Loe raamatut: «Es war ein reiches Leben», lehekülg 3

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Diese Liste von Missetaten war uns beiden wirklich zu viel, sogar erdrückend. Wir waren, meinten wir, derart feine Jungen, indem wir alle unsere Schuld bekannten, dass wir gleich vor Mitleid mit uns selbst laut weinten.

Vater war sichtlich bewegt, aber doch recht besorgt: „Habt ihr jemanden überfahren oder sonst Schaden angerichtet?“, fragte er fast ängstlich. Er meinte offenbar, dass irgendeine Geschichte mit der Polizei herauskommen würde.

„Nein, Vater, das Auto ist vollkommen in Ordnung: Wir haben das alles vor bald drei Wochen ausprobiert, und du hast seitdem das Auto gefahren. Alles ist in bester Ordnung, die Batterie ist sogar besser geladen als sonst.“

Vater spielte nachdenklich mit seiner Reitpeitsche herum. Die Gefahr für uns war noch nicht gebannt.

„Was sollte eure Strafe sein?“, fragte er nach einer Weile, währenddessen wir vor Ehrlichkeit, Selbstmitleid und Schuld weiter schluchzten.

„Gib uns die gebührende Strafe, Vater, dann ist die Sache einigermaßen wieder gut.“

Wir hatten die Hosen nicht mit Zeitungspapier ausgestopft, um eine Stoßdämpferwirkung zwischen Peitsche und Po zu bewerkstelligen. Diese Tricks, die unter Jungen damals sehr bekannt waren, wagten wir bei Vater nicht – er konnte ja einen weiteren, für uns kostspieligen Wutanfall bekommen, wenn er einen solchen unverschämten Trick entdeckte! Am etwas dumpfen Laut der Peitsche konnten die Sachverständigen die inneren Geheimnisse zwischen Po und Hosen erkennen. Es wäre einfach zu riskant gewesen. So übten wir unser detailliertes technisches Wissen auf diesem Gebiet nicht aus.

e) Der gerechte, aber liebe Vater

So bereiteten wir uns also auf die Strafe vor. Wir holten einen Stuhl herbei, damit man sich gebührend darüber bücken konnte, während die sechs Hiebe mit der Reitpeitsche verabreicht wurden. Dann hieß es: „Bücke dich über den Stuhl!“ Aber merkwürdigerweise geschah nichts dergleichen. Man war auf den ersten Schock vorbereitet, aber er kam nicht. Vater, Peitsche in der Hand, zögerte immer noch. Wir wollten es schnell hinter uns haben, Vater aber nicht.

„Nein“, sagte er endlich (ich stand oder kauerte gebückt vor dem Stuhl), „das mache ich nicht, es wäre verkehrt. Ihr seid freiwillig ehrlich geworden (ausnahmsweise offenbar). Ich ahnte von alledem nichts. Ich wusste wegen eures Verhaltens, dass irgendetwas nicht stimmte; das aber vermutete ich nicht. Ich strafe euch nicht, weil ihr ehrlich wart und alles gebeichtet habt! Es wäre falsch, euch als Folge eurer Ehrlichkeit bestrafen zu wollen. Ist das wirklich alles? Habt ihr nichts mehr auf dem Gewissen?“

„Nur, dass wir dein Benzin, dein Öl und deine Reifen vergeudet haben. Nichts mehr.“

„Dann steht auf!“

Er gab jedem von uns einen Kuss (was er sehr, sehr selten tat, nur bei ganz besonderen Anlässen kam das vor) und erklärte, die Sache sei erledigt, er wolle nichts mehr davon hören.

Kann man sich vorstellen, wie beschämt und gleichzeitig dankbar wir waren? Wie haben wir unseren Vater respektiert und geliebt, dass er so gerecht war! Obwohl etwas Scham vor ihm geblieben war, war der Bann der bösen Atmosphäre im Raum gebrochen. Wir konnten Vater wieder in die Augen schauen – und er uns. Am Tisch hatten wir wiederum Appetit, wie es sich bei Jungen gebührt. Als Vater wiederum auf die Jagd ging, konnten wir ihn wieder begleiten. Und abends war alles wieder harmonisch und normal. Er spielte mit uns Dame nach englischer Art, baute seine „Hühnerfallen“ und legte uns tüchtig herein – früh lernten wir also an praktischen Beispielen, dass Schuld und Sünde geistig und geistlich trennen und dass Vergebung diese Trennung heilt. Später lernten mein Bruder und ich, dass das gleiche Prinzip zwischen Gott und uns gilt. Schuld und Übertretung der guten Gesetze Gottes trennen uns und schließen uns aus Seiner Gemeinschaft aus, genauso wie Schuld und Übertretung der Gesetze, die Vater mit Recht aufgerichtet hatte, uns von Vaters Gemeinschaft ausschlossen. Aber Vergebung nach einer echten Beichte entfernt diese Entfremdung. So lernten wir früh die Prinzipien hinter der Frohen Botschaft – obwohl wir erst später diese Botschaft persönlich kennenlernten –, nämlich dass ein „In-sich-gehen“, ein „Sich-selbst-ehrlich-prüfen“ und ein Bekennen mit der Absicht, die Ursache der Trennung gründlich zu hinterfragen, die erste Stufe zur Versöhnung mit einem gerechten, aber auch liebenden Gott darstellt.

Ich glaube, dass, wenn wir in späteren Jahren über diese Begebenheit mit Vater gesprochen hätten, er sich nicht mehr daran erinnert hätte. Vergeben war für ihn auch vergessen. Sonst besaß Vater ein gutes Gedächtnis – solange eine Übertretung nicht ins Reine gebracht worden war!

2. Das Zeitalter der Öllampen ist vorbei!

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist das Putzen von angeschwärzten Öllampengläsern. Bis zum Jahr 1921 hatten viele Dörfer in England kein Elektrizitätsnetz, deshalb brauchte man Kerosinlampen. Für die großen Zimmer verwendete man Öllampen. Diese Lampen gaben ein schönes weißes Licht, bei dem man gut lesen konnte. Die gewöhnlichen Öllampen besaßen einen langen Docht aus Stoff, der ins Kerosin getaucht und oben angezündet wurde. Eine Schraube regulierte die Größe der Flamme. Solche Lampen entwickelten ein etwas gelbes Licht und durch Rauchentwicklung wurden ihre „Glasschornsteine“ schmutzig und schwarz. Jeden Samstag wurden alle Lampen und ihre Glasschornsteine geputzt, was viel Arbeit bedeutete. Die Lampen hatten den Nachteil, dass sie immer sehr nach Kerosin rochen.

Mein Vater entschied im Jahre 1921, dass Elektrizität auf dem Gut und im Hause viel Arbeit sparen würde und auch nicht viel teurer käme als die Ölwirtschaft mit der ständigen Gefahr des Brandes im alten Farmhaus. Es existierte damals fast kein öffentliches Elektrizitätsnetz im Lande – die Städte besaßen Strom, wir auf dem Land nicht. Vater kannte den Chefelektriker des großen Krankenhauses, Mr. Philips, das einen eigenen Generator besaß. Im gleichen Krankenhaus arbeitete ein Zimmermann, Mr. Cox, der bei der Installation des Generators geholfen hatte. Mr. Cox war spindeldünn und witzig. Mr. Philips war dick, trug einen großen Schnurrbart und war introvertiert. Vater kaufte die ganze elektrische Anlage und richtete alles in einem umgebauten Stall ein.

Ich war gerade sechs Jahre alt geworden und interessierte mich für all diese elektrischen Arbeiten. Ich beobachtete, wie Mr. Philips und Mr. Cox die großen Akkumulatoren auf Holzbänken einrichteten. Dann verdrahteten sie das Haus und das Gut mit Bleikabeln. Es faszinierte uns kleine Jungen, wie die Birnen im Generatorhaus bei der Einfüllung von Schwefelsäure in die Batterien sofort aufglühten. Die Zähler auf dem sehr großen Armaturenbrett in einem getrennten Haus zeigten sofort 110 Volt an.

Als ich acht oder neun Jahre alt war, übergab mir mein Vater die Wartungsaufsicht dieser ganzen Anlage. Jede Woche wurden die Batterien neu aufgeladen. Ich lernte den großen Ölmotor zu bewältigen, obwohl ich nur ein Kind war. Zum Anlassen verwendete ich Mr. Philips‘ Methode, ich stand auf einem Schwungrad (mein Gewicht war leider nicht das von Mr. Philips) und drehte so den Motor rückwärts. Dann reichte ich mit dem linken Arm zum Einlassventil, um im entscheidenden Augenblick Kerosin einzulassen. Im Bruchteil einer Sekunde musste man vom Schwungrad herunterspringen, sonst hätte man eine raketenähnliche Reise zum Mond angetreten, und zwar durch das Dach des Motorenraumes! In späteren Jahren bauten mein Bruder und ich ein elektrisches Zündungssystem ein.

Wir benutzten dann Benzin, um den Motor anzulassen. Nach einigen Minuten war der Motor warm genug, und man konnte auf Kerosin umschalten. Auf diese Weise vermieden wir die Explosionen im Auspufftopf, die durch das Auskühlen des Ballons verursacht wurden.

Diese Tätigkeit als Chef der elektrischen Anlage auf dem Gut übte ich aus, bis mein Bruder und ich ins Internat gingen. Als ich später in Oxford und in Reading Student war, übernahm ich diese Arbeit wieder. Man lernt allerlei Praktisches bei einer solchen Beschäftigung. Mein Bruder und ich hatten alle beide einen Hang zum Ingenieurwesen und neben der elektrischen Anlage bastelten wir viel an Autos herum. Wahrscheinlich hing diese Liebe zum Maschinenwesen mit Mutters Familie zusammen.

Kapitel IV
INTERNAT

1. Das Internat

Zwischen 1922 und 1930 besuchten Walter und ich die Schule in Wallingford. Wir fuhren jeden Tag mit einer Kleinbahn dorthin. Andere Jungen von den umliegenden Ortschaften nahmen den gleichen Zug, sodass die Bahnfahrt eine fröhliche Gemeinschaftsfahrt wurde. Aber meine Mutter, die Lehrerin war, war vom Standard der Lehrerschaft dort in Wallingford nicht so sehr begeistert. Ich galt in Wallingford zum Beispiel als zu dumm, um Latein zu studieren, und musste deshalb Buchführung lernen. Mutter probierte mit mir Latein aus. Offenbar glaubte sie den Schulberichten und Zeugnissen nicht. Das Gleiche galt für Mathematik und Chemie. Mein Bruder und ich galten in der Schule als hoffnungslose Fälle, aber bei Mutter lernten wir offenbar ganz gut.

Vater und Mutter besprachen die Lage und überlegten, ob ein Internat die Lösung wäre. Mutter war der Meinung, dass der Direktor der Schule in Wallingford kein Mensch war, der Kinder unter sich haben sollte. Denn er wurde sehr leicht wütend und bezeichnete uns regelmäßig als unaussprechliche Affen, statt seine Lehrertätigkeit auszuüben. Wir hatten noch dazu einen dünnen, mageren, chronisch schlecht gelaunten Chemielehrer namens Hyslop. Er trug eine Pincenez-Brille, sah sehr asketisch und auch furchterregend aus. Neben Chemie lehrte er uns Physik. Nach einem Jahr seines Unterrichts hatte ich schier nichts gelernt. Meine Noten in seinen Fächern waren schlecht und die meines Bruders noch schlechter. Wir verstanden den Mann einfach nicht.

a) Mutters Gespräch mit dem Lehrer

Meine Mutter suchte eines Abends Mr. Hyslop auf und fragte ihn nach meinem Können. Der Lehrer gab einen positiven Bericht über mich: Ich sei immer höflich, aufmerksam, entgegenkommend und so weiter und so weiter.

„Warum schneidet denn mein Sohn in den Prüfungen so schlecht ab?“, fragte meine Mutter, die Lehrerin, den Lehrer.

„Das ist ein Mysterium“, antwortete er, es sei ihm unerklärlich.

Das war meiner Mutter zu viel. Sie kündigte der Schule – es handelte sich um eine Privatschule; der Staat hatte damals im Schulwesen noch kein Monopol. Sie entgegnete ihm, er und der Direktor seien offenbar untauglich. So viele Schüler seien von der Schule bereits gegangen. Mein Vater war mit Mutters Entscheidung einverstanden; denn man musste auch für die Schule Schulgeld bezahlen. Vater war der Meinung, wenn für das Schulgeld zu wenig geliefert wurde, sollte man kündigen. Was die Kinder in der frühen Jugend verpassen, könnten sie später kaum mehr einholen. Man lernt am schnellsten und am gründlichsten vor und in den Pubertätsjahren. John und Charles Wesley konnten mit zwölf Jahren zur Universität Oxford gehen und dort studieren, weil sie schon Latein, Griechisch, etwas Hebräisch und Französisch konnten. Sie hatten all das von ihrer Mutter gelernt. Dass die heutige Jugend mit zwölf Jahren nichts oder sehr wenig von Mathematik, Sprachen und Grammatik weiß, liegt nicht allein an den Kindern selbst, sondern wahrscheinlich daran, dass sie an Stimulusüberflutung (zu viel Eindrücke von den Massenmedien, sodass das Informationsspeicherungs- und Wiedergabesystem mit der Informationsflut nicht mehr fertig wird) leiden. Dazu kommt die Tatsache, dass auch die Lehrer an der gleichen Krankheit leiden – zu viel Informationsflut durch die Massenmedien und durch billige, minderwertige Literatur.

„Also“, meinten unsere Eltern, „schicken wir die Kinder auf ein Internat. Die Mädchen hatten auf einem Mädcheninternat mit guten Resultaten abgeschlossen. Lasst uns die Jungen auf ein Internat schicken, sonst werden sie nichts lernen und ihr Leben lang darunter leiden.“

Im Internat müssen die Schüler um 21.00 Uhr ins Bett gehen, um 7.00 Uhr morgens aufstehen, sich kalt waschen, im Sommer und Winter bei offenem Fenster schlafen. Gute Umgangsformen werden ihnen auch beigebracht. Die Lehrer werden mit „Sir“ angeredet und die Lehrerinnen mit „Ma’am“ (Madame). Man geht vor einem Lehrer oder vor einem Mädchen nicht zuerst durch eine Tür. Und das schwächere Geschlecht gilt als unantastbar. Die meisten englischen Jungen und Mädchen aus besserer Familie gehen mit zwölf bis 13 Jahren auf ein solches Internat (Public School), das übrigens sehr privat und gar nicht „public“ ist.

b) Taunton School

So wurde beschlossen, dass wir Taunton School in Somerset, Westengland, besuchen sollten. Taunton School ist eine Privatschule mit Internat, die damals etwa 700 Jungen aller Altersgruppen von drei bis achtzehn Jahren unterbrachte. Die ganz kleinen Kinder wurden in einem Extra-Haus namens „Thone“ gepflegt. Warum gingen die Kinder so jung ins Internat? Der Grund war, dass England damals ein großes Kolonialreich war, das mit „Führungskräften“ versehen sein musste. Das Klima in diesen Teilen dieses Kolonialreiches war für Kinder ganz ungeeignet, sodass die Kinder in diesen Teilen der Erde nicht aufwachsen konnten. Oft gab es in solchen Kolonialgebieten überhaupt keine Schulen, die auf die englischen Colleges und Universitäten vorbereiteten. Die Beamten des englischen Kolonialreiches waren also auf Internate wie Taunton School, besonders auf Thone Junior School für die Drei- bis Neunjährigen, angewiesen. Es war oft ergreifend, zu beobachten, wie diese Kinder, drei Jahre und darüber, Sonntag für Sonntag hinter den größeren Jungen zur Kirche marschierten. Meist wurden sie in kleinen Gruppen von fünf bis zehn Jungen von einer älteren Lehrerin an der Hand geführt. Noch ergreifender waren die Szenen, die sich so oft wiederholten, wenn die Eltern drei bis fünf Jahre lang wegfahren mussten. Man konnte damals nicht in ein paar Stunden nach Indien fliegen und dann zum freien Wochenende – mitten in jedem Trimester gab es ein solches freies Wochenende – die Kinder besuchen. Während dieses Wochenendes durften die Eltern, die in der Nähe wohnten, ihre Kinder besuchen oder sie nach Hause nehmen. Die ganz kleinen Kinder kannten ihre Eltern gar nicht mehr, wenn diese sie nach drei bis fünf Jahren besuchen kamen …

Mütter standen dann vor ihren eigenen Kindern, die keine Ahnung hatten, wer oder was Eltern waren. Dort haben mein Bruder und ich gelernt, was es bedeutet, eine Familie und Vater und Mutter hinter sich zu wissen. Die „Thone-Kinder“ konnte man immer erkennen, wenn sie später durch die „Middle-“ und „Senior-School“ gingen. Es war irgendwie auf ihren Gesichtern geschrieben: „Ich bin ein unterprivilegiertes Kind; ich kenne keine Familie.“ Als unsere eigenen Kinder in die Pubertät kamen, standen wir vor ähnlichen Problemen. In der Schweiz durften sie nicht Medizin studieren; als Ausländer konnten sie kein schweizerisches medizinisches Diplom erwerben, nur ein Fakultätsdiplom, das sie weder in der Schweiz noch im Ausland zu irgendeiner medizinischen Praxis berechtigt hätte. Deshalb entschieden wir uns, sie alle, auch unsere Tochter, mit 13 oder 14 Jahren nach England in ein Internat zu senden. Wenn sie bis zum Pubertätsalter in ihrer eigenen Familie erzogen worden sind, lernen sie im Internat Vater und Mutter und die Familie mehr schätzen, als wenn sie nie von der Familie fort waren. Die meisten europäischen Kinder können es mit 16 oder 17 Jahren kaum erwarten, bis sie von zu Hause wegziehen und ein eigenes Zimmer bekommen. Unsere Kinder hängen viel mehr an ihrem Zuhause. Sie kommen gern wieder nach Hause, um wieder „Kind“ sein zu dürfen, obwohl sie alle längst Herr Doktor bzw. Frau Doktor sind.

Im heutigen Internat, so wie unsere Kinder ihre Internate kennen lernten, ist die Situation ähnlich wie damals vor 50 Jahren, als ich im Internat war – aber aus ganz anderen Gründen. In jedem Internat findet man heute noch Kinder, die „unterprivilegiert“ sind, weil sie keine Familie mit Vater und Mutter kennen. Nicht aber, weil England ein Kolonialreich ist, sondern weil England ein Land für Ehescheidungen geworden ist. Im Internat findet man die Kinder aus geschiedenen Ehen. Vater und Mutter können sich nicht mehr vertragen, haben zwei oder mehr Kinder. Was soll mit ihnen geschehen, die jetzt nicht mehr erwünscht sind? Das Zuhause wurde vor der Nase der armen Kinder aufgelöst. Kein Zuhause ist mehr vorhanden, von wo aus die Kinder zur Schule gehen können. Man stopft sie deshalb in irgendein Internat zur „Lösung“ des Problems. Das Resultat ist aber gleich, ob die Scheidung oder das Kolonialreich die Ursache ist. Es steht auf den Gesichtern dieser „unterprivilegierten“ Kinder buchstäblich geschrieben: „Ich kenne die Wärme einer Familie, eines Vaters oder einer Mutter, die mich wollen, nicht.“

Wir haben unseren Kindern sehr betont beigebracht, dass man sich solcher armen Kinder annehmen muss und darf. Die meisten Internate führen Doppelzimmer, – wenigstens in den höheren Altersgruppen. Der Senior in einem solchen Zimmer darf seinen Zimmerkameraden wählen. So wählten unsere Kinder oft „unterprivilegierte“ Kinder und zeigten diesen die Familienliebe, luden sie zum Beispiel über Weihnachten zu uns nach Hause ein. Die Sommerferien wurden auch nicht vergessen, denn niemand wollte solche Kinder; sie waren auch oft schwierig, weil sie unter Komplexen verschiedenster Art litten. Solche Kinder sind also zu uns auch über Weihnachten nach Hause gekommen, haben bei uns Skifahren gelernt, sind mit der Familie im Sommer zelten gegangen. Wir kennen durch die Internate eine Menge solcher Kinder, die uns jetzt noch als ihre Eltern ansehen. Einer bat uns in einem Brief förmlich, ob er uns von jetzt an „Dad und Mum“ nennen durfte. Eine Anzahl sind durch diesen Familienersatzdienst bewusste Christen geworden. Einer hat in letzter Zeit den Schritt in die Ehe getan – er fand ein gläubiges Mädchen, und die beiden wollten eine Familie gründen, die das bietet, was sie selbst nie als Kinder erfahren konnten.

2. Das Leben im Internat

Taunton School war ursprünglich eine Schule, die nicht der anglikanischen Staatskirche angehörte. Sie war also mit anderen Worten eine freikirchliche Schule. Wir als Familie hatten mit der anglikanischen Kirche etwas Mühe, sodass Mutter die Meinung vertrat, wir Jungen sollten alle Aspekte des religiösen Lebens, kirchliche und freikirchliche, erfahren.

Einige Lehrer in Taunton waren bewusste Christen, die meisten aber leider nicht. Die Mehrzahl der Jungen kam nicht aus christlichen Häusern. Sie waren damals eher die Söhne höherer Beamter des Britischen Commonwealth, patriotisch stolz, aber leider oft faul. Also, kurz gesagt, Snobismus konnte in solchen Internaten böse Ausmaße annehmen. Heute ist diese Gefahr weniger groß, aber sie ist immer noch vorhanden.

3. Ordnung im alten Internat

In unserem Internat wurde immer sehr darauf geachtet, dass Ordnung herrschte. Man wurde spartanisch erzogen: keine Teppiche, zum Beispiel im Schlafzimmer, nur Betonböden. In den großen Schlafräumen standen oft zwölf oder dreizehn Betten, alle auf dem unbedeckten Betonboden. Die Fenster standen Tag und Nacht offen, auch bei kältestem Frost. Gewaschen wurde sich jeden Morgen kalt. Die Waschzimmer waren ungeheizt. Einmal die Woche gab es unter Aufsicht eines Hausmeisters ein heißes Bad – sechs Badewannen in einem Badezimmer mit Betonboden. Wohl deshalb klagt kein Engländer – das heißt kein echter Engländer – je über Zug in einem Zimmer. In der Eisenbahn sind es nur die „Parvenüs“ oder die Ausländer, die klagen: „Es zieht.“ In englischen Internaten wird man abgehärtet! Eine frische Brise im Schlafzimmer ist gesund – es zieht doch nie! Luft muss man haben, sonst kann man nicht atmen! Deshalb sind die englischen Kamine wohl so gebaut, dass sie „Luftzug“ im Zimmer erzeugen! Die Vorhänge in einem Zimmer müssen durch Windzug direkt wehen, wenn ein echter Engländer glücklich sein soll.

Als mein Bruder und ich das erste Mal ins Internat fuhren, brachten uns Vater und Mutter zum Bahnhof nach Reading. Dort wurden wir in den 10.45 Uhr Expresszug nach Taunton verfrachtet, und fertig war die Operation. Wir wussten gar nicht, was auf uns wartete, kannten die Schule absolut nicht, waren nie in Taunton gewesen. Wir fanden einige Jungen im Zug, die das gleiche Reiseziel hatten. Sie fuhren auch ins Internat. Vom Bahnhof in Taunton wurden wir vom Vizedirektor selbst, Mr. Record, abgeholt, der uns militärisch zusammenstellte, sodass wir gruppenweise – etwa 30–50 Jungen pro Gruppe – ins Internat marschieren mussten. Der Weg betrug vielleicht vier Kilometer, die wir mit Gepäck unter dem Arm hinter uns brachten. Einmal dort angekommen, wurden wir vom Vizedirektor persönlich „sortiert“. Hast du Verwandte hier gehabt? Wie alt bist du? Hast du Geschwister? Bist du jemals vorher in einem Internat gewesen? Was für Krankheiten hast du gehabt? Dann wurden wir einer „Matrone“ – einer älteren Dame – übergeben, die dafür sorgte, dass wir ein Bett für die Nacht bekamen, einen Schrank für unsere Sachen hatten und einen Platz am Tisch fürs Abendessen – ein Butterbrot ohne Belag und eine Tasse einer unbeschreiblichen Mischung, die man „Stingo“ nannte – bekamen.

Einen wichtigen Punkt darf man an dieser Stelle nicht vergessen: Jeder Junge musste eine mit Schloss abschließbare Holzkiste besitzen, in der er seine „Goodies“, Essbares, eingeschlossen aufbewahrte. Diese Kiste war mit einem Hängeschloss und Riegel versehen. Während der Schulpause morgens und mittags durfte er zu seiner Kiste gehen, um etwas Gutes zum Essen zu holen. Diese Kisten gehören zum Internat wie Wasser zum Fischleben. Meine Kinder besitzen ihre Kisten oben im Estrich immer noch. Sie sind Besitztümer, auf die kein Schüler verzichten möchte. Wenn ein Junge die Kiste eines anderen ausraubte, was sehr selten vorkam, war dieses Vergehen wirklich sehr gravierend.

4. Erste Eindrücke im Internat

Nachdem mein Bruder und ich am nächsten Tag den großen Gebäudekomplex des Internats ausgekundschaftet hatten, waren wir nicht sehr beeindruckt, denn draußen bestand fast alles aus Fußballspielplätzen. Spielplätze für Cricket, Hockeyplätze etc., und innen in den Gebäuden sah alles nach Massenlagern aus. Gar nichts Privates war zu finden. Dazu noch gab es allerlei Plätze, die reserviert waren. Die Terrassen vor dem Internat waren nur für Lehrer und Schulsprecher. Alles war sehr elitär – und wir waren nur Neuankömmlinge, die viele Pflichten und wenig Rechte hatten. Man fühlte sich ständig beobachtet, ob man irgendwie dabei war, eine Regel zu übertreten oder nicht. Während wir alles auskundschafteten, kam eine Gruppe von älteren Schülern auf uns zu und sagte mit ganz erster Miene, dass es Pflicht für alle Neuankömmlinge sei, alle Schulsprecher unaufgefordert bei ihren richtigen Namen laut zu grüßen. Wir sagten, wir könnten das nicht tun, denn wir kennten nicht einmal die Namen der Schulsprecher.

„Wir wollen euch helfen“, sagten sie ernst, „der Große dort auf der Terrasse, der mit den leuchtend roten Haaren und den fast weißen modernen Hosen, der ist Hauptschulsprecher der Schule und geht gerade auf der Terrasse auf und ab, was sein Privileg ist. Ihr geht jetzt hinüber zu ihm, wenn ihr Strafe vermeiden wollt, und ruft ihn Leuchtturm als Vorschriftsgruß zu. Dann habt ihr ihn beim Namen gegrüßt, und er wird euch nicht bestrafen dürfen. Aber seine Terrasse ja nicht betreten!“

Nun, wir wussten schon, dass man keinen Lehrer und keinen Schulsprecher mit Spottnamen ansprechen durfte. Und es kam uns merkwürdig vor, dieser Name für einen Rothaarigen! Er ging mit einigen anderen auf der privilegierten Terrasse auf und ab, sodass er Zeugen gehabt hätte, wenn wir von fern „Leuchtturm“ gerufen hätten. So bedankten wir uns sehr höflich für die freundliche Auskunft und sagten, wir würden morgen die amtliche Begrüßung vorschriftsmäßig durchführen, wenn wir ganz sicher seien, dass er wirklich so hieß. So dumm waren mein Bruder und ich nicht. Ein Schmähname wie Leuchtturm als Gruß hätte uns sechs Hiebe mit der Peitsche gekostet, denn der Rothaarige war bekannt als arrogant und humorlos. So lernten die älteren Schüler des Internats die Neuangekommenen kennen und merkten bald, ob sie etwas Grips hatten oder nicht. Wehe dem Jungen, der von Natur aus gutgläubig war, er wurde von den meisten so gehänselt, bis sie es ihm ausgetrieben hatten.

5. Disziplin und Erziehung im alten Stil

Morgens, pünktlich um 7.00 Uhr, wurden wir von einer großen Handglocke draußen auf der Wiese geweckt. Der alte Gärtner ging durch die Häuser und schwang die große Glocke hin und her, sodass jeder (theoretisch) wach wurde. Der Mensch ist aber zur Gewöhnung verurteilt, denn oft hörte ich die Glocke nicht. Aber die anderen weckten einen dann, denn sie mussten auch aufstehen. Um 7.20 Uhr stand der Hausmeister oben an der großen Treppe unseres Hauses und rief laut „Tallyho“ (das ist der Ruf eines Jägers, der gerade einen Fuchs wittert). Mit diesem Ruf stürzten dann alle „Jäger“, d. h. Jungen, ihm nach die Treppe hinunter. Wer mit seiner Toilette nicht fertig war, wenn der Hausmeister die Tür zum Saal schloss, war zu spät. Wer in dem Saal noch an seinem Schlips oder Kragen herumarbeitete, der galt auch als zu spät gekommen. Wer ein schmutziges Hemd anhatte, der galt auch als – nach dem Gesetz der Meder und Perser – zu spät gekommen. Das Zuspätkommen zum morgendlichen Appell wurde bestraft. Die Namen aller Jungen wurden alphabetisch aufgerufen, und jeder musste mit „adsum“ (ich bin zugegen, in Latein) antworten. Es kostete damals zwei Schläge mit der Rute, wenn man nicht antwortete. War man feige, konnte man unter Umständen die zwei Schläge in 200 „Zeilen“ umtauschen lassen, was bedeutete, dass man 100- oder 200-mal schreiben musste: „Ich darf nicht zu spät zum Appell auftauchen“ oder „Ich muss mich für den Appell richtig und rechtzeitig anziehen“. Aber man zog meist die Peitsche vor. Es war eben ehrenvoller!

Bei Mädchen gebrauchte man damals die Peitsche selbstverständlich nicht, dafür waren sie eben Mädchen!

Schulen, die die Peitsche abschafften, schafften sie ab, weil sie Mädchen statt Jungen hatten. So hieß es unter den Jungen, Disziplin dieser Art schadet nicht, solange man gute, gerechte Schulmeister finden konnte, um das System zu verwalten. Sobald aber verweichlichte, ungerechte Lehrer auftauchten, ging es nicht mehr. Gerade solche wurden brutal, sodass das System auseinanderzufallen drohte.

6. Miseren des Internatslebens

Unter der Aufsicht von Mr. Record, dem Vizepräsidenten des Internats, hatte ich mit Latein und Französisch nie wieder Mühe gehabt. Disziplinarisch war Mr. Record, den wir „Chew“ nannten, weil er immer mit dem Mund arbeitete, eisern. Aber er war ein frommer, gerechter Mann, den wir alle respektierten. Jeden Sonntagmorgen inspizierte er persönlich alle 700 Schüler, die geschlossen in die Stadt zu den verschiedenen Kirchen marschierten. Die Eltern entschieden, welche Kirchen besucht wurden. Mr. Record merkte sofort, ob ein Kandidat für den Kirchgang ein weißes oder ein nicht mehr ganz weißes Hemd trug. Ob sein schwarzer Schlips bekleckert war. Ob sein Taschentuch weiß war. Oft verlangte er aufs Geratewohl, probeweise, das Taschentuch, das während des Vorbeimarsches produziert werden musste. Weh dem Jungen, der keines hatte oder der ein Taschentuch hervorzog, das nicht so aussah wie eine Reklame für Waschpulver. Ein solcher Kirchgangkandidat musste aus den Reihen hervortreten, ein frisches Taschentuch holen, während die ganze Schule ungeduldig auf ihn wartete. Solche Schüler waren nicht populär. So wirkte Mr. Records Disziplin förderlich – die Jungen sorgten letzten Endes selbst für Ordnung!

Obwohl unser Direktor Mr. Record den Beinamen „Chew“ trug, wehe dem Schüler, der mit Kaugummi oder ähnlichen Scheußlichkeiten im Mund erwischt wurde! Wer in der Klasse kaute, spielte direkt mit seinem akademischen Schicksal. Was man im Mund hatte, war eine rein private Angelegenheit, wovon andere gar nichts merken durften.

Andere „Wehen“ unseres Internats folgten schnell: Wehe dem Jungen, der mit Händen in den Hosentaschen mit einem Lehrer – oder sonst einer reifen Person – sprach. Wenn ein solcher über so wenig Feinfühligkeit verfügte, bekam er zuerst eine Reihe von bissigen, verschleierten Bemerkungen, die ihn höflich auf seine Salonunfähigkeit aufmerksam machen sollten. Wenn er aber derart stumpfsinnig war, dass er gar nichts merkte – solche gab es schon damals – konnte er mit der Zeit eine direkte, scharfe Bemerkung erwarten: „Zieh die Hände aus der Tasche, wenn du mit älteren und auch besseren Personen sprichst!“

Dreimal im Jahr bekamen alle Eltern über ihre Kinder ein Schulzeugnis – direkt nach Hause geschickt. Nicht nur die akademische Leistung des Schülers wurde beurteilt, sein allgemeines Verhalten und sein Fortschritt in der Entwicklung von „Schliff“ wurde schriftlich mit entsprechenden Beweisen festgehalten. Frechheit war ein schwerwiegendes Vergehen, besonders älteren Menschen gegenüber.

In der Schulkapelle, wo im Sommer morgens und abends ein Gottesdienst vom Schuldirektor oder von einem Pfarrer abgehalten wurde, wurde sehr auf Benehmen geschaut. Anständig gekleidet musste man sein – man trug eine Schuluniform, damit die Schüler sich nicht gegenseitig wegen Bekleidung „die Augen ausstechen konnten“. Jungen können nicht minder eitel sein bezüglich Bekleidung als Mädchen! Wehe dem Jungen, der vor Gott mit den Händen in der Hosentasche betete, oder sonst erschien! Eine Beleidigung der Majestät Gottes!

Hängt die heutige Formlosigkeit und Undiszipliniertheit mit dem Zerfall unserer ganzen westlichen Gesellschaft zusammen? Ich meine ja! Denn man empfindet vor nichts Respekt, weder vor Menschen, noch vor Gott, noch vor dem Alter. Alles ist erlaubt. Auch das, was sich nicht schickt. Die Konsequenzen liegen heute vor unseren Augen.