Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

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Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
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AVA FARMEHRI

IM DÜSTERN WALD WERDEN UNSRE LEIBER HÄNGEN

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN VON SONJA FINCK


Die Originalausgabe des vorliegenden

Buches erschien unter dem Titel

Through The Sad Wood Our Corpses Will Hang

bei Guernica Editions, Toronto

© 2017 Guernica Editions Inc.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.


Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts und der Ontario Book Publishers Organization für ihre Unterstützung.

Verlag und Übersetzerin bedanken sich bei Jutta Himmelreich für die Durchsicht der persischen Transkriptionen.

Die Zitate von Dante Alighieri folgen der Ausgabe

Die Göttliche Komödie, aus dem Italienischen von Ida und Walther von Wartburg, Manesse Verlag, Zürich 1963.

Alle anderen Zitate wurden von Sonja Finck übersetzt.


Edition Nautilus GmbH · Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg · www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH

Deutsche Erstausgabe September 2020

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

ePub ISBN 978-3-96054-235-3

Meinen Eltern.

Und diesem legendären Ort: Zuhause.

In dem Wald, dem düstern, werden unsre Leiber hängen, jeder am Dorngestrüpp des eignen Schattens. Dante Alighieri, Inferno

Freiheit von Angst ist die Freiheit, die ich für mein Mutterland fordere! Freiheit von der Last der Jahrhunderte, die dich niederdrücken, dir das Rückgrat brechen, dich blind machen für die Verheißungen der Zukunft; Freiheit von den Fesseln des Schlafs, mit denen du dich in der Stille der Nacht festkettest, erfüllt vom Misstrauen gegen den Stern, der von den abenteuerlichen Wegen der Wahrheit erzählt; Freiheit von der Anarchie des Schicksals. Volle Segel werden blinden, ungewissen Winden überlassen und das Ruder einer Hand, die so starr und kalt ist wie der Tod. Freiheit von den Zumutungen einer Marionettenwelt in der alle Bewegungen durch hirnlose Fäden ausgelöst werden, wiederholt aufgrund gedankenloser Gewohnheiten, einer Welt, in der Figuren geduldig und gehorsam auf den Puppenspieler warten, auf dass er sie zu einer Illusion von Leben erwecke. Rabindranath Tagore

Die einzige sichere Freiheit liegt im Weggang. Robert Frost

Inhalt

ERSTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

ZWEITES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

DRITTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

VIERTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

FÜNFTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

SECHSTES KAPITEL

Kapitel 1

SIEBTES KAPITEL

Kapitel 1

Schwarzes Schaf

ACHTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

NEUNTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

ZEHNTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

ELFTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

ZWÖLFTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

DREIZEHNTES KAPITEL

DANKSAGUNG

DANKSAGUNG DER ÜBERSETZERIN

ERSTES KAPITEL
1

Sie werden mich töten.

Mein Prozess hat drei Wochen gedauert. Und ich habe noch Glück, manch unglückliche Seele wartet jahrelang, nur um am Ende dieselbe Nachricht zu erhalten. Ich habe allerdings auch schon von schnelleren Urteilen gehört und gelesen, und so kam die zügige Entscheidung nicht überraschend. Jedenfalls nicht für mich. Schließlich ist das hier Iran.

Während der Urteilsverkündung stand ich in Handschellen in einem Saal voller düster dreinblickender Polizisten, zwei Psychiatern, einem Richter und einem Pflichtverteidiger, der sich große Mühe gab, ein enttäuschtes Gesicht zu machen. Er war ein guter Schauspieler, wenn man bedenkt, wie absehbar das Urteil war. Mein umfassendes Geständnis und meine Weigerung, mich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, wie es mir mitleidige Verwandte und barmherzige Nachbarn nahegelegt hatten, lassen ja auch keinen großen Interpretationsspielraum. Zumal es eine Augenzeugin gibt.

Ich erwarte nichts im Gegenzug für mein Geständnis; ich will keinen Deal machen, damit das Gericht mein Leben verschont; ich habe auch nicht versucht, den Prozess durch irgendwelche Anträge in die Länge zu ziehen. Man hat mir eine Frage gestellt und ich habe sie wahrheitsgemäß beantwortet. Ich dachte: Sheyda, warum muss im Leben immer alles an Bedingungen geknüpft sein? Warum gibt es überall diese Mentalität des Feilschens, selbst wenn es um hehre Ideale geht? Warum wird die Wahrheit ständig durch Duckmäuserei und Anspruchsdenken ausgehöhlt? Mein Leben lang hielt man mich für eine Lügnerin, dabei wollte ich im Prinzip immer nur eins: mich reinwaschen. Die Wahrheit befreit dich, heißt es, aber glaubt mir, rein gar nichts befreit dich.

 

Bis vor kurzem dachte ich, der Tod würde diesbezüglich ganz gute Dienste leisten, aber während ich in meiner Zelle hockte und zusah, wie die anderen Frauen zu ihrer Urteilsvollstreckung gebracht wurden, hatte ich genug Zeit, über diese Frage nachzudenken. Die Frauen würden glücklicher aussehen, dachte ich, wenn sie tatsächlich drauf und dran wären, sich frei wie ein Vogel in die Lüfte zu schwingen und die bleierne Schwere des Körpers hinter sich zu lassen. Ich fragte mich, warum keine dieser Frauen lächelte. Warum manche beteten, bevor man ihnen Handschellen anlegte und sie aus der Zelle führte. Worum kann eine Mörderin Gott schon bitten? Um Vergebung? Um Vergebung kann man nur das Mordopfer bitten, und da es nicht mehr unter den Lebenden weilt, wäre das unlogisch und sinnlos.

Mein Anwalt konnte mir nicht ins Gesicht sehen. Meinen hochgeschätzten Psychiater Dr. Fereydun wiederum verrieten seine weichen Knie. Er musste sich setzen und stand erst wieder auf, als ich aus dem Gerichtssaal gebracht wurde. Ich drehte mich noch einmal zu ihm um, grinste zufrieden und winkte.

Das Gute an einem Todesurteil ist, dass es die Dinge relativiert. In dieser Hinsicht ist es einer Nahtoderfahrung nicht unähnlich, auch wenn ich eine solche noch nie am eigenen Leib erfahren habe. Aber ich kenne alle möglichen Klischees von einem Licht und einem Tunnel und wie man in Gottes Hauptquartier entschwebt und von oben auf den eigenen leblosen Körper hinabblickt. Als ich im Gericht auf mich selbst hinabblickte, sah ich Tränen in meinen Augen und meine wie zum Gebet gefalteten Hände in Handschellen. Ich sah Tränen, die von den Zeitungen und von den Zuschauern vermutlich entweder als Krokodilstränen oder als Zeichen aufrichtiger Reue gedeutet wurden, und eine Handhaltung, die man als flehend oder fatalistisch hätte interpretieren können.

Eins möchte ich klarstellen: Meine Tränen waren Freudentränen. Meine Handhaltung war allerdings tatsächlich fatalistisch. Ich barg mein ganzes Leben, die zwanzig Jahre, die ich als Sünderin in Gefangenschaft auf dieser Welt verbracht hatte, in der hohlen Hand. Ich blickte hinab auf meine Stirn, die weiß schimmerte, obwohl ich seit Tagen nicht geduscht hatte, und eins kann ich euch sagen: Meine Stirn war makellos wie eine blütenweiße Weste. Meinen blonden Pony hatte ich extra kurzgeschnitten, um meine Ehrlichkeit zu betonen. Alle sollten sehen können, wie aufrichtig ich war.

Mein fahles Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch sah fast aus wie das einer Heiligen. Ich hatte meinen Lebtag nicht so friedlich gewirkt, mit einem solch grotesken Ausdruck der Entzückung, ähnlich wie meine Mutter bei ihrem Tod. Mein Blick wanderte zu meinem Rücken, und tatsächlich, rechts und links der Wirbelsäule sprossen Flügel. Kräftige weiße Federn bohrten sich zaghaft durch die Haut. Ich schwebte in dem kalten Gerichtssaal und sah nichts als fremde Gesichter. Niemand kannte mich. Ich war ein Engel, ein missverstandener Engel. Das bin ich immer noch.

Wird man mich nach islamischem Brauch neben meinen Eltern begraben? Wird mich irgendwer auf dem Friedhof besuchen und Rosenwasser auf meinen Grabstein sprenkeln? Wird irgendwer das Unkraut oder die Blumen auf dem grünen Grasteppich begießen, unter dem ich schlafe? Wird irgendwer ein Gebet für meine verlorene Seele sprechen? Wird irgendwer Tränen vergießen ob der vielen Ungerechtigkeiten, die mir von allen Blicken verborgen widerfahren sind?

Wer bin ich? Nur ein weiteres Gesicht. Irgendein Name. Ein gebrochenes Genick von vielen. Die Menschen werden mich schnell vergessen, so wie sie alle vergessen, einschließlich ihrer toten Verwandten. Meine Gefängnisakte wird im Archiv verstauben; ich werde nichts als eine flüchtige Schlagzeile in der Zeitung sein, ein Gesicht, das man wiedererkennt und auf das man spuckt: »Das ist doch das Monster, das seine Mutter umgebracht hat.«

Wer wird zu meiner Beerdigung kommen? Menschen, die erleichtert sind, dass ich tot bin? Nein. Zu meiner Beerdigung sollen nur Vögel kommen. Mein seelenloser Körper soll in einem Turm des Schweigens aufgebahrt werden, damit die Geier sich über ihn hermachen können. Legt meinen Leichnam oben auf einen kahlen Berg und lasst die Natur von meinen Zehen und Ohren zehren, bis nichts mehr von mir übrig ist. Ich will neben blutigen, zerfetzten, verwesenden Leichen ruhen. Die kahlköpfigen, hässlichen Vögel sollen mich in die Lüfte heben und mich dann wieder fallen lassen. Während meines Sturzes wird mein Kopf am gebrochenen Genick hin- und herpendeln, und meine Augen werden zum Himmel stieren. Ich will zerschmettert werden. Ich will, dass die Vögel mein Knochenmark aussaugen.

Ich will, dass Geier mit mir in die Freiheit fliegen, dass sie mich in ihren geblähten Bäuchen zum Himmel tragen, dass sie meine Träume bitter auf ihren sehnigen Zungen schmecken, dass ihnen mein Haar aus dem Schnabel hängt. Ich will, dass mein Gesicht in ihren wütenden schwarzen Augen brennt und meine versklavten braunen Augen ihnen als Erinnerung ins Gesicht geschrieben stehen. Und wenn sie krächzen, werden sie klagend meinen Namen krächzen.

2

Ich kam in Gefangenschaft zur Welt.

Ich wurde am 1. April 1979 in Teheran geboren, am selben Tag wie die Islamische Republik.

Monate vor meiner Geburt wurde ein Schah von seinem Volk verraten und auf den Mattscheiben weltweit als Verräter dargestellt. Zusammen mit seiner Kaiserin wurde er ins Exil und dann in einen Tod geschickt, der seinen größten Schmerz und seine schlimmsten Albträume übertraf. Monate vor meiner Geburt wurde die Geschichte eines Landes seziert, man kaute darauf herum wie auf dem fleischigen Teil eines Hühnerhalses, und das Gerippe seiner Zukunft wurde bärtigen Hunden und Krähen vorgeworfen, die krächzend ihr heiliges Buch zitierten, nur um dasselbe Buch dann wegzuwerfen und sich hinter hohen Säulen zu verbergen. Ein Hubschrauber hob ab, und Iran stand unter Belagerung.

Monate vor meiner Geburt beerdigten alte Frauen verkohlte Leichen, von denen sie annahmen, dass es ihre Kinder waren, und fragten Gott: Warum? Warum? Junge Männer und Frauen, die dem Gebrüll der Demonstrationen hatten entfliehen wollen, saßen im Cinema Rex und sahen sich Gavaznha an. Sie lachten über die Ironie im Film, ohne zu wissen, dass sie die Ironie des Schicksals im nächsten Moment am eigenen Leib erfahren würden. Männer und Frauen, die nicht lange genug lebten, um zu erfahren, dass der Film seinen Titel Gavaznha, »Reh«, erst in letzter Minute bekommen hatte, genauso wie sie selbst sich in letzter Minute auf der grausamen Liste des Todes wiederfanden, quasi Gottes letzter Gedanke vor dem Einschlafen. Männer und Frauen, gejagt und getötet, die Gesichter von Naivität entstellt.

Monate vor meiner Geburt erschien der Tod auf den Straßen Irans. Im Narrenkostüm eines Rattenfängers rief er die Kinder bei ihrem Namen, spielte auf seiner magischen Flöte und lockte sie in den Fluss, wo sie ertranken. Bildhübsche Mädchen räumten ihre Miniröcke in den Schrank und bügelten einen Tschador, der schwarz war wie ihre Tränen. Flochten ihr langes Haar zu Altfrauenzöpfen. Es war die Zeit der Cordhosen, Pluderhosen, Schlaghosen, der Armreifen und Jumpsuits, der Stirnbänder und Makramé-Gürtel, der Römersandalen und Batik-T-Shirts, die Zeit, in der langhaarige Europäer beiderlei Geschlechts Friedensplakate in die Höhe reckten und in grünen Ford Cortinas oder himmelblauen Rovers nach Katmandu fuhren. Es war die Zeit von »Kung Fu Fighting« und »Greased Lightning«, von Abba und den Bee Gees. Es war die Zeit von amerikanischen Nachbarn, mit denen wir alles teilten, Freundschaft und Essen, Leben und Geschichten, die Zeit, bevor wir unsere Schwerter zogen und sie als Geiseln nahmen, bevor sie uns Terroristen nannten und drohten, bei uns für Ordnung zu sorgen. Es war die Zeit, in der Frauen nicht fürs Verliebtsein gesteinigt wurden, Männer nicht für ihre Meinung gehängt wurden, Schultern nicht ausgepeitscht wurden, weil sie nackt waren, Haar nicht dafür bestraft wurde, weil es schön war, Träume nicht erstickt wurden, weil sie Träume waren, und Flügel nicht gestutzt wurden, weil sie fliegen wollten. Aber ich war damals noch nicht da, um all das zu sehen. Ich bin zu spät geboren. Als ich die Augen in dieser finsteren Welt aufschlug, war eine Dynastie zerschlagen worden. Eine Weste war dreckiggewaschen und ein Land saubergeraubt worden.

Ich kam unfrei zur Welt. Ich hörte die nostalgischen Geschichten von den Lippen der Menschen um mich herum und hielt sie für erfunden. Abends zappelte ich in meinem Bett herum und drückte meinen Teddy an mich, der genauso begierig wie ich darauf war, Scheherazades zeitgenössische politisch-religiöse Nacherzählung einer Vergangenheit zu hören, die anders als die Gegenwart nicht nur aus Schwarz, Weiß und Grau bestand, einer Vergangenheit aus eleganten Kleidern und seltsamen Frisuren. Eine Nacht von vielen in diesem Land aus Tausendundeiner. In der neuen Version der Geschichte war die Tochter des Wesirs fromm und sittsam gekleidet, und sie sprach mit gedämpfter Stimme, weil die Stimme einer Frau nun einmal etwas ist, wofür sie sich schämen muss. In dieser Version war es Scheherazade egal, ob sie lebte oder starb.

»Unser Land ist ein Land der Geschichten und ein Land der Gegensätze. Und keine Geschichte ist zu alt, als dass man sie nicht immer wieder erzählen könnte«, raunte mir meine Mutter zu. Dann zog sie Kleidungsstücke aus dem Schrank und führte sie mir vor: Vaters Polyesterhemd und ein schulterfreies goldenes Paillettenoberteil aus einer Zeit, als sie noch in Discos ging. In Discos! Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie meine heiligengleiche Mutter in einem knappen rosafarbenen Cocktailkleid mit Faltenrock und Plateauschuhen an einer Olive aus ihrem Martini knabberte, während sie dem Mann schöne Augen machte, der an jenem Abend ihre Lippen küssen und Monate später mein Vater werden würde. Meine Mutter, die ihr Leben lang alles mit der Zurückhaltung einer Mona Lisa angesehen und angelächelt hatte: Bin ich glücklich oder traurig? Ist das wirklich ein Lächeln? Ich bin ein Irgendwas, ein namenloses Dazwischen. Immer, wenn ich die Augen öffnete und meinen Teddy ansah, lächelte auch er mit schockgeweiteten Augen sein aufgenähtes Mona-Lisa-Lächeln. Meine Mutter war ein Teddybär.

»Es gibt Fotos!« Als Beweis hielten mir meine Mutter und meine Tante Bahar Fotoalben vor die Nase und wiesen auf ihre glattrasierten nackten Beine, die bodenlangen Festkleider, die unverschleierten Hochsteckfrisuren und die lackierten Zehennägel, die aus Sandalen hervorschauten. Aber ihre Erzählungen und das, was ich um mich herum sah, passten nicht zusammen. Ich nahm die Fotos in die Hand, sah nachdenklich aus dem Fenster und dachte: »Wie sind wir von dem da zu dem hier gekommen?«

Meine Mutter sagte oft: »Das alles gab es wirklich. Wir hatten ein Leben in asadi, in Freiheit.«

Asadi. Asadi. Von dem Wort bekam ich Albträume. Es bedeutete alles und nichts. Es war ein unerreichbares Ideal, wie »Perfektion« und »Gott« und »wahre Liebe« und »Zuhause«. Es ist ein Ideal, das man sehen, berühren, schmecken und am eigenen Leib erfahren muss. Man muss die Freiheit erlebt haben, um an ihre Existenz zu glauben. Man muss sie geliebt haben, um an ihre Wahrheit zu glauben.

»Und wie hat sich das angefühlt?«, fragte ich die beiden oft.

»Also … äh …«, stammelten sie. Sie wussten nicht, was sie antworten sollten, die Sprache hatte sie verlassen. Aber ihre Augen drückten aus, was ihre Zungen nicht sagen konnten.

Ich wurde in Gefangenschaft geboren. Und mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, ob überhaupt irgendjemand frei geboren wird.

3

Yeki bud, yeki nabud,

gheir az choda, hietsch-kas nabud.

Mit diesem unlogischen Satz begann meine Mutter jeden Abend ihre Gutenachtgeschichte, und trotz seiner Unlogik war er melodiös genug, um mich in eine Nacht süßer Träume und endloser Grübeleien zu entlassen. Rechts und links von meiner Wirbelsäule begann es zu jucken, und wenn die Geschichte zu Ende ging, waren mir Flügel gewachsen, die mich aus den Trümmern der Realität in einen Himmel der Ideen hoben. Meine Mutter, deren Gesicht im Schein der Nachttischlampe orange leuchtete, sagte immer: »Du brauchst keine Flügel, um zu fliegen, du brauchst nur deine Phantasie. Du brauchst nur ein liebendes Herz.« Ich starrte hingerissen auf ihre ovalen Nasenlöcher und die stecknadelköpfigen schwarzen Haare an ihrem Kinn, die ich manchmal mit der Pinzette entfernen durfte, und wartete, dass sie die Tür zu meinem Käfig aufschloss und mich freiließ: ihre liebeskranke Nachtigall.

 

Träume kosten nichts, und niemand konnte mir meine Träume nehmen. Während der acht Jahre eines Kriegs, der zu beiden Seiten einer heimtückischen Grenze Kinder zu Waisen machte, Frauen zu Witwen, dunkelhäutige Väter zu Beinamputierten und Brüder zu kopflosen Leichen, wagte ich mich erst im Schutz der Finsternis, wenn der Rest der Welt schlief und das Böse ruhte, aus meinem enger werdenden Käfig und flog zum Mond. Nur in seinem Licht fühlte ich mich geborgen, nur in seinem Licht konnte ich schlafen.

Meine Mutter hatte Englisch studiert und beabsichtigte, Lehrerin zu werden. Sie hatte die Sprache an der Universität gelernt und sie in Gesprächen mit einer amerikanischen Familie, die vor der Revolution drei Straßen von unserem Haus entfernt wohnte, geübt. Unsere amerikanischen Nachbarn kehrten lange vor dem Sturz des Schahs in ihr fernes, lautes Land zurück, wo sie Rasen mähten und den Gartenzaun strichen. Meine Mutter schwärmte heimlich für ihren Lehrer (der Apfel fällt nicht weit vom Stamm), einen gewissen Mr Carl, der meinem Vater zufolge CIA-Agent war. Während der Revolution, als die Religionspolizei Wohnungen durchsuchte und alles beschlagnahmte, was in ihren Augen gegen die guten Sitten verstieß (Kartenspiele, Alkohol und sämtliche Fotos kopftuchloser Frauen), vergruben meine Eltern Bücher, Zeitschriften und alle unislamischen Fotos von sich selbst im Garten. Auf diese Weise ging man bei uns mit der Vergangenheit um. Man begrub sie, um sie zu bewahren.

Als meine Mutter ungeplant schwanger wurde und ihr Studium abbrechen musste, gab es nur noch eine Möglichkeit, ihren Traum vom Unterrichten zu verwirklichen: Ich wurde ihre Schülerin, ihre einzige Schülerin. Zwar lernte ich schnell Englisch, aber manche Wörter konnte ich erst Jahre später richtig aussprechen. Lange klang »Hawaii« wie »Havaii«, »waitress« wie »vaitress« und »knife« peinlicherweise wie »kneif«.