehnende Emotionen gezielt aktivieren können. Ob nun Aktivierung oder Blockierung, beides sind Formen des Emotionsmanagements.

Wilhelm Dilthey und die Gefühle als Erkenntnismethode

Die Erkenntnis, dass Emotionen bei der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und der Erzeugung von Geschichte eine Rolle spielen, ist bei Weitem nicht neu. Wilhelm Dilthey, einer der Gründungsväter der modernen Geisteswissenschaften, kennzeichnete das geisteswissenschaftliche Verstehen im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Erklären als ein „Nachfühlen fremder Seelenzustände“.32 Damit wies Dilthey den Gefühlen im Verstehensprozess eine erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Daniel Morat bezeichnet diesen Zugang daher folgerichtig als eine „Gefühlsmethode“.33 Dilthey arbeitete mit der Vorstellung einer grundsätzlichen Gleichartigkeit zwischen der_dem Verstehenden und dem_der Verstandenen, die ein „Hineinversetzen“ in und „Nachbilden“ von fremden Gefühlen und damit ein Nacherleben fremder Erfahrungen überhaupt ermöglicht.

Faszination der Emotionen und Angst vor Emotionen im vergangenen Geschichtsunterricht

Trotz dieser dezidiert geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen „Gefühlsmethode“ waren Emotionen über viele Jahrzehnte aus dem Geschichtsunterricht regelrecht verbannt. Die Erklärung dafür liegt in der Geschichte des Unterrichtsfaches selbst. Geschichtsunterricht im wilhelminischen Kaiserreich, so der Didaktiker Bodo von Borries, verfolgte mit seinen „herkömmlichen Zielsetzungen“ unverhohlen „affirmativ-legitimatorische, ja manipulativ-indoktrinierende“ Absichten. „Kognitive Lernprozesse (Verständnis)“ seien damals „zum bloßen Vehikel des Emotionalen (Begeisterung und Liebe)“ insbesondere im Hinblick auf die Nation geworden.34 Emotionen galten aufgrund dieses Erbes, das über die Zeit des Nationalsozialismus hinauswirkte, als besonders problematisch für den Geschichtsunterricht. Das kumulierte in den 1970er Jahren in einen besonderen Rationalitätsschub im geschichtsdidaktischen Diskurs. Die Furcht vor einer unkalkulierbaren Wirkung der Emotionen resultierte in einer Dominanz kognitiver Lernprinzipien und -ziele gegenüber einem auch Emotionen adressierenden Zugang35 und in der Forderung nach einer „Kultivierung der Affekte“.36

Emotionen im Geschichtsunterricht werden neu entdeckt

Zu Beginn der 1990er Jahre kam es in Form einer geschichtsdidaktischen Tagung über Emotionen im Unterricht zu einem ersten Versuch, Emotionen wieder in den Lernprozess zu integrieren.37 Die Motivation zur Organisation einer solchen Tagung entstand aus der Einsicht, dass Emotionen in der historisch-politischen Bildung jahrelang vernachlässigt worden waren. Obwohl die Tagung einen Wendepunkt markieren sollte, hatte sie zunächst nur begrenzte Auswirkungen auf geschichtsdidaktische Konzepte oder gar auf Lernpläne. Erst mit dem emotional turn in der Geschichtswissenschaft fanden auch die Emotionen wieder Eingang in die Debatten um historisches Lernen, vor allem auch an außerschulischen Lernorten.38

Der heutige geschichtsdidaktische Umgang mit Emotionen verweist auf gegensätzliche Perspektiven und Erwartungen an die Einbeziehung von Emotionen in den Lernprozess. Einerseits gibt es Formate, die auf ein Nachbilden, Nachfühlen vergangener Emotionen setzen (so wie im Mauer-Panorama) oder die emotionalen Reaktionen der Lernenden mit berücksichtigen (insbesondere wenn es darum geht, die Geschichte von gewaltsamen Geschehnissen bis hin zum Massenmord zu vermitteln). Andererseits bestehen auch Bedenken hinsichtlich dieser Praktiken, die gezielt auf das Fühlen der Lernenden ausgerichtet sind, gerade weil diese zu sehr an historische Beispiele intentionaler Emotionalisierung erinnern. Daher gilt es, vertieft danach zu fragen, wie sich in der Begegnung mit Geschichte die Emotionen auf der Subjektebene zu denen auf der Objektebene verhalten.

Vergangenheit wird von Vermittlungsinstanzen erkennbar gemacht

So grundlegend die Dilthey’sche Definition des Verstehens als „Gefühlsmethode“ ist, verweist sie doch auf enge Grenzen insbesondere für das spezifisch historische Verstehen und damit für die historische Bildung. Denn um der Vergangenheit habhaft zu werden, braucht es Vermittlungsinstanzen, die vergangene Lebenszusammenhänge sicht- und verstehbar machen. 2000 Jahre alte Fundamente erzählen nicht von sich aus ihre Geschichte. Dafür braucht es die Markierung der Fundamente als historisch bedeutsam durch Absperrungen und eventuell durch vorsichtige Rekonstruktion, man benötigt Erklärtexte oder -videos zum Alltagsleben in der antiken Stadt oder zu religiösen Ritualen, um die Fundamente in einen historischen Zusammenhang zu bringen. Die Wirkung dieser verschiedenen medialen Vermittlungsinstanzen liegt in ihrem Vermögen, Vorstellungsbilder entstehen zu lassen und sie mit einer besonderen Glaubwürdigkeit zu versehen, an der entlang die Betrachter_innen konsistente Vergangenheitsbilder entwickeln können. Aber selbst wenn 100 Besucher_innen dieselben Fundamente sehen und dieselben Informationen und Bilder vermittelt bekommen, liegt es an jeder_m Einzelnen, diese mit eigenem Wissen und vorhandenen Vorstellungsbildern zu verknüpfen und daraus eine Geschichte zu entwickeln (vgl. Kap. 9 Historische Imagination).

Diese Geschichtsaneignung als Fremd- oder Identitätserfahrung

Überlegungen verweisen zum einen auf das Individuelle einer jeden Rezeption und Rekonstruktion des Vergangenen, zum anderen auf gesellschaftliche Deutungsmuster, die festlegen, was aus der Vergangenheit wert ist, sichtbar gemacht zu werden, und welche Geschichte anhand dieses Sichtbar-Gemachten erzählt werden soll. Die Frage ist nur, unter welchen Vorzeichen die Sichtbarmachung der Vergangenheit stattfindet. Sollen die Besucher_innen erkennen, wie anders das alltägliche Leben in einer antiken Stadt war, oder sollen sie Parallelen zu ihrem eigenen Leben sehen? Ist die Begegnung mit der Vergangenheit dementsprechend eine Alteritäts- oder eine Identitätserfahrung? Das hängt entschieden von der Art und dem Einsatz der Vermittlungsinstanzen ab. Um beim Beispiel der Ausgrabungen zu bleiben, besteht einerseits die Möglichkeit, die Fundamente minimal zu restaurieren und sie mit entsprechenden Informationstexten zu versehen. Andererseits ermöglicht es moderne Technik, die Besucher_innen mit Ton, Videoinstallation oder gar unter Zuhilfenahme von Augmented-Reality-Technik auf eine Zeitreise mitzunehmen und die Geschichte ‚hautnah miterlebbar‘ zu machen.

 

Ein Nachfühlen historischer Emotionen ist nicht möglich

Doch wie bereits dargestellt, ergibt sich aus der Perspektive der Emotionsgeschichte ein erheblicher Einwand gegen die Begegnung mit Geschichte als Identitätserfahrung. Denn ein Nachfühlen historischer Emotionen ist nicht möglich, eben weil sich Emotionen im Laufe der Zeit ganz grundlegend ändern können. Eine Annährung im Sinn des analogen Fühlens ist denkbar, aber nicht die Zeitreise in das Herz und in den Kopf der Menschen in längst vergangenen Zeiten. Wir als Menschen der Jetztzeit teilen nicht den „Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont“ jener Menschen, um hier prägnante historische Kategorien von Reinhart Koselleck aufzugreifen.39 Um auf das Beispiel des Heimwehs zurückzukommen: Aus unserem heutigen Verständnis von Heimweh fehlt uns zum Mitfühlen ein Verständnis davon, dass Heimweh im 17. und 18. Jahrhundert als Krankheit für den Tod zahlreicher Söldner verantwortlich gemacht wurde. Wie könnten wir die Entscheidung eines führenden Offiziers nachvollziehen, seine Soldaten bei den ersten Anzeichen von Heimweh unverzüglich nach Hause zu schicken?

Historisches Lernen als Alteritätserfahrung

Es gibt einen zweiten dezidiert geschichtsdidaktischen Einwand gegen das Nachfühlen historischer Emotionen. Historisches Lernen ist diesem Einwand zufolge die Erfahrung des zeitlich, kulturell und geografisch Anderen, des Fremden, es ist eine Alteritätserfahrung. Die Aufforderung, etwas nachzuerleben, nachzufühlen, was Menschen in der Vergangenheit gedacht und gefühlt haben, baut jedoch auf die Illusion des Gleichartigen, der Identitätserfahrung. Wenn die Besucher_innen im Asisi-Panorama den erhöhten Blick über die Mauer haben, begeben sie sich in die Perspektive der Westberliner_innen im Jahr 1980. Doch ihr Blick auf die grauen Wohnblöcke Ost-Berlins heute ist weit weniger von bangen Fragen begleitet als derjenige der Zeitgenoss_innen. Damals lag in dem Blick über die Mauer vielleicht die Sorge um geliebte Angehörige, die Hoffnung darauf, einen Blick auf sie erhaschen zu können, oder einfach nur die Erleichterung darüber, auf dieser Seite der Mauer zu stehen. Den Besucher_innen heute wird vorgespielt, dass sie das sehen könnten, was die Menschen damals von solchen Beobachtungsposten aus sahen; oberflächlich mag das vielleicht stimmen, aber die Bedeutungen, Gedanken und Gefühle, die dem Sehen unterlegt sind oder mit ihm einhergehen, unterscheiden sich zwischen damals und heute.

Wilhelm Dilthey legte trotz solcher Einschränkungen, die mit der „Gefühlsmethode“ des historischen Verstehens verbunden sind, dennoch eine wichtige Spur für die Verortung von Emotionen in Lehr-Lern-Prozessen, in dem es um geisteswissenschaftliche Themen geht, nämlich die der „seelischen Struktur“ von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erinnerung und Gedenken. Nimmt man ernst, dass geisteswissenschaftliche Fächer in unserer Lebenswelt vom hermeneutischen Verstehen abhängen, müssen Emotionen zwangsläufig eine zentrale Bedeutung in der Begegnung mit Geschichte und damit dem historischen Lernen zuerkannt werden.

Gefühle blockieren die Auseinandersetzung mit Geschichte

Das Fühlen ist jedoch nicht ein automatischer Erfolgsfaktor für eine intensive und nachhaltige Begegnung mit Geschichte. Es kann auch blockierend wirken. Das zeigen die Herausforderungen an heutigen Gedenk- und Erinnerungsstätten. Lernende kommen an diese Orte und versuchen, den im entsprechenden Kontext erwarteten Emotionen zu entsprechen, eine ‚Choreografie der Emotionen nachzutanzen‘, wie Gedenkstättenpädagog_innen beobachten.40 Auffallend ist das vor allem bei Themen aus der Diktatur- und Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Betroffenheit, Empathie, Mitgefühl oder Trauer gehören zu der emotionalen Melange, die das gesellschaftspolitische Gedenken und Erinnern an die Opfer einfordert. Den Lernenden kann aber genau das fremd sein; vielleicht würden sie sich diesen Themen lieber mit Neugierde, Wut oder vielleicht auch emotional distanziert nähern. Im Sinne des emotionalen Lernens ist es wichtig, auch diese Gefühle zuzulassen und didaktisch aufzufangen und nicht von vornherein gesellschaftlich normiertes Fühlen zu erwarten; denn gerade solche an sie gerichteten Erwartungen können bei die Lernenden emotional überfordern und zu Abwehrreaktionen führen.

3.3.3Emotionalisierungen

Emotionalisierung erfolgt, wenn Emotionen der Objekt- und der Subjektebene miteinander vermischt werden

Das oben hergeleitete Verständnis von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene verdeutlicht die Unterschiede und Grenzen zwischen diesen beiden Ebenen. In der konkreten Praxis aber bleiben Emotionen nicht jeweils auf ihrer Subjekt- oder Objektebene und damit voneinander unterscheidbar, wie der Hinweis auf das gesellschaftlich normierte Fühlen bereits verdeutlicht hat. Auch die Erlebnisangebote zur Geschichte versprechen ihren Besucher_innen das Nachempfinden vergangener Gefühle.41 In diesen Fällen, in denen die Emotionen von Menschen früherer Zeiten durch einen gezielten Einsatz von Medien und die Wahl entsprechender Narrative und Verhaltensaufforderungen wiedererlebbar gemacht werden sollen, kann man von Emotionalisierung sprechen. Spezifisch für Emotionalisierung ist, dass die Emotionen auf der Objektebene mit denen auf der Subjektebene vermischt werden und keine klare Trennung mehr möglich ist.

Emotionalisierungsstrategien analysieren

Die Aufgabe einer kritischen Public History ist es, einerseits die Strategien der Emotionalisierung zu erkennen und ein Bewusstsein dafür herzustellen, dass dieses Abzielen auf besondere emotionale Reaktionen (im Sinne des Nachfühlens) problematisch ist. Andererseits sollte darüber nachgedacht werden, an welcher Stelle Emotionen zielführend und produktiv in der Begegnung mit Geschichte wirken können. Dafür braucht es ein Instrumentarium, mithilfe dessen die Praktiken und Strategien der Emotionalisierung möglichst umfassend beschrieben und in Hinblick auf ihre Wirkung analysiert werden können. Insbesondere gilt es dabei in den Blick zu nehmen, wie die konstatierte Vermischung von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene zustande kommt. Als Kategorien der Analyse bieten sich dafür an: Visualisierung, Narrativierung, Authentifizierung, Dramatisierung und Personalisierung.42 An jede dieser einzelnen Kategorien lassen sich erstens Fragen in Bezug auf Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene stellen. Zweitens geht es dann darum herauszustellen, wie diese beiden Ebenen durch die jeweiligen Praktiken konkret miteinander verbunden werden.

Visualisierung

Hinsichtlich des Asisi-Panoramas liegt es zunächst auf der Hand, die Mittel der Visualisierung genauer zu untersuchen: Was genau stellt das Panorama dar, in welchen Perspektiven, mit welchen visuellen Mitteln wird die Bildaussage unterstützt? Welche Mal- und Darstellungstechniken benutzte der Künstler, was war seine Absicht dabei, genau diesen Blick auf die Mauer darzustellen, was die intendierte Botschaft? Sinnvoll ist auch immer die Frage danach, was nicht zu sehen ist, wie in dem Mauer-Panorama die Menschen, die in Ost-Berlin lebten. Worauf verweist diese Darstellungsperspektive?

Narrativierung durch Authentizität

Die Narrativierung findet für das Geschichtspanorama vor allem in der Bewerbung statt. Die Webseite preist das emotionale Erleben dieser „perfekten Illusion“ an. „Erleben Sie den Alltag im Schatten der Berliner Mauer in einem einzigartigen Panorama“, heißt es dort, und weiter: „Sie erleben auf beeindruckende und einmalige Weise, wie alltäglich und zugleich grausam das Leben im Schatten der Mauer war“.43 Zusätzlich gibt es dem eigentlichen Panorama vorgelagert einen Raum, der zum einen die Entstehung des Panoramas und die Geschichte von Yadegar Asisi erzählt und zum anderen zahlreiche zeithistorische Fotos der Berliner Mauer zeigt und kommentiert. Mit diesen Informationen und historischen Bildern im Kopf wird den Besucher_innen eine Deutung der Geschichte mit auf dem Weg gegeben, mit der sie das Mauer-Panorama ansehen. Nicht zu vernachlässigen ist das gesamte Erlebnisensemble am Checkpoint Charlie, die Darsteller in ihren US-Army-Uniformen vor dem Grenzhäuschen, die Schilder, die die ehemalige Sektorengrenze markieren. Die Narrativierung zielt insbesondere auf eine besonders starke emotionale Grundierung der Geschichtsbegegnung. Daraus macht der Künstler selbst keinen Hehl und dafür nutzt er die „perfekte Illusion“, die das Medium Panorama ermöglicht. Das „grausame Leben im Schatten der Mauer“ soll nachfühlbar sein, die Besucher_innen sollen mit dem Gefühl nach Hause gehen, wirklich im Jahr 1980 an der Mauer gestanden zu haben.44 Das lässt ihnen kaum mehr die Möglichkeit eigener Sinnbildung oder subjektiven Fühlens, das vielleicht weniger von der intendierten Botschaft vom „grausamen Leben“ beeinflusst ist, sondern vielmehr von der Einsicht, dass auch das alternative Leben in den besetzten Häusern im Schatten der Mauer nicht sonderlich bunt oder aufregend war.

Die begleitende Ausstellung mit der Lebensgeschichte des Künstlers, der selbst zu der Zeit in Kreuzberg wohnte und in dem Panorama seine eigenen visuellen Erinnerungen verarbeitet hat, authentifiziert das Panorama. Die gezeigten Fotos belegen das gezeigte Narrativ. Eine weitere Authentifizierung erfolgt mit einer konkreten Ortsbenennung. Die Besucher_innen blicken von der Sebastianstraße in Berlin-Kreuzberg auf die Mauer. Der Künstler zeigt das alternative Leben der Punks in dem bekannten Szene-Club SO 36, der bis heute existiert.

Dramatisierung durch Licht und Ton

Für die entsprechende Dramatisierung setzte der Künstler auf eine „diffuse[ ] Lichtstimmung“,45 die den Eindruck eines grauen Novembertags unterstützen soll. Die Besucher_innen sind in dem abgedunkelten Raum dem bunten Treiben und dem Straßenlärm am Checkpoint Charlie völlig entrückt. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf das gelenkt, was sichtbar gemacht ist, das Panorama. Auch akustisch setzt der Künstler auf eine Dramatisierung durch eine von ihm selbst und Eric Babak komponierte und arrangierte, klassisch anmutende Begleitmusik. Durch den langsamen, getragenen Rhythmus sowie den Einsatz überwiegend tiefer Streichinstrumente erinnert die Musik an ein Requiem. Überlagert wird sie von der grellen und im Gegensatz zur Musik lautstarken Wiedergabe von originalen Tondokumenten aus der Zeit des geteilten Berlins. Zu hören sind beispielsweise Auszüge aus Reden von Walter Ulbricht und Erich Honecker. Interessanterweise stammen diese Tondokumente eben nicht aus dem Jahr 1980. An dieser Stelle wird die Illusion nicht konsequent umgesetzt. Dennoch gehören die geradezu ikonischen Soundquellen in das Gesamtensemble der Inszenierung, denn sie knüpfen an bei den Besucher_innen mutmaßlich vorhandene geschichtskulturelle Erwartungen an und stehen somit überzeugend für ein pastness-Gefühl (vgl. Kap. 11 Rezeption).

Personalisierung

Die Strategie der Personalisierung findet sich in der sehr detailgetreuen Darstellung der Menschen, die auf einem Holzpodest stehen (ähnlich jenem, auf dem die Panorama-Besucher_innen selbst stehen), um einen Blick über die Mauer zu werfen. Zu sehen sind Kleinkinder mit ihren Eltern, weißhaarige Rentner_innen und Jugendliche. Somit ist das Angebot zur Identifikation mit den neugierigen Menschen des Jahres 1980 breit.

Zusammenfassend ist herauszustellen, dass Emotionen im Hinblick auf die skizzierten Erlebnisversprechen der Public History in zweifacher Hinsicht eine Schlüsselfunktion haben: Einerseits bieten entsprechende Geschichtsdarstellungen über die Thematisierung der Gefühle früherer Menschen einen anscheinend niedrigschwelligen Zugang zur Geschichte an. Hier können Emotionen Objekte der Darstellung und Vermittlung von Geschichte sein. Andererseits geht es um die positive emotionale Mobilisierung der Rezipient_innen. Dabei finden Emotionalisierungsstrategien Anwendung, die häufig die Unterschiede zwischen Emotionen auf der Objekt- und jenen auf der Subjektebene verwischen. So zielen die Darstellungsstrategien im Asisi-Panorama auf eine Illusion, die es den Besucher_innen erlauben soll, komplett in den Novembertag 1980 an der Berliner Mauer einzutauchen, um Geschichte mit allen Sinnen zu fühlen und damit vermeintlich auch zu erleben (vgl. Infobox Immersion in Kap. 5.3). Die Frage ist, welche Chance die Besucher_innen haben, aus dieser Illusion in ihre Gegenwart zurückzukommen, sich selbst zu diesem Erleben von Geschichte in Beziehung zu setzen, selbst zu fühlen, was sie daraus für sich mitnehmen, was diese Begegnung mit Geschichte für sie bedeutet.

 

Emotionale Überwältigung und der Beutelsbacher Konsens

Diese Ambivalenz der Emotionen ist mittlerweile Thema zahlreicher Tagungen oder Vernetzungstreffen, auf denen Akteur_innen der Public History offensiv die Bedeutung von Emotionen in der Begegnung vor allem mit der deutschen Diktaturgeschichte diskutieren.46 Insbesondere die Frage nach emotionaler Überwältigung und ihrer Zulässigkeit steht dabei zur Diskussion. Denn während einerseits das Bedürfnis in Museen, Gedenkstätten und sonstigen Orten der Geschichtsvermittlung groß ist, Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken, wird andererseits immer wieder auf die Gefahr einer zu starken Emotionalisierung hingewiesen. Im Rahmen dieser Diskussion rückt der mittlerweile über 40-jährige Beutelsbacher Konsens in den Mittelpunkt des Interesses. Die Grundsätze dieses Konsenses wurden 1976 ursprünglich für die politische Bildung formuliert. Auch wenn er als Minimalkonsens galt, sollte mit den Prinzipien Kontroversität, Schüler_innenorientierung und Überwältigungsverbot eine politische Indoktrination der Lernenden wirkungsvoll verhindert werden. Interessanterweise erhielt dabei das Überwältigungsverbot im Kontext der Diskussion um Gedenkstättenarbeit eine zusätzliche Bedeutungsebene. Ursprünglich zielte es auf die Verwerfung solcher Formen oder Methoden der Vermittlung, die dazu geeignet schienen, „den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern“.47 Mittlerweile geht es hingegen nicht mehr vorrangig um ein argumentatives Überwältigen, sondern vor allem um eine emotionale Überwältigung.48

Grenzen zwischen Emotionalisierung und emotionaler Überwältigung

Aus der obigen Theoretisierung von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene ergeben sich klare Grenzen zwischen Emotionalisierung und emotionaler Überwältigung. Emotionalisierung ist die Mobilisierung der subjektiven Emotion der Rezipient_innen; die Emotionen verbleiben jeweils auf der Objekt- bzw. auf der Subjektebene, ohne sich zu vermischen. Das heißt, im Asisi-Panorama ist zwar die Normalität des Schreckens der Mauer dargestellt, die Besucher_innen von heute dürfen diesem „Grauen“ im Schatten der Mauer mit ihrer eigenen Neugierde oder Skepsis, vielleicht sogar Ablehnung oder auch Wut darüber begegnen, dass so etwas möglich war. Eine emotionale Überwältigung aber findet dann statt, wenn historische Emotionen heute nachgefühlt werden sollten, d. h. die Objektebene verlassen und auf die Beeinflussung individuellen Fühlens abzielen.

3.4Ein Plädoyer für Emotionen in der Public History

Emotionalisierungsstrategien transparent gestalten

Auf der Grundlage vorliegender Überlegungen ergeben sich zwei entscheidende Einwände gegen die emotionale Überwältigung: Erstens können historische Emotionen schon deshalb nicht nachgefühlt werden, weil sie sich im Laufe der Zeit verändern. Die Menschen der Jetztzeit wissen, dass die Mauer seit 30 Jahren nicht mehr existiert, dass die bewaffneten Grenzsoldaten niemandem mehr gefährlich werden können. Heutige Besucher_innen können, wann immer sie wollen, das Panorama verlassen und sich ganz dem Großstadttrubel am Checkpoint Charlie hingeben. Der zweite Einwand resultiert aus geschichtsdidaktischen Überlegungen. Die Begegnung mit der Vergangenheit kann dann identitätsbildend und handlungsorientiert sein, wenn sie das individuelle Erinnern und eigene Erfahrungen mit der und über die Zeit aufgreift und nicht schlichtweg nachzubilden versucht. Dies verweist noch einmal zurück auf die grundsätzliche Einsicht, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte vielmehr eine Alteritäts- denn eine Identitätserfahrung ist. Vergangenheiten waren eben grundsätzlich anders als unsere Gegenwart, auch wenn sie im Geschichtserlebnis als vertraut und ähnlich präsentiert werden. Das bedeutet, dass die über Emotionen vermittelte Begegnung mit Geschichte durchaus sinnvolle Anreize schaffen kann, aber nur dann, wenn die Emotionen ganz klar auf der Objektebene bleiben und es den Menschen der heutigen Zeit möglich bleibt, (auf der Subjektebene) ihre eigenen, durchaus sehr unterschiedlichen Emotionen zu haben und zu thematisieren. Das bedeutet für öffentliche Präsentationen von Geschichte, dass die Strategien der Emotionalisierung transparent sein und dass mehrere verschiedene Narrative angeboten werden sollten. Diese ermöglichen es, visuelle und akustische Dramatisierungseffekte am Ende des Geschichtserlebnisses aufzulösen, und entlassen die Besucher_innen in die je eigene Gegenwart mit (emotionalen) Impulsen zum Weiterdenken.

Einführende Literatur

Brauer, Juliane: ‚Heiße Geschichte‘? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, in: Sarah Willner u. a. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016, S. 29–44.

Brauer, Juliane/Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: dies. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11–26.

Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35/2 (2009), S. 183–209.

Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.

1 Hans-Werner Marquardt: Geschichte fühlen statt lesen, in: BZ, 10.8.2012, https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/geschichte-fuehlen-statt-lesen, letzter Zugriff: 15.1.2021.

2 Damit knüpft es an das Panorama des 19. Jahrhunderts als eine populäre Darstellungsform von Geschichte an. Siehe Bernhard Comment: Das Panorama. Die Geschichte einer vergessenen Kunstform, Berlin 2000.

3 Ernst Elitz: Touristenhölle mitten in Berlin, in: Cicero, 9.8.2018, https://www.cicero.de/kultur/Checkpoint-Charlie-Berlin-Tourismus-BlackBox-Kalter-Krieg, letzter Zugriff: 15.1.2021.

4 Aristoteles zit. n. Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 23.

5 Ebd., S. 22.

6 Ebd., S. 16 f.

7 Plamper: Geschichte und Gefühl; Rob Boddice: History of Emotion, Manchester 2018.

8 Gemäß dem Vorschlag von Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 22.

9 Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Hamburg 2019.

10 Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2020.

11 Imke Rajamani: Angry Young Men. Masculinity, Citizenship and Virtuous Emotions in Popular Indian Cinema, Berlin 2016.

12 Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a.M. 2017.

13 Martina Kessel: Gewalt und Gelächter. ‚Deutschsein‘ 1914–1945, Stuttgart 2019.

14 Lucien Febvre: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, in: ders.: Das Gewissen des Historikers, Frankfurt a.M. 1990, S. 91–108, hier S. 93.

15 H. K.: Die Stimmung in Freiburg, in: Freiburger Zeitung, 1.8.1914, S. 3.