Loe raamatut: «Der Heilungsweg des Schamanen im Lichte westlicher Psychotherapie und christlicher Überlieferung»

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August Thalhamer

Der Heilungsweg des Schamanen

im Lichte westlicher Psychotherapie

und christlicher Überlieferung

ENNSTHALER VERLAG STEYR

Erklärung:

Die in diesem Buch angeführten Vorstellungen, Vorschläge und Therapiemethoden sind nicht als Ersatz für eine professionelle medizinische oder therapeutische Behandlung gedacht. Jede Anwendung der in diesem Buch angeführten Ratschläge geschieht nach alleinigem Gutdünken des Lesers.

Autoren, Verlag, Berater, Vertreiber, Händler und alle anderen Personen, die mit diesem Buch in Zusammenhang stehen, können weder Haftung noch Verantwortung für eventuelle Folgen übernehmen, die direkt oder indirekt aus den in diesem Buch gegebenen Informationen resultieren oder resultieren sollen.

Bibliographischer Hinweis:

In diesen Text sind längere Passagen eingeflochten aus dem bereits erschienenen Beitrag des Autors: »Jenseits von Luhmann. Über den Systembegriff unserer Vorfahren und seine mögliche Anwendung heute«. In: MEHTA, Gerda/ZIKA Erik (Hg.): Systemische Grenzgänge. Wirksames und Wirkendes im Zwischenmenschlichen.- Wien, 2006, Krammer

Der Titel der rumänischen Übersetzung lautet: »Arta vindecătoare a şamanului în lumina psihoterapiei occidentale şi a tradiţiilor creştine« erschienen 2011 bei Editura Har Tios, Botoșani

Dieses Buch ist erstmals 2007 in der edition pro mente erschienen und erscheint jetzt, überarbeitet und erweitert, als 1. Auflage 2014 im Verlag Ennsthaler.

www.ennsthaler.at

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-7095-0039-2 (EPUB)

August Thalhamer · Der Heilungsweg des Schamanen im Lichte westlicher Psychotherapie und christlicher Überlieferung

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014 by Ennsthaler Verlag, Steyr

Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Österreich

Satz & Umschlaggestaltung: www.traxl-thomas.at Umschlagbild: Olga Galushko - Fotolia.com

Die Seele des Menschen kann nur geheilt werden,

indem er sich

den Verbindungen mit den sichtbaren Welten der Natur und der Gemeinschaft zuwendet

wie auch

den Verbindungen mit den unsichtbaren Kräften der Ahnen und der verbündeten Geister.

Malidoma Patrice Somé, Brückenbauer zwischen afrikanischer und westlicher Kultur

Einleitung (von Dr. Carlo Zumstein)

August Thalhamer und ich sind uns vor über zehn Jahren anlässlich einer Expedition zu den Schamanen in Tuva, Sibirien, das erste Mal begegnet. Eine Erfahrung, die uns beide nachhaltig verändert hat. August erzählt in diesem Buch von seiner tiefen Verbindung mit dem Schamanen Saryglar Borbak Ool. Damals bereits auf den langen Fahrten durch die Steppe und in den nie ganz dunklen sibirischen Nächten, begann zwischen uns ein Dialog über unseren unterschiedlichen Weg auf der Suche nach einem Schamanismus, der sich in unserer westlichen Zivilisation neben Medizin und Psychotherapie gemeinsam mit anderen spirituellen Heilmethoden wirkungsvoll einsetzen lässt. Seither haben wir diesen Gedankenaustausch in lockerer Folge fortgesetzt. Ich liebe schamanisch Tätige, die nicht nur alte Heilrituale anwenden, um wundersame Heilungen zu erwirken, sondern auch verstehend nach den Hintergründen dieses archaischen Heilwissens forschen – in Respekt vor dem Wissen unserer Kultur, das unser Denken, Fühlen und Handeln seit Geburt geprägt hat. August Thalhamer ist ein solcher Heiler, Denker, Forscher, Philosoph und Lehrer. Ich habe sein Buch mit großem Interesse gelesen.

August Thalhamer, ausgebildeter Priester, Psychotherapeut, seit Jahren auf eigenem spirituellen Weg, verwebt seine reichen beruflichen und persönlichen Erfahrungen und sein weit gespanntes Wissen zu einem Teppich von Grundformen des psychospirituellen Heilens. Dabei betitelt der Autor sein Buch Der Heilungsweg des Schamanen. Der Weg des Schamanen ist kein Weg in unserem Sinn. Weder erfolgt die Ausbildung der Schamaninnen und Schamanen in vorgegebenen Stufen noch lässt sich ihr heilendes Wirken in eine kausale Abfolge von Handlungsschritten ordnen. Auch die Rituale lassen sich nicht in Gebrauchsanweisungen vereinfachen.

Außerdem betrachtet August Thalhamer den Schamanen im Licht der westlichen Psychotherapie und christlicher Überlieferung. Die Psychotherapie mit ihrer Vielfalt methodischer Ansätze wirft ein vielfarbiges Streulicht auf die noch eruierbaren Spuren der Schamanen und Schamaninnen in den verschiedensten Naturvölkern und Kontinenten. Zudem ist Schamanismus ein mündlich weitergegebenes Erfahrungswissen. Was wir darüber heute wissen, haben wir meist aus zweiter Hand von Ethnologen und Anthropologen. Die christliche Überlieferung aus dem Mund von Aposteln, Kirchenvätern, Philosophen, Päpsten ist unendlich fassettenreich.

Darum begegnet mir der Heilungsweg des Schamanen wie ein Teppich, der sich jedes Mal vor uns ausbreitet, wo immer wir selbst unterwegs sind und in diesem Buch lesen. Er wird dabei zu einem eigenen Kraftplatz, der heilend und klärend in uns wirkt. Oder müsste ich gar sagen, August Thalhamer legt einen Boden, der in den Tiefen des archaischen schamanischen Wissens gründet, die Grundmusterung des Christentums ausbreitet und dazwischen ein vielfarbiges Mosaik der verschiedensten psychologischen und spirituellen Modelle auslegt. Eigentlich ist alles bekannt, was Thalhamer im Laufe seines Weges zusammengetragen hat über den Schamanismus der verschiedensten indigenen Traditionen, bei den Philosophen von der Antike bis zu den heutigen Konstruktivisten, über die psychologischen Schulen von Freud über Jung, die humanistische und transpersonale Psychologie und das Christentum vom Alten Testament bis zu modernen Spirituellen. Doch der Autor gestaltet daraus Muster, die gewollt ineinander übergehen. Dadurch entstehen neue Ansichten und Einsichten des Heilens. Das ist die Herausforderung dieses Buches. Man muss immer seine eigenen Wege über diese Muster gehen, sie nachzeichnen, sie bedenken, in sich aufnehmen. Dann wirken sie auf geheimnisvolle Weise.

Das mutige Bekenntnis zum Schamanen ist die zweite Herausforderung. August Thalhamer nimmt uns mit dem Buch Der Heilungsweg des Schamanen auf seinen Heilungsweg mit, seinen Weg als verwundeter Heiler, wie Schamanen auch bezeichnet werden. Weil sie durch ihr Leiden und ihre Heilung selbst Heilkräfte geschenkt bekommen. Das Leiden ist Durchgang durch Sterben, Tod und Wiedergeburt, ist Initiation, Berufung für ein zweites Leben als Heiler und Schamane. Der Autor beginnt sein Buch denn auch mit seiner magischen Heilung von jahrelangen Rückenbeschwerden durch »Meine Frauen«. Ein ganzes Kapitel widmet er seinem persönlichen schamanischen Weg. Er gewährt uns immer wieder Einblicke in sein eigenes Wirken als Heiler, anhand vieler Beispiele. Er wagt es, sich selbst als Schamane und als Botschafter eines ewigen Wissens zu bekennen, wenn auch mit einem sensiblen Zögern, unser eigenes Zögern erfühlend, von einem aufgeklärten Menschen heute zu hören, dass er von Wesenheiten einer Anderen Welt zu ihrem ewigen Botschafter vergessenen Wissens berufen wurde.

Ich mag dieses Zögern nicht als Grund dafür nehmen, dass August auf seinem Weg so viele lebende Weggefährten und Ahnen um sich schart. Da finden wir alle großen Namen der Psychologie, viele Religiöse und Philosophen aber auch heutige Weggefährten wie Bert Hellinger, Stanislav Grof, Serge Kahilli King, Willigis Jäger, Anselm Grün, Sylvester Walch, Roger Walsh. August Thalhamer würdigt das Wirken anderer, verbindet sie zu einem sich immer weiter spannenden Netz von Menschen. Nur so kann sich immer mehr heiles Wissen und Wirken kristallisieren und so können sich heraufbeschworene Achsen des Bösen aufweichen.

Die dritte Herausforderung dieses Buches ist Thalhamers Leidenschaft fürs Heilen. Heilen ist für ihn Erlösung von Krankheit, Leiden und Schmerz. Fürs Heilen wendet er die Rituale der alten Schamanen an, fürs Heilen weint er, er betet und bittet magische Wesenheiten genauso um Heilkraft wie den christlichen Gott. Er versteht sie alle als Kräfte eines größeren Ganzen. Dadurch gelingt ihm eine Art Transzendenz der Begrifflichkeit. Er findet sich wieder als Schamane, der letztlich nur mit der Kraft des All-Einen Heilung anstößt, unabhängig davon, welche Namen diese Kraft im Dienste von Religionen, Philosophien und Psychologien trägt. Thalhamer durchschlägt gleichsam mit Begriffen, die diese als Mauern gegen die archaischen Heilkräfte der Natur errichtet haben, diese Mauern wieder. Dadurch kann die ursprüngliche Kraft des Lebens wieder wirken. Das sind Herausforderung und Geschenk dieses Buches. Möge es viele Menschen erreichen.

Dr. Carlo Zumstein

29. März 2007

Gründer und Leiter der Foundation for Living Shamanism and Spirituality,

jetzt: The Art of Bridging TAOB Foundation

Prolog

»Wie bist Du zum Schamanismus gekommen?« »Durchs Essen,« antworte ich.

Ich sitze mit einer Kollegin im »Pro«, und noch vor der Suppe berichtet mir Monika Haslhofer begeistert, dass sie an einem schamanischen Seminar teilgenommen habe. Eine Woche später war ich schon auf dem Grundkurs und bald darauf auf dem Seminar über »Extraktion«.

Ich war fasziniert von der Tatsache, dass ich viele Heilungspraktiken unter anderen Namen bereits seit vielen Jahren kannte und (wenn auch nicht in identischer Form) praktizierte.

Und je weiter meine Ausbildung in der Foundation for Shamanic Studies voranschritt, umso sicherer war ich, nicht nur – aufbauend auf meinen bisherigen Ausbildungen und Erfahrungen – eine wesentliche Erweiterung meiner Heilmethoden, sondern auch eine neue Heimat gefunden zu haben.

Da ich mich aber auch im Christentum beheimatet fühle und von Herzen Psychotherapeut bin, musste ich diese drei, auf den ersten Blick doch sehr unterschiedlich erscheinenden Richtungen auf Kompatibilität prüfen – schon, um innere Konflikte zu vermeiden.

Gibt es – geheime – Verbindungen zwischen den dreien? Was ist ihre Schnittmenge? Sind es am Ende drei verschiedene Sprachen, vom Selben zu reden, dieselben Erfahrungen zu beschreiben? So begann ich darüber zu forschen, zu referieren und zu schreiben. Ein paar Aufsätze finden sich auf unserer Homepage:

www.thalhamer-haase.at.

Angeregt durch Karl M. Fischer habe ich nun in diesem Buch zusammengefasst, wie das alles zusammenpassen könnte. So habe ich versucht, den Wissenden zu bestärken, indem er seine Erfahrungen hier wiederfinden und sie vielleicht in einem neuen Licht wertschätzen kann. Schamanischen Greenhorns wollte ich eine Einführung bescheren, durch die sie vielleicht Verbindungen zu ihrer vertrauten Weltsicht herstellen können. Einerseits sollte das Buch persönlich und verständlich geschrieben sein, andererseits auch wissenschaftlichen Kriterien entsprechen.

Sollten Sie theoretische Überlegungen anöden, frage ich mich, wozu Sie dieses Buch gekauft haben. Aber extra für Sie habe ich Geschichten und anschauliche Berichte, ob selbst erlebt oder zitiert, in Schrägschrift dargestellt, sodass Sie ungehemmt (und unbemerkt) von Geschichte zu Geschichte hüpfen können.

Im Gegensatz zu katholischen Priestern, deren Berufung ja kirchenamtlicherseits auf Männer beschränkt wird, ist die Berufung bei SchamanInnen und PsychotherapeutInnen auf Männer und Frauen etwa gleich verteilt. Daher wechsle ich männliche und weibliche Formen ab und gelegentlich finden Sie wie hier das berühmte »Innen«. Es sind in jedem Fall beide Geschlechter gemeint.

Ich danke meinen KlientInnen, die mir so viele Erfahrungen ermöglicht haben, und meinen Freunden, die die Entstehung dieses Buches kritisch begleitet haben.

Da ich geschichtlich sehr interessiert bin, habe ich es nicht lassen können, zur leichteren Einordnung hinter jeden Autor das Todesjahr anzufügen, außer Sie sehen den Namen in Großbuchstaben geschrieben: dann finden Sie daneben das Erscheinungsjahr eines Buches, das hinten in der Literaturliste aufgelistet ist.

So berichte ich von meinen schamanischen Erfahrungen (Namen wurden verändert) und zeige auf, wie sie aus psychologischer und christlicher Sicht erklärt werden könnten.

Eine Einladung, auf seine Eingebungen zu hören, ihnen zu vertrauen und ihnen zu folgen – gleich, ob Sie sie als Botschaften der Spirits, der Weisheit des Unbewussten oder als göttlich bezeichnen.

August Thalhamer

Theologe, Psychologe und Stadtschamane

Linz an der Donau, im Februar 2007

Vorwort zur zweiten Auflage

Es strebt das Herz gern himmelwärts.

Jedoch der Bauch, jedoch der Bauch, der liebt die Erde auch.

Brigitte Heidebrecht

Es geht, so könnte man sagen, in dem Buch um das alte Bemühen des Menschen, seine himmlische und seine irdische Existenz in Einklang zu bringen.

Ich bin dankbar für die vielen positiven Rückmeldungen. Offensichtlich bin ich auf Fragen eingegangen, die sich viele stellen, und es ist nach wie vor das einzige Buch, in dem Schamanismus, Psychologie und christlicher Glaube zusammen in den Blick genommen werden.

Ich danke dem Ennsthaler-Verlag, dass er meine Darlegungen – ergänzt mit gelegentlichen Erweiterungen – neu auflegt.

Und es würde mich freuen, wenn ich ein wenig dazu beitragen könnte, dass Sie sich dem Leben anvertrauen (oder wie immer Sie es nennen) und sich fallen lassen in der Gewissheit, die Rainer Maria Rilke (†1926) so ausdrückte: » ... und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.«

August Thalhamer am 28. August 2013 im 40. Jahr meiner Laufbahn als Trainer und Psychotherapeut

1. Schamanismus

Wenn du die Gärten der Einweihung betreten willst

Wenn du die Schwelle nie überschreiten willst,

wird die Tür nie aufgehen.

Wenn du die Gärten der Einweihung betreten willst,

geht dein Weg am Hüter der Schwelle vorbei.

Es kann vieles sein.

Die Projektion deiner Angst.

Die Emanation deiner Sehnsucht.

Das Spiegelbild deines Egos.

Dein innerer Lehrer.

Dein Schutzengel. Begleiter in das Licht.

Geh vorbei an der Schwelle

und lass dich führen.

Sonia Emilia Roppele

Meine Frauen

Sie entkleiden mich und waschen mich rituell. Dann betrachten sie mein schmerzendes Rückgrat. Sagt die eine: »Das müssen wir reparieren.« Darauf die andere: »Mit Reparieren geht da gar nichts mehr. Diese Teile müssen wir austauschen!« Sie bauen mir drei Wirbel mit den Bandscheiben aus und setzen mir solche aus Wachs und Honig ein. Dann werde ich noch gesegnet. Und die Vision ist vorbei.

Das war 1982. Abgesehen von dem Jahr meiner Scheidung, blieb ich daraufhin bis heute schmerzfrei. Seit meiner Jugendzeit hatte ich immer wieder unter starken Kreuzschmerzen gelitten. Laut Röntgenbild, sagt der Arzt, müsste das nach wie vor so sein.

Als ich gut zehn Jahre später meine erste schamanische Reise machte – so nennt man die Meditation der Schamanen –, erschienen mir die Frauen wieder. Sie waren sehr erfreut, dass ich sie endlich besuchte. Zu ihnen gesellten sich mein Adler, eine Gruppe von Mönchen und höhere Instanzen, die ich nur gelegentlich aufsuche. Damit sind wir schon bei der ersten Grundannahme des Schamanismus:

Erste Grundannahme:
Außer der sichtbaren gibt es noch andere Welten.

Das ist auch wesentlicher Bestandteil aller später entstandenen Religionen. Natürlich werde ich als Theologe erinnert an den Satz des Jesus v.N.: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« (Joh. 18,36; »aber in dieser Welt«, wie es an anderer Stelle der Bibel heißt) oder z. B. an Meister Eckharts (†1328) Formulierung: »Es gibt zweierlei Geburt des Menschen: eine in die Welt und eine aus der Welt« (zit. in Andreas SCHÖNFELD, 2002).

Ich finde es interessant, dass diese »anderen Welten« üblicherweise nicht näher spezifiziert werden, sondern eben als »anders« bezeichnet werden. Auch das Wort »Übernatur« bedeutet ja nur, dass diese Wirklichkeit über die uns bekannte »Natur« hinausgeht. Das Gleiche bedeutet »Transzendenz« (darüber hinausgehend) im Gegensatz zu »Immanenz« (innebleibend). Man verwendet also Worte, die genau genommen ohne Inhalt sind, sondern bloß ausdrücken, was sie nicht bedeuten, wie auch »Nicht-alltägliche Wirklichkeit«, »Außersinnliche Wahrnehmung«, »Nondualität« oder »Das Unbewusste«. Auch wenn Worte »Das Reich der Himmel«, das bei den australischen Aborigines verwendete Wort »Traumzeit« oder »Trance« einladen können, sich darunter etwas Bestimmtes vorzustellen: schon durch die Wortwahl kommt der Respekt vor dem Mysterium zum Ausdruck, das zu ergründen nicht wirklich möglich ist. Es handelt sich – wie auch in diesem Buch – um unzulängliche Versuche, etwas für uns Irdische Unfassbares zu fassen und zu verstehen. Natürlich erschwert das auch die wissenschaftliche Untersuchung (siehe unten), obwohl man paradoxerweise bei Zurücklassung des Denkens und Erklären-Wollens – in der Meditation – diese Wirklichkeit tatsächlich erfahren kann. Wieder wach, fällt es schwer, diese Erlebnisse zu beschreiben. Im Grunde sind alle philosophischen und religiösen Erklärungsmuster ebenso wie die eindrucksvollen schamanischen Bilder mit Vorsicht zu genießen. Es sind Versuche. Und man sollte nie vergessen, sich zwischendurch vor dem unfassbaren Geheimnis zu beugen.

Angeregt durch die über 30.000 Jahre alten Felsmalereien in der Chauvet-Höhle bei Vallon-Pont-d’Arc an der Ardèche, schreibt der bekannte Schriftsteller John BERGER (2006): »Für Nomaden entspricht die Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft der Erfahrung eines Anderswo ... Für beide, Jäger wie Beute, garantiert das Versteck das Überleben. Alles hängt davon ab, dass man einen Unterschlupf findet. Alles versteckt sich. Was verschwunden scheint, ist bloß vor den Blicken verborgen. Eine Abwesenheit – wie die nach dem Tod – wird als Verlust, aber nicht als Verlassensein empfunden. Die Toten verstecken sich bloß woanders.«

Schon im Schamanismus wird diese andere Welt als bevölkert erlebt: nicht nur von den Toten, sondern auch von Dämonen und von mächtigen Geistwesen, die man kontaktieren und um Schutz und Hilfe, um Kraft, Heilung und Erkenntnis bitten kann. Oft werden dazu besondere Kraftplätze genützt und es gibt auch bestimmte Zeiten, in denen das Tor zur Geisterwelt offener ist als sonst, z. B. die Nächte beim Wechsel der Jahreszeiten.

In den späteren Hochreligionen werden diese Geistwesen oft als »Engel« (griechisch: angeloi) bezeichnet, was wörtlich »Botschafter« bedeutet, also Kommunikatoren zwischen dem unfassbaren Urgrund des Seins und dem Menschen. In der Bibel werden sie auch »Mächte und Gewalten« genannt. Der große Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin (†1274) nennt sie »Wesenheiten, die keinen Anteil an der Materie haben.« Gewissermaßen anschaulichere, fassbarere Mittler zwischen dem gänzlich unfassbaren Urgrund, dem Wesen des Seins – bei uns üblicherweise mit der Chiffre »Gott« bezeichnet – und uns Irdischen. (Siehe dazu meine Ausführungen unten: Ist Schamanismus eine Religion?)

Der Freud-Schüler C.G. JUNG (1995) begegnete in der außergewöhnlichen Wirklichkeit, die er »Phantasie« nannte, seinem Geistführer, der sich »Philemon« nannte und ihm entscheidende Erkenntnisse vermittelte. Und er betont: »Wir sind dermaßen in unser subjektives Bewusstsein verwickelt und verstrickt, dass wir einfach die uralte Tatsache vergessen haben, dass Gott hauptsächlich durch Träume und Visionen spricht.«

Auch Sokrates (†399 v.Chr.) sagt in einem der Dialoge Platons (†347 v.Chr., zit. in GOLDBERG, 1983): »Durch die Gunst der Götter stand mir seit meiner Kindheit ein halbgöttliches Wesen zur Seite.«

Im Schamanismus, der ältesten Form der Medizin und Psychotherapie – wahrscheinlich seit mehr als 30.000 Jahren praktiziert –, nützt man diese Ressourcen der Anderswelt zur Lösung von Problemen aller Art. Der Schamane begibt sich dazu (mit Hilfe von Tanz und Musik, z. B. von Trommeln, Rasseln, Gesängen, in manchen Weltgegenden auch mit Hilfe psychotroper Substanzen) in Trance und reist zu seinen Ahnen, zu seinen verbündeten Geistwesen (sie werden manchmal auch als »Götter« bezeichnet), zu den Kräften der Erde und des Himmels, zu seinen Krafttieren, Lehrerinnen und Führern.

Voraussetzung ist die Annahme einer körperunabhängigen Seele, die den Körper nach dem Tod verlässt, aber auch schon zu Lebzeiten in andere Welten wegfliegen kann. (Manche Forscher vermuten diesen Seelenglauben bereits bei den Neandertalern, die im Mittelpaläolithikum, in der Zeit von ca. 130.000 v.Chr. bis ca. 30.000 v.Chr. lebten, weil einige wenige Bestattungsarten darauf hinweisen könnten, dass schon damals an eine Existenz nach dem Tod geglaubt wurde.)

Gelegentlich wird der Schamane deshalb als »verrückt« bezeichnet, weil er aus dem normalen Bewusstheitszustand in einen veränderten hinüberrückt – in einen Trance-Zustand, sich dann vielleicht auch eigenartig bewegt und spricht, im Unterschied zum bleibend Verrückten (für den ihn westliche Psychologen bis in die 1950er Jahre gehalten haben), aber wieder ins Alltagsbewusstsein zurückrückt, wenn er seine Aufgabe für einzelne oder die Gemeinschaft erledigt hat. Mircea ELIADE (1954) berichtet: »Wer sich dem Schamanismus als Psychologe nähert, ... wird ihn unfehlbar mit bestimmten Formen seelischer Verirrung vergleichen oder gar unter die geistigen Krankheiten hysteroider und epileptischer Struktur einreihen« und belegt in seinem Standardwerk als einer der ersten ausführlich, »warum uns die Gleichsetzung des Schamanismus mit irgendeiner Geisteskrankheit unannehmbar erscheint.«

Roger N. WALSH (1992), der das Schamanentum mit den Augen des Psychologen durchleuchtet: »Es hat in der westlichen Psychiatrie Tradition, Mystiker als Irre, Heilige als Psychotiker und Weise als Schizophrene zu betrachten, und dies ungeachtet der Tatsache, dass die großen Heiligen und Weisen möglicherweise den Gipfel menschlicher Entwicklung repräsentieren und den stärksten Einfluss auf die menschliche Geschichte gehabt haben.«

Es ist ja nicht von vornherein klar, sondern von der Gesellschaft festgelegt, was als wahnsinnig und was als normal gilt. Bekanntlich werden Verrückte (wie Kriminelle oder manche Minderheiten) nicht nur (bewusst) aus Sicherheitsgründen ausgegrenzt oder in entsprechenden Institutionen hinter Schloss und Riegel gebracht, sondern (unbewusst), weil sie eigene Schattenanteile repräsentieren, die man ablehnt.

Während Anthropologen und Psychiater bei SchamanInnen »Geisteskrankheit«, »Epilepsie« oder »Hysterie« diagnostizierten oder sie als »Schwindler und Scharlatane« bezeichneten, als pathologische Persönlichkeiten, deren Verfahren als völlig unwissenschaftlich und wirkungslos abzulehnen wären, behaupteten Priester und Missionare, dass SchamanInnen mit dem Teufel im Bunde stünden, wohingegen die weltliche Macht Schamanen oft deshalb verfolgte und auszurotten suchte, weil sie im Volk hoch geachtet und meist nicht ohne weiteres bereit waren, sich einer unterdrückenden Macht unterzuordnen. Ähnlich wie die Mystiker aller Religionen von ihren religiösen Institutionen und Machthabern oft erhebliche Repressionen zu erleiden hatten, weil sie ja in erster Linie ihrer inneren Führung folgen wollten und sich die Beschreibung ihrer Erfahrungen oft erheblich von der offiziellen Doktrin unterschied. Bisher hat die klassische Ethnologie den Schamanismus meist aus einer fast musealen Perspektive als untergehende Kulturform beschrieben.

Über die Geschichte der Rezeption des Schamanismus im Westen siehe Amélie SCHENK (1999), wo sie deutlich macht, wie sehr das Bild des Schamanismus von der jeweiligen Kultur des Betrachters abhing – was natürlich auch auf mich und meine Ausführungen zutrifft.

Das aus dem Tungusischen (Sibirien) stammende Wort »Schamane« (es ist auch dort ein Fremdwort, kommt wahrscheinlich aus dem Sanskrit und bedeutet »der Erregte, Bewegte, Feurige«, vielleicht auch »der Wissende«; manchmal wird es auch mit »der Verrückte« übersetzt – die exakte Bedeutung ist nicht eindeutig eruierbar) wurde von den Anthropologen als Begriff für alle Heiler in den Stammeskulturen eingeführt, die in Trance mit Hilfe von Geistwesen im Dienst der Gemeinschaft Probleme lösen. Eine gute Darstellung findet sich im Standardwerk von Mircea ELIADE (1954), einen Eindruck z. B. vom asiatischen Schamanismus erhält man mit beeindruckenden Bildern durch den ungarischen Anthropologen Mihály HOPPÁL (1994).

Die meisten SchamanInnen üben ihre spirituelle Tätigkeit nicht hauptberuflich aus. Andreas REIMERS (2005) berichtet z. B. über Nepal: »Nach neueren Untersuchungen gibt es ca. 700.000 Schamanen ..., die neben ihrem eigentlichen Broterwerb als Bauern und Handwerker für die Gesundheit von durchschnittlich fünfzig Personen zuständig sind.«

Die Hauptaufgabe des Schamanen besteht darin, das soziale und wirtschaftliche Leben seines Dorfes, seines Stammes und der einzelnen Stammesmitglieder immer wieder mit der Ordnung alles Existierenden und den anderen Welten in Einklang zu bringen und Störungen zu beheben, die sich auch in Krankheiten ausdrücken können.

Er ist also der erste Systemiker schlechthin: Er sieht und behandelt ein Problem des Einzelnen (oder des Stammes) nicht nur im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte und dem Beziehungsgefüge in dem der Betreffende lebt oder gelebt hat, sondern betrachtet auch Zusammenhänge mit der übrigen Natur, die als Geschenk verehrt und als Bedrohung gefürchtet wird, und mit der Welt der Toten, insbesondere der Ahnen, und der Welt der Geister. Er ist auch dafür verantwortlich, dass die Seelen der Verstorbenen verlässlich in der anderen Welt ankommen und nicht in dieser Welt hängen bleiben und z. B. als Gespenster lästig werden.

Schamanen sind also die Mittler und Wanderer zwischen den Welten, gemäß dem Bild des Weltenbaums oder der Weltenachse, das in vielen Kulturen verbreitet ist; auch bei unseren keltischen Vorfahren, wie es BURGSTALLER (1989) – wahrscheinlich historisch nicht korrekt – aus den Felszeichnungen in der »Notgasse« im oberen Ennstal herauszulesen glaubte: Von den drei Hauptteilen des Baumes, Wurzel, Stamm und Krone, stellt der Stamm die Welt dar, die wir mit unseren Sinnen im Wachzustand wahrnehmen. Darum wird unsere Alltagswirklichkeit schamanisch oft auch als »die mittlere Welt« bezeichnet, wobei man sich die anderen Dimensionen als die obere und die untere Welt vorstellt.

Es ist klar, warum Vertreter anderer Kulturen überhaupt nicht verstehen können, dass viele in unserer (wie wir sie bezeichnen) hochzivilisierten Gesellschaft die sichtbare Welt als einzig existierende ansehen. Ob wir denn nicht wüssten, dass der Stamm alleine nicht leben könnte! »Es unterliegt keinem Zweifel, dass in diesem geschichtlichen Augenblick die westliche Kultur schwer erkrankt ist,« sagt der Afrikaner Malidoma Patrice SOMÉ (1996). Der amerikanische Psychologe und Philosoph William James (†1910, zit. in Holger KALWEIT, 1988) glaubte, der normale Mensch sei nur halb wach und ähnle einem Hysteriker, dessen Wahrnehmungsfeld stark eingeengt ist und der nur in einem sehr begrenzten Ausschnitt seines ganzen Wesens lebt: »Wir alle haben Lebensreserven, von denen wir nur träumen können.«

Aus psychologischer Sicht sind die Totemtiere Projektionen, ebenso wie die weisen Kräfte, die uns führen und lehren, und natürlich auch Gott. Das ist m.E. keine Abwertung, da ich ja nur nach außen projizieren kann, was ich in mir habe. Der Kritik des militanten Atheisten Richard DAWKINS (2006), »dass nicht die Menschen von Göttern, sondern die Götter von Menschen erschaffen wurden,« kann man so unbedenklich zustimmen. Sagte doch schon Johann Wolfgang von Goethe (†1832):

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,

die Sonne könnt’ es nie erblicken;

läg’ in uns nicht des Gottes eigne Kraft,

wie könnt’ uns Göttliches entzücken?

Meiner Erfahrung nach, ist es unerheblich für die Effizienz der Arbeit, ob der Patient psychotherapeutische Ressourcenarbeit macht und Lösungen aus seinem Unbewussten aufsteigen lässt, oder ob er ein Problem schamanisch zu lösen sucht, indem er in Trance seine verbündeten Geistwesen um Hilfe bittet. Da ich ja in beiden Feldern arbeite, bin ich überzeugt davon. Allerdings eben auch, dass unser innerer Reichtum unermesslich und ganz Außergewöhnliches zu leisten im Stande ist.

Im Westen wurde der Schamanismus in den 1960er Jahren durch den amerikanischen Anthropologen Carlos CASTANEDA (1998) weithin bekannt, z. B. durch »Die Lehren des Don Juan«, wo er beschreibt, wie er – zunächst mit Hilfe bewusstseinsverändernder Pflanzen und Pilze – lernte, in die Welt der nicht-alltäglichen Wirklichkeit der Yaqui-Indianer Mexikos zu reisen. Er geht aber v.a. den Weg eines »Mannes des Wissens und der Macht«, was ich nicht unbedenklich finde. Es stellt sich nämlich die viel wichtigere Frage, wofür ich sie einsetze. Wissen und Macht sind wertneutral und kein Selbstzweck und können sowohl zum Schaden wie zum Nutzen der Welt und des Einzelnen eingesetzt werden.

Auf jeden Fall könnte der Drogenboom, der Ende der 1960er mit der Hippie- und Flower-Power-Bewegung begann, als viele Versuche mit Marihuana oder LSD begannen, außer der Flucht aus einer öden Alltagswelt auch die Ahnung und die Sehnsucht nach dieser anderen Dimension bedeutet haben. Für die Allermeisten war eine positive Auswirkung dieser bewusstseinsverändernden Substanzen freilich nicht nachweisbar. Sonst müssten ja alle, die von einem »Rave« kommen, erleuchtet sein, was nicht der Fall zu sein scheint.