Lugege ainult LitRes'is

Raamatut ei saa failina alla laadida, kuid seda saab lugeda meie rakenduses või veebis.

Loe raamatut: «Lache Bajazzo», lehekülg 12

Font:

Drittes Kapitel

Es kam der Abend, an dem Carls neues Drama »Frau Agnes« zum ersten Male mit Agnes in der Titelrolle zur Aufführung gelangte.

Als Carl in Begleitung des Direktors seine Loge betrat, bereitete das Publikum ihm einen herzlichen Empfang. Er verbeugte sich, nicht mehr so schüchtern und ungelenk wie früher, und machte, ohne selbstbewußt zu scheinen, doch einen sicheren, fast unbekümmerten Eindruck. Er erwiderte ungezwungen die Grüße der vielen Menschen, die er nun kannte, und unterhielt sich von der Loge aus mit dem und jenem, der ihn begrüßte. Und als ihm Freunde, die ihn in der Loge aufsuchten, den üblichen »Hals- und Beinbruch« wünschten, antwortete er:

»Ich bin nicht ängstlich, Agnes spielt ja!«

Der Beifall nach dem ersten Akt war laut. Man rief – auch den Dichter. Aber Carl blieb in seiner Loge. Und Agnes, die verführerisch aussah, verbeugte sich mehrmals.

Die Stimmung war im großen ganzen abwartend. Und wenn die Pause auch erst nach dem zweiten Akt kam, so empfand Carl es doch, daß von den Leuten, auf deren Urteil er gab, keiner ein Wort oder auch nur einen ermunternden Blick für ihn hatte.

Wer, wie der alte Brand, deutlicher hinsah, staunte zunächst über die große Zahl bekannter Gesichter. Den allen – und es handelte sich dabei nicht um die ständigen Premierenbesucher – war man doch schon irgendwo einmal begegnet?

Als Brand nach dem ersten Akt von seinem Eckplatz aufstand und ein wenig zur Seite trat, berührte ihn die Dame einer Loge mit der Lorgnette. Er wandte sich um und begrüßte die Frau Geheimrat.

»Was sagen Sie?« fragte sie.

»Ich warte ab.«

»Seien Sie unbesorgt; ich habe allein über dreihundert Bekannte im Theater; fast fünfhundert Plätze hat die Direktion vergeben; der Rest ist Kritik – und die ist indifferent.«

»Um sich morgen um so leidenschaftlicher zu äußern.«

»Die Tatsache des Erfolges wird sie anerkennen müssen.

Und dann: letzten Endes entscheidet das Publikum!«

»Das hier ist kein Publikum.«

»Was denn?«

»Das Gegenteil. – Wenigstens wenn Sie damit den Begriff der Oeffentlichkeit verbinden. Das hier ist eine Privatgesellschaft, noch dazu eine beschenkte.«

Das Gong ertönte. Brand setzte sich wieder. Der zweite Akt begann. Agnes hatte Beifall auf offener Szene. Das verführte sie, immer stärker aufzutragen. Stand sie nicht auf der Bühne, erlahmte das Interesse. Man wartete auf ihre Wiederkehr. Erschien sie, so rückte sich alles wieder zurecht, setzte die Operngläser an und merkte auf. Selbst hier in diesem Rahmen ordnete sich das »Was« dem »Wie« unter. Als sich der Vorhang schloß, erschollen laute Rufe nach Agnes. Zischen, das auf der Galerie einsetzte und im Parkett von ein paar Gleichgesinnten aufgenommen wurde, erstarb in dem Beifall, der daraufhin doppelt einsetzte. Wer weiß, ob sich ohne den Gleichklang Holl-Holten Carl dem Publikum gezeigt hätte. Als er dann aber lauten Rufen folgend an Agnes’ Seite erschien, freute man sich mit ihm und jubelte ihm zu.

Trotz allem war die Stimmung schwül und ließ keine echte Freudigkeit aufkommen.

»Was sagen Sie jetzt?« fragte Brand die Frau Geheimrat.

»Ich warte ab.«

»Was?«

»Die Kritik.«

»Aha! – Und wenn die ›Nein‹ sagt?«

»Dann lerne ich um.«

»Würden Sie dann nicht besser tun, Ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß Holten umlernt?«

»Lieber Doktor,« erwiderte die Frau Geheimrat, »das ist Ihre Sache! Ich bin weder Verleger noch Literaturhistoriker. Ich gehe mit dem Erfolg. – Im übrigen: Agnes kann zufrieden sein. Ihr Erfolg ist beispiellos.«

»Aber nicht dauerhaft.«

»Für den Augenblick ist sie jedenfalls eine Berühmtheit.«

»In ihrer Art zweifellos, – übrigens ist Ihnen das auch aufgefallen? Im zweiten Akt ist die Reihenfolge von ein paar Szenen verändert. Und zwar durchaus zum Nachteil. Hat das die Regie oder Holten veranlaßt?«

»Weder – noch.«

»Wer denn?«

»Agnes – Holten hat sich sehr gesträubt.«

»Und warum wollte sie’s?«

»Weil sie die Möglichkeit haben wollte, fünfmal die Kleider zu wechseln.«

»Ekelhaft!« rief Brand. »Ich wollte jetzt zu ihm und ihm ein gutes Wort geben. Nach dem, was Sie mir da eben erzählen, bring ich’s nicht fertig.«

»Sie sind ein sonderbarer Heiliger!« sagte die Frau Geheimrat. »Jeder denkt an sich. Ich würde es genau so machen, wenn mein Mann Dichter und ich Schauspielerin wäre. Uebrigens bin ich überzeugt, daß Agnes’ Toiletten den Schaden, den sich die Dichtung gefallen lassen mußte, zehnmal ausgeglichen haben. – Oder was meinen Sie, Baron?« wandte sie sich an Peter, der eben an sie herantrat.

»Daß ich ein Esel war!«

Beide verstanden ihn, und Brand sagte:

»Es wäre für alle besser, wenn Sie sie festgehalten hätten.«

Durch den Bühnenausgang drängten sich jetzt viele Menschen, um Carl zu beglückwünschen. Sie drückten ihm die Hand und sagten:

»Das macht Ihnen keiner nach.«– »Ihre Frau Gemahlin hat sich selbst übertroffen.« – »Die Duse ist nichts dagegen.« – »Ich bin hingerissen, mein Mann übrigens auch.« – »Agnes! einfach himmlisch!« —

Carl kannte die Wenigsten von ihnen. Es waren wohl meist Bekannte der Frau Geheimrat, für die diese intime Huldigung der eigentliche Genuß des Abends war. Aber die Wenigen, die er kannte und an denen ihm lag, ließen sich nicht sehen. Nur Peter kam. Ihn kannte Carl als aufrichtig. Er ließ alle stehen und ging ihm entgegen.

»Nun?« fragte er ungeduldig.

»Sie sehen ja,« erwiderte Peter und wies auf die Menschen, die sich zu ihm drängten.

»Wirklich?« fragte Carl. »Sie glauben, daß es ein Erfolg ist?«

»Das heißt: den Löwenanteil daran hat Ihre Frau!«

»Und das Stück?«

»Lieber Holten, davon verstehe ich nichts! Da müssen Sie

Brand oder einen von den anderen fragen.«

»Wo ist Brand?«

»Im Foyer.«

»Warum kommt er nicht?«

»War er nicht bei Ihnen?«

»Nein. – Werner auch nicht.«

Peter war erstaunt:

»Nanu? – Vielleicht sind sie in Ihrer Loge?«

Carl kümmerte sich nicht um die Menschen. Er ließ sie stehen und stieg schnell die kleine Treppe, die von der Bühne zu seiner Loge führte, hinab. Peter folgte ihm.

»Hier sind sie auch nicht,« sagte er.

Aber Geheimrats waren da und erwarteten ihn.

»Was sagen Sie zu Agnes?« empfing ihn der Alte.

»Ja! ja! – Aber sonst – was meinen Sie? – Was sagen die Leute? – Haben Sie jemanden von der Kritik gesprochen? – Was sagt Brand?«

»Seien Sie ohne Sorge!« sagte der Geheimrat. »Achtmal mußte der Vorhang aufgehen. Ich habe gezählt.«

Die Frau Geheimrat nickte.

»Auf meine Leute ist Verlaß!« sagte sie.

»Und morgen, wenn Ihre Leute nicht drin sind? Was glauben Sie, wird dann?«

»Das hängt von der Kritik ab. Hauptsache, daß Agnes nicht die Lust verliert. Die sieht sich jeder an!«

»Und das Stück?«

»Natürlich auch!«

Carl lief im Hintergrund der Loge auf und ab.

Peter drückte sich und dachte:

Komische Menschen diese Künstler!

Der Geheimrat ließ sich von seinem Logendiener das letzte Abendblatt bringen, um die auswärtigen Börsen zu studieren. Seine Frau drängte sich durch das Bühnenpersonal hindurch zu Agnes’ Garderobe. Da sie überzeugt war, sie ruhebedürftig und erschöpft zu finden, so öffnete sie behutsam die Tür. Um so mehr staunte sie, als ihr hinter einem Berg von Blumen Agnes’ helles Lachen entgegenschallte. »Also, Sie sind verrückt!« rief Agnes laut.

Die Frau Geheimrat trat ein.

Hinter einem Seidenschirm stand Agnes und kleidete sich um. Da der Schirm unten offen war, so sah man nur ihre Füße und daneben zwei andere, die auch in seidenen Strümpfen steckten und sich eifrig hin und her bewegten. Sie gehörten der Zofe, die Agnes beim Anziehen half. Und vor dem Schirm, das Gesicht dicht an den Seidenstoff gepreßt, stand ein älterer, runder Herr im Frack mit einem Strauß Rosen im Arm. Obgleich die Frau Geheimrat ihn nur von hinten sah, erkannte sie doch sofort, daß es kein anderer als der runde Justizrat war.

»Ich will nichts weiter,« sagte er, »nur eine Art Option für den Fall, daß Sie sich eines Tages doch mal von Holten trennen. Versprechen Sie mir, daß Sie dann meine Frau werden?«

»Ich will Sie vormerken. Aber konservieren Sie sich gut! Vor Ihnen sind noch drei andere.«

Der Justizrat stieß vor Schreck mit dem Kopf gegen den Seidenschirm, so daß der ernstlich ins Wanken geriet.

»Großer Gott!« schrie die Frau Geheimrat. »Er schlägt sie tot!« und stürzte auf den Schirm los, der gerade wieder zu stehen kam.

Die Folge war, daß alles über den Haufen flog: die Alte und der Justizrat auf den Schirm, der Schirm auf Agnes und die Zofe, die beiden auf den Toilettentisch. In derselben Reihe kamen sie wieder zu stehen. Als Erster erhob sich der Justizrat und half der Alten auf die Beine, dann nahmen sie den Schirm auf, unter dem Agnes, die Zofe, der Tisch und unzählige Toilettengegenstände lagen. Die Zofe zappelte wie ein Fisch und sprang selbst auf, Agnes, die sich überzeugte, daß sie unversehrt war, rief:

»Liegen lassen!« und weigerte sich, die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, zu ergreifen.

Die Drei standen vor einem Rätsel.

»So hebt doch endlich den Tisch und die Sachen auf!« rief sie heftig. »Minna! die Eau de Cologne!«

»Ja! Hast du dir denn was getan?« fragte die Frau Geheimrat und beugte sich über sie.

»I Gott bewahre!«

Minna reichte der Frau Geheimrat die Eau de Cologne.

»Spritz mich an!« befahl Agnes. – »Justizrat, rufen Sie den Theaterarzt! Sagen Sie, ich hätte eine tiefe Ohnmacht.«

Der Justizrat stand verwirrt und wußte nicht recht, was er tun sollte.

»So gehen Sie doch! Oder wollen Sie, daß ich sterbe? Sie wissen, Sie sind vorgemerkt.«

»Ja . . . aber . . .«

Der Justizrat zögerte noch immer.

»So denken Sie doch nicht nach, sondern tun Sie, was ich Ihnen sage. Ich kann doch hier unmöglich so bleiben. Ich lieg mich ja durch.«

Der Justizrat schüttelte den Kopf, ging hinaus und suchte den Arzt.

»Minna! Schnell den Direktor!«

Die hatte sich bei Agnes längst an alles gewöhnt, dachte nie nach, wunderte sich über nichts und staunte nur immer hinterher, wenn sich die Wirkung zeigte.

Als Minna draußen war, rief Agnes der Frau Geheimrat, die sie noch immer mit Eau de Cologne bespritzte, zu:

»So hör schon auf!«

Im selben Augenblick trat der Direktor ins Zimmer. Als er Agnes liegen sah, warf er die Arme hoch und rief:

»Holl, machen Sie keine Witze, stehen Sie auf!«

Agnes schloß die Augen und hauchte:

»Ich sterbe.«

»Unsinn! Das haben Sie von der Pforten.«

Agnes mußte lachen.

»Erraten!« rief sie, ohne sich zu rühren oder auch nur die Augen zu öffnen. »Wie finden Sie’s? Echt?«

»Mäßig!«

»Das ist eine Unverschämtheit!« fuhr Agnes auf. »Besser macht’s Estella auch nicht.«

»Also, was soll das?«

»Das bedeutet, daß Sie jetzt klingeln lassen und, wenn die Leute auf ihren Plätzen sind, vor den Vorhang treten und sagen: Frau Agnes Holl ist gleich nach Schluß des zweiten Aktes von einer tiefen Ohnmacht befallen worden. Der Arzt hat ihr das Weiterspiel verboten. Frau Holl ist jedoch nicht zu bewegen, der ärztlichen Weisung zu folgen und wird versuchen, das Stück zu Ende zu führen. Ich bitte Sie, dem Rechnung zu tragen. – So in der Form. Sie wissen schon, wie Sie das machen.«

Ein ausgeruhter Kopf! dachte die Alte, und der Direktor sagte:

»Aber das haben Sie doch gar nicht nötig.«

»Ich will aber!« erwiderte Agnes. »Schaden kann’s auf keinen Fall.«

»Gewiß nicht! Aber so was kann man nicht alle Tage machen. Und darum spart man sich’s auf, bis man es mal nötig hat.«

Das leuchtete auch der Alten ein.

Aber Agnes schnitt die Diskussion ab und sagte:

»Dann fällt mir schon was anderes ein.«

Die Tür ging auf, der Theaterarzt kam, und es erschien der Alten, als wenn Agnes, die unbeweglich lag, eine Nuance blasser würde.

Wie stellt sie das nur an? dachte sie.

»Was ist?« fragte der Arzt.

»Frau Holten hatte eine tiefe Ohnmacht,« sagte der Direktor. »Jetzt geht es wieder.«

Der Arzt beugte sich zu ihr, fühlte den Puls und fragte:

»Wie fühlen Sie sich?«

Agnes hauchte:

»Gar nicht.«

»Wie?«

»Schwach.«

Er gab dem Direktor ein Zeichen, sie hoben sie auf – die Frau Geheimrat schob ein paar Kissen zurecht – und legten sie auf die Chaiselongue.

»Haben Sie irgendwo Schmerzen?«

Agnes nickte.

Der Arzt befühlte die Schläfen und Stirn:

»Hier?«

Sie nickte wieder.

»Sie müssen ins Bett.«

Agnes schüttelte den Kopf.

»Unbedingt!«

»Spielen – zu Ende – spielen,« hauchte Agnes.

»Das ist nicht möglich.«

»Ich will!« sagte sie, und die Stimme klang stärker.

»Ich übernehme nicht die Verantwortung.«

Die Geheimrätin reichte ihr Wasser.

Agnes lehnte es ab.

»Champagner!« sagte sie leise. »Jrroy!« und setzte sich auf.

Carl trat ins Zimmer.

»Ist es wahr?« sagte er ängstlich. »Du hattest eine Ohnmacht?«

»Schon vorüber!« sagte sie lächelnd und nahm seine Hand.

Carl dachte nicht mehr an Wert oder Unwert seines Stückes.

»Ich kann Ihrer Frau Gemahlin meine ärztliche Einwilligung, weiterzuspielen, nicht geben.«

»Natürlich! Das ist ja undenkbar!«

»Die Ohnmacht war ungewöhnlich schwer. Außerdem hat sich Ihre Frau Gemahlin beim Aufschlagen eine, wenn auch belanglose Verletzung am Kopf zugezogen.«

»Wo?« rief Agnes laut und setzte sich auf.

Der Arzt bezeichnete die Stelle und sagte:

»Hier!«

Agnes faßte hin.

»Eine Beule! – Ekelhaft! – Eine richtige Beule! —

Wie bring ich die fort? – Nein, dieser Esel! Dieser dumme Kerl!«

Der Arzt nahm Carl beiseite:

»Sie phantasiert! Sie ist maßlos erregt! Dulden Sie auf keinen Fall, daß sie spielt!«

»Ja, was wird nun?« fragte der Direktor.

Agnes sprang auf.

»Minna, schnell das helle Kostüm!«

Im selben Augenblick war sie auch schon hinter dem Seidenschirm und kleidete sich an.

Carl gab sich alle Mühe, sie umzustimmen.

Sie blieb dabei:

»Ich will! Und ich spiele!«

Als sie draußen waren, sagte die Frau Geheimrat:

»Bewundernswert, diese Energie!«

»Ich wünschte manchmal, sie hätte sie nicht,« erwiderte Carl.

»Bleiben Sie jedenfalls hinter der Bühne!« rief der Direktor dem Arzt zu und trat vor den Vorhang. Er sagte wörtlich, was Agnes entworfen hatte und erzielte damit eine tiefe Wirkung. Die Teilnahme des Publikums war unverkennbar. Und ihr Entschluß, trotz des ärztlichen Verbots versuchsweise weiterzuspielen, erregte geradezu Bewunderung.

Als Agnes auftrat, ging orkanartig ein Beifallssturm durchs Haus, der minutenlang das Spiel unterbrach. Agnes tat gerührt, schloß die Augen, lächelte wie eine Kranke, lehnte sich an eine Kulisse, von der sie wußte, daß sie standhielt.

Der Hauptreiz des Aktes lag in der Spannung, ob sie wohl durchhalten würde. Und in Szenen, in denen sie sich zur Leidenschaft fortriß, krampfte sich das Herz manches Theaterbesuchers zusammen und fühlte ehrlicher und tiefer als Frau Agnes, die laut Regiebemerkung unter der Todesnachricht ihres Sohnes zusammenzubrechen hatte. Agnes hatte sich kaum geschminkt, sah aus wie der Tod und schwankte, als die Trauerbotschaft sie erreichte, so echt, daß alle den Atem anhielten. Als sie dann mit einem Aufschrei, der einem körperlich wehtat, zusammenbrach, wußte keiner, ob das Spiel oder Leben war. Regungslos saßen die Menschen und starrten auf die Bühne.

Der Vorhang schloß sich. Sekundenlang rührte sich keine Hand. Dann klatschte als Erste Frau Geheimrat, und der Alte rief laut:

»Holl! Holl!«

Wie aus einer Kehle schrien jetzt alle.

Der Vorhang öffnete sich; Agnes stand hochaufgerichtet an den toten Sohn gelehnt. Die Arme hingen schlapp herab. Sie lächelte und bewegte den Kopf. Und jeder, der sie so sah, glaubte, daß sie am Ende ihrer Kräfte war.

Unzählige Male öffnete und schloß sich der Vorhang. Jedesmal, wenn die Portieren sich berührten, fuhr Agnes sich blitzartig mit Stift und Puderquaste über das Gesicht. Immer leidender wurde ihr Ausdruck, und als auf Drängen des Direktors Carl auf die Bühne trat, glitt sie von dem toten Sohne fort dem lebenden Gatten entgegen, und lag, bis der Vorhang sich zum letzten Male schloß, erschlafft, doch noch immer lächelnd, in seinen Armen.

*

Am nächsten Morgen sprach die Kritik. Sie war fast durchweg auf einen versöhnlichen Ton gestimmt. Das Stück kritisch zu werten, lehnte sie ab, um einen Dichter nicht zu kränken, der sich einer ehrgeizigen Frau zuliebe einmal in der Rolle des Tendenzschriftstellers versucht habe. Aber auch dann bliebe zu sagen, daß dieser Versuch mißglückt sei. Das aber gerade sei das Erfreuliche. Denn ein Dichter, dem das Dichten nicht Selbstzweck, der vielmehr imstande sei, »auf Wunsch« Stücke zu »machen«, höre auf, Dichter zu sein. Daß Holten dies »Kunststück« nicht fertiggebracht habe, sei ihm zur Ehre gerechnet. Aber angesichts dieser Frau, in der mehr als nur eine wirkungsvolle Schauspielerin zu stecken scheine, sei es am Platze, den Dichter vor Wiederholungen zu warnen. Sie könnten, fortgeführt, kostspielig werden und seinen künstlerischen Kredit gefährden. Das Publikum – meinte die Kritik weiter – habe denn auch schon nach dem ersten Akt erkannt, wo der Schwerpunkt des Stückes zu suchen sei. Es habe sich ausschließlich an Frau Agnes Holl gehalten. Der Mann in der Loge sei zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Er sei in der Rolle des Prinzgemahls zwar nach den Aktschlüssen erschienen, habe aber, mehr beneidet als bewundert, dem Filmdichter an der Seite einer gefeierten Kinodiva geglichen. Und damit seien dann auch beider Leistungen am treffendsten gewürdigt. Denn Frau Agnes Holl sei damit in aller Höflichkeit dahin gewiesen, wo für ihre zweifellos starke Begabung die größten Möglichkeiten lägen. Carl Holten aber sei damit vor Augen und hoffentlich auch ins Gemüt geführt, daß sich für einen Dichter seines Ranges derartige Eskapaden nicht gehören.

»Als ob er vor mir stände! Als wenn ich ihn sprechen höre!« rief Agnes, als sie diese Kritiken las.

»Wen meinst du?« fragte Carl.

Agnes, die aufrecht in ihrem Bette saß und mit ihren kleinen Händen wütend die unzähligen Blätter zusammenballte, rief höhnend:

»Als wenn du es nicht wüßtest! Dein sauberer Freund Brand; wer wohl sonst? Und wenn er dich dabei zugrunde richtet, das kümmert ihn den Dreck was, wenn er mir nur die Karriere ruiniert.«

»Das glaubst du doch nicht im Ernst?« fragte Carl.

»Bist du nun so naiv, oder tust du nur so?« fragte Agnes. »Als wenn du nicht genau so wüßtest, wie ich, daß er mit allen Kritikern auf Du und Du steht. Aber er soll sich in acht nehmen!« rief sie drohend. »Ich decke den Schwindel auf!«

»Was glaubst du, wie froh ich wäre, wenn du recht hättest,« sagte Carl, der neben ihrem Bette stand.

»Das versteh ich nicht.«

»Denn wenn das unwahr wäre,« und dabei wies er auf den Berg von Blättern auf ihrem Bett, »dann wärst du eine zweite Duse und mein Stück keine Gelegenheitsmache, sondern eine Dichtung.«

Agnes riß die Augen auf, setzte sich in ihrem Bette hoch und sagte:

»Das soll doch nicht etwa heißen, daß du das, was da steht, für wahr hältst?«

Carl nickte und sagte:

»Doch!«

»Du bist verrückt!« rief sie und warf sich wütend in die Kissen. »Geh raus! Laß mich allein!« Und sie warf mit den Beinen das Bettdeck hoch, so daß sämtliche Blätter zu Boden fielen.

Carl rührte sich nicht.

»Oder können wir leugnen,« fragte er ruhig und bestimmt, »daß ich dies Stück für dich geschrieben und, als es fertig war, dir zu Gefallen unzählige Aenderungen vorgenommen habe, durch die es nicht besser wurde?«

»Ein feiner Mann!« sagte Agnes breit und vorwurfsvoll, »der seine Frau für seine Mißerfolge verantwortlich macht.«

»Das ist nicht meine Absicht; jeder ist für seine Leistung verantwortlich. Wie sie zustande kommt, ist Nebensache.«

»O nein!« rief Agnes und setzte sich wieder auf. »Durchaus nicht! Eine Köchin, der man ein Huhn zu kochen gibt, das tausend Jahre alt ist, kann nichts dafür, wenn es nachher zäh und ungenießbar ist.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Carl.

»Daß es Stücke gibt, an denen selbst die Kunst der besten Schauspielerinnen scheitern muß.«

Carl stand sprachlos.

»Willst du damit etwa sagen . . .?«

Agnes sah ihn unbefangen an.

»Ich?« fragte sie und zog die Schultern hoch, »wieso ich? Du warst es doch, der selbst gesagt hat, daß das Stück nichts taugt.«

Carl schwieg.

»Schreibe bessere Stücke, wenn du es fertig bringst, und wir werden sehen, was ich dann leiste.«

»Ich wünsche es uns beiden, daß du recht behältst.«

»Ich bitte dich,« wehrte sie nervös ab, »versteck dich nicht hinter mich. Du müßtest endlich wissen, wie zuwider mir Feigheit ist. Du und ich, das sind zwei verschiedene Dinge. Und wenn es sich herausstellt, daß du keine Stücke schreiben kannst, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß ich keine Schauspielerin bin.«

Sie drückte auf den Knopf der Klingel, die über ihrem Bette hing.

Minna, die Kammerzofe, trat ins Zimmer.

»Wo bleibt meine Schokolade?« fragte sie. »Ist Post da?«

»Eine Unmenge, gnädige Frau.«

»Weshalb bringen Sie sie nicht herein?«

Minna sah zu Carl auf.

»Ich wollte, daß man dich schlafen ließ, dein Anfall gestern . . .«

»Wenn du mir lieber in anderen Dingen eine Stütze wärst!«  sagte sie in Gegenwart der Zofe. »Aber da, wo man dich braucht, versagst du und klappst zusammen wie ein Taschenmesser.« Minna ging die Post holen. »Schlappe Männer sind mir ein Greuel.«

»Du mußt ein wenig Rücksicht auf mich nehmen, Agnes. Ich gebe ja zu, du hast in vielem recht. Aber du weißt auch, daß ich zwanzig Jahre lang . . .«

Agnes fuhr in seinem Tone fort:

». . . an Cläre eine Stütze wie an einer Mutter hatte. – Ja!« sagte sie, nun wieder sie selbst, »ich kann es bald singen, so oft hast du es mir erzählt. Und ich habe dir eben so oft darauf geantwortet, daß ich mich ja dir nicht an den Hals geworfen habe, sondern daß umgekehrt du . . . aber wozu immer dasselbe? Es steht einem schon bis da!« und dabei führte sie die Hand an den Hals.

Minna kam mit der Post zurück.

Einen ganzen Stoß von Briefen und Telegrammen legte sie Agnes aufs Bett. Die Köchin reichte ein Tablett durch die Tür. Minna schob einen kleinen Tisch heran, auf den sie die Schokolade, Zwieback, geröstetes Brot, Butter und frisches Obst stellte.

Agnes riß die Telegramme auf. Sie warf auf jedes nur einen Blick; und doch schien, dem Ausdruck ihres Gesichts nach, jedes ihre Stimmung aufzuklären. Bis die Freude plötzlich ganz durchbrach und hell auf ihrem Gesichte lag.

»Da hast du’s!« rief sie freudig, nahm einen ganzen Stoß der geöffneten Telegramme auf, hob sie in die Höhe und ließ sie durch die Finger gleiten. »Da lies!« und dabei riß sie hastig schon wieder die nächsten auf. »Voller Bewunderung beglückwünscht Sie!« las sie laut. »Diese seltene Vereinigung von Schönheit und schauspielerischer Leistung.« – »Unvergeßlich wird dieser Abend dank Ihrer Kunst mir in der Erinnerung bleiben.« – »Ueberall das gleiche!« rief sie. »Ich brauche die anderen gar nicht erst zu öffnen; du wirst sehen, es steht in allen dasselbe: meine Kunst, mein Talent!« Sie griff mit der linken Hand nach der Schokolade.

Minna strahlte, als wenn sie teil an diesen Ehrungen hätte.

»Und dann, gnädige Frau,« sagte sie stolz, »stehen draußen auf ’m Flur und im Salon eine Unmenge Sträuße und Körbe; und alle Augenblicke kommen neue.«

»Hörst du’s?« fragte sie. »Das Publikum hat sich für mich entschieden! Dagegen wird die Kritik, die doch des Publikums wegen da ist, nichts ändern!«

Dabei las sie immer weiter Telegramme und Briefe, die Minna öffnete, überschielte und ihr hinreichte.

»Da!« rief sie und las: »Sie sind schon heute der ausgesprochene Liebling des Publikums. Hörst du’s? Oder glaubst du vielleicht, daß die Leute, die das schreiben,« und dabei warf sie den ganzen Pack in die Höhe, »sich auf die Dauer gefallen lassen werden, daß man ihren Liebling beschimpft?«

»Ich freue mich jedenfalls, daß du deine gute Laune wieder hast,« sagte Carl und fand, daß Agnes nie reizvoller ausgesehen hatte als in diesem Augenblick.

»Habe ich vielleicht keinen Grund, vergnügt zu sein? Du tust mir ja leid,« sagte sie, stellte die Tasse auf den Tisch und schob sich nach dem Bettrand, an dem Carl noch immer stand, nahm seine Hand und küßte sie. Er beugte sich zu ihr, hob ihren Kopf und sah ihr in die frohen Augen.

»Ich bin ja zufrieden, wenn du nur glücklich bist!« sagte er.

»Also!« rief sie freudig. »So freu dich doch mit mir!« Sie zog ihn auf den Rand des Bettes.

Minna stellte das Geschirr auf den Tisch und ging aus dem Zimmer.

»Sag,« fragte Agnes und rückte ganz nahe an ihn heran, »hat dir kein Mensch ein Wort geschrieben?«

Carl schüttelte den Kopf.

»Auch deine Freunde nicht?«

Carl sagte:

»Nein.«

»Das tut mir leid!« Sie legte zärtlich die Arme um Carl, drückte ihn an sich und sagte: »Weißt du, man darf nicht zu anspruchsvoll sein. Schließlich genügt es ja, wenn einer von uns beiden berühmt ist.«