Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

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»Ich bin keine Diebin, ich bin keine Diebin, ich bin keine Diebin. Er hat gesehen, wie ich die Katze genommen habe, aber er hat kein Wort gesagt.« Diese Sätze sprach ich mir immer wieder vor und schwor mir selbst, dass sie die Wahrheit waren, bis ich irgendwann einschlief. Falls meine Mutter mich bei meinem Vater verpetzte, wollte ich es nicht hören.

In der Nacht wachte ich auf, als meine Mutter misstrauisch schnuppernd ins Zimmer kam. Sie brachte mir ein Honigbrot auf einem Tablett. »Du hast den ganzen Tag nichts gegessen, und wir haben keine Marmelade mehr«, sagte sie lächelnd und schob mir ein Kissen in den Rücken, während ich mich gähnend aufsetzte.

Ich wollte ihr eigentlich die Frage stellen, tat es dann aber doch nicht. Es war nicht mehr wichtig, weil ich mit einem Mal sicher war, dass mein Vater mich in Schutz genommen hatte. Jetzt liebte ich ihn wieder. Als ich die Decke wegschob, um mir die Zähne putzen zu gehen, setzte ich den darunter gefangenen Gestank frei. Meine Mutter fiel fast in Ohnmacht. »Ey choda, Sheyda!«, rief sie und hielt sich die Nase zu. Dann zerrte sie mir das Nachthemd über den Kopf, spülte mich in der Badewanne ab und zog mir ein sauberes Nachthemd an, das sich weich und beruhigend anfühlte wie frischer Schnee. Anschließend versuchte ich, ihr beim Umdrehen der Matratze zu helfen, tänzelte um sie herum, zog an dieser oder jener Ecke, war aber im Prinzip völlig nutzlos. Meine Mutter sagte, jetzt sei es zu spät, um noch irgendwas gegen den Gestank zu tun.

Ich putzte mir die Zähne, und als ich zurück in mein Zimmer kam, sah ich, wie meine Mutter einen Haufen Sachen unter dem Bett hervorzog und die schmutzige Wäsche aussortierte, die ich dort versteckt hatte. Mit spitzen Fingern hielt sie ein Rüschennachthemd und drei Schlüpfer mit gelben Flecken in die Höhe, Beweise, die ich nicht verleugnen konnte. Beschämt schlich ich zu meiner Schultasche und zog weitere Schlüpfer zwischen den Büchern hervor. Sie waren noch feucht. Ich kroch in mein frischbezogenes Bett, und meine Mutter deckte mich zu, rieb mir mit dem Handrücken das gewaschene Gesicht trocken und streichelte über die Stelle, wo sie mich zuvor geschlagen hatte. Mit nach Safran duftenden Fingern zog sie die Konturen meines Gesichts nach und sang mich mit meinem Lieblingslied in den Schlaf:

La la la la Laleh Du bist meine Himmelsblume La la, du warst mein Schicksal Schlaf, Gefährtin meiner Seele Schlaf, meine Nachtigall mit glockenheller Stimme Schlaf, mein Liebling, der mich glücklich machen wird Eine Nachtigall singt in meinem Herzen Schlaf, meine blühende Blume Schlaf, mein kostbares Juwel Schlaf, mein Augenlicht Dein mondbeschienenes Gesicht ist mein Paradies Mein Herzenslicht Du bist mein süßer Granatapfel.

Ich lag still da und atmete durch die Nase, das Haar hinter die Ohren gestrichen, die Wimpern von Tränen benetzt. Meine Mutter, die dachte, ich wäre eingeschlafen, schaltete das Licht aus und wandte sich zum Gehen. Ich richtete mich auf und bat sie zu tun, was sie jeden Abend tat. Sie kniete sich im Dunkeln neben mein Bett und sah jetzt aus wie einer ihrer Engel. Dann legte sie ihre vollen Lippen an mein Ohr und machte leise schmatzende Geräusche. Ihr Atem kitzelte mich, und ich kicherte, um die Gänsehaut zu vertreiben. Als die Geräusche gleichmäßig wurden, schloss ich die Augen vor dieser Welt und stellte mir vor, wie ich zurück in ihren Schoß kroch, wie ich tief in ihr drin in Sicherheit war, weit weg.

»Maman«, sagte ich schläfrig, bevor sie aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog, »bitte sag Nana, sie soll noch mehr Erdbeermarmelade machen.«

»Schon geschehen, mein Liebling.«

Wenn ich an jene Nacht zurückdenke, weiß ich noch, dass ich, während meine Mutter mir das Schlaflied sang, reglos dalag. Ich lauschte ihrer melancholischen Stimme und genoss ihre hoffnungsvollen Bewegungen und ihren warmen, süßen, nach Minztee duftenden Atem. Ich war völlig gebannt vor Bewunderung. In jener Nacht fragte ich mich, warum meine Mutter mich liebte und warum sie mir verziehen hatte. Wenn ich ihr die Frage gestellt hätte, hätte sie sicher geantwortet, dass sie mich liebe, weil ich ihre Tochter sei. Vielleicht wäre sie auch errötet und hätte nicht gewusst, was sie sagen soll. Aber dann hätte ich an das Gutenachtlied gedacht. Ich war ihr Schicksal, ihre Seelengefährtin, ihre blühende Blume. Ich war ihre liebeskranke Nachtigall.

Als Kind verstand ich nicht, was diese Worte wirklich bedeuteten, aber für mich waren sie das Schönste von der Welt, weil meine Mutter sie täglich zu mir sagte. Sie waren das Schönste von der Welt, und die wenigen Minuten, wenn ich vor dem Schlafengehen der Stimme meiner Mutter lauschte, waren unser gemeinsames Gebet.

Liebte sie mich, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte? Umarmte sie mich deshalb jeden Abend? Die Menschen tun so viel aus schlechtem Gewissen! Sie würden alles tun. Ich nutzte ihre Schuldgefühle zu meinem Vorteil, hatte aber keine Ahnung, wie und warum das funktionierte.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, stellte ich fest, dass mein Vater ein großes Paket Windeln und einen blauen Plastiküberzug für meine Matratze gekauft hatte.

2

Eine Woche vor meinem Malheur hatte ich vor dem Schokoladenregal gestanden, während mein Vater an der Kasse mit Agha Ali redete, dem freundlichen Ladenbesitzer, der mir immer eine Flasche Parsi-Cola schenkte, wenn er mich schwitzend auf der Straße spielen sah. Sie unterhielten sich über Agha Alis Khodro Samand, der am Abend vorher aufgebrochen worden war. Der Wagen war sein ganzer Stolz, und alles, was herausnehmbar und wegtragbar war, einschließlich des Fahrer- und Beifahrersitzes, war gestohlen worden: das Radio, der Motor, die Scheibenwischer, die Seitenspiegel, der Rückspiegel und sogar der Duft-Tannenbaum am Rückspiegel. Alles weg! Die Diebe hatten die Türen von außen mit einem Schlüssel zerkratzt und die Innenverkleidung mit einem Messer aufgeschlitzt. Sie hatten die Scheinwerfer zertrümmert. Sie hatten alle vier Reifen zerstochen, aber erst, nachdem sie das Auto die Straße hinuntergeschoben hatten, weg von Agha Alis Haus, zu einer Stelle, wo sie ihrem schändlichen Tun ungestört nachgehen konnten. Agha Ali war außer sich, er schüttelte den Kopf, rieb sich die Stirn, schimpfte lauthals auf die Diebe, die seinen geliebten Samand geschändet hätten, und tat seine Meinung darüber kund, was die gerechte Strafe für dieses Pack wäre.

»Man sollte ihnen die Nasen abschneiden, damit sie ihr weißes Pulver nicht mehr schnupfen können. Nur deswegen klauen sie Autos!«

Um ihn zu trösten, sagte mein Vater, die Polizei sei auf der Suche nach den Übeltätern und außerdem besitze einer seiner Freunde eine Autowerkstatt und werde ihm einen guten Preis machen, falls er Ersatzteile oder einen neuen Gebrauchtwagen kaufen wolle.

Die glänzende Verpackung einer Tafel Milchschokolade war aufgerissen, und eine Ecke schaute hervor. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich mir vorstellte, wie der weiche braune Klumpen auf meiner Zunge schmolz. Während die Männer in ihr Gespräch vertieft waren, tat ich nichts weiter, als das zu vollenden, was jemand anders begonnen hatte: Ich streckte die Hand aus, brach ein verlockendes Schokoladenstück ab und zog es aus der dünnen Aluminiumfolie. Doch noch bevor ich es in meinem Mund verschwinden lassen konnte, warfen beide Männer ruckartig den Kopf herum und sahen mich stirnrunzelnd an. Vier misstrauische und peinlich berührte Augen starrten mich an. Sie vermehrten sich, bis überall im Laden Augen schwebten, die mich strafend ansahen. Ich erstarrte, das Schokoladenstück in der Hand, auf halbem Weg zu meinem geöffneten Mund.

»Die Schokolode war offen, ammu Ali. Be choda, sie war offen!«

Mein Vater räusperte sich und begann so laut zu atmen, dass ich trotz der Entfernung die Luft durch seine Lungen rauschen hörte. »Sheyda dschan, wir essen keine Dinge, für die wir noch nicht bezahlt haben«, sagte er mit beherrschter Stimme, jede einzelne Silbe betonend.

Ich blickte zu Agha Ali, der mich verständnisvoll anlächelte und gleichzeitig darüber nachzudenken schien, was er sagen sollte.

Meine Eltern hatten mir einmal erzählt, dass einem, wenn man die Unwahrheit sagt, die Stirn knallrot anläuft und in Leuchtschrift das Wort »Lügner« darauf erscheint. Von da an trug ich das Haar offen und versteckte meine Stirn hinter einem schützenden Pony, der mir, selbst wenn ich ein Kopftuch trug, ins Gesicht fiel.

»Ich wollte nicht –«, stammelte ich. Doch ich beendete den Satz nicht, sondern strich stattdessen mein Haar beiseite und rief: »Seht! Seht her! Ich sage die Wahrheit.«

Die beiden Erwachsenen blickten einander überrascht an, vielleicht auch ein wenig belustigt von meinem theatralischen Auftritt.

Das Stück Schokolade, das in meiner schwitzigen Hand zu schmelzen begonnen hatte, fiel zu Boden.

Ich blickte fassungslos auf meine unschuldige Beute und sah für einen kurzen Moment unzählige Splitter in alle Richtungen davonstieben wie hungrige Ameisen, die sich mit allem, was sie tragen konnten, davonmachten und sich unter Regalen, staubigen Teppichen und in Abflüssen verkrochen.

Ich hätte mich am liebsten auch verkrochen. Also ließ ich mich wie ein Stein zu Boden fallen. Ich landete auf dem Gesicht und gab keinen Ton von mir, nicht mal ein »Aua«. Ich lag ganz still da, atmete und wartete, dass mein Vater wegging, wartete, dass ich aus dieser peinlichen Situation erwachte, wartete, dass jemand in den Laden kam und die beiden Männer ablenkte, damit ich mich hinausschleichen und nach Hause rennen konnte. Ich lag da und wartete, dass auch ich in tausend Splitter zersprang und verschwand.

 

Agha Ali und mein Vater kamen angelaufen. Agha Ali zog mich hoch und legte mir die Hände auf die Schultern. »Alles in Ordnung, Sheyda chanum. Alles in Ordnung, asisam. Du kannst die Tafel Schokolade mit nach Hause nehmen. Ist doch nur ein dummes Stück Schokolade, mein Kind. Komm, nimm noch mehr Schokolade mit nach Hause, schließlich ist heute Shab-e Yalda, Wintersonnenwende, und wir alle haben einen Haufen Süßigkeiten verdient.«

Mein Vater drehte mich herum, um sich mein Gesicht anzusehen, und wischte mir mit dem Daumen zwei Blutstropfen von der Unterlippe. Dann schob er mir die Lippen auseinander, als wäre ich ein Pferd, dessen Gesundheit er überprüfen wollte, untersuchte mein Zahnfleisch und vergewisserte sich, dass kein Zahn abgebrochen war.

Nachdem er festgestellt hatte, dass alles in Ordnung war, ließ er mich los.

Ich schaute nach rechts und nach links wie ein Muslim nach dem Gebet, erst zu Agha Ali, der leicht lächelte und mir eine Tafel Schokolade hinstreckte, dann zu meinem Vater, der ganz und gar nicht lächelte.

Ich brüllte meinen Vater an: »Be choda, die Schokolade war schon offen.« Dann stürmte ich mit flatterndem Kopftuch aus dem Laden. An der Straßenecke blieb ich stehen.

Was soll ich sagen, er glaubte mir nicht. Das Einzige, was mein Vater zu mir sagte, als er an der viel befahrenen Kreuzung ankam, war, dass er mich streng bestrafen würde, sollte ich jemals wieder etwas stehlen. Wir gingen zusammen zurück nach Hause. Ich trug die Plastiktüte voller Schokolade und anderer nutzloser Dinge, die mein Vater aus Scham gekauft hatte, als Entschuldigung für mein Fehlverhalten.

»Ich dulde keine Diebe unter meinem Dach, verstanden?«

Er zerrte unsanft an meinem schmalen Körper, als er mir half, die Straße zu überqueren und über die Bäche zu springen, die durch die Rinnsteine liefen.

Was mir mein Vater leider nicht erklärte, war, wen ich um Erlaubnis fragen sollte, bevor ich etwas nahm. Das erklärte mir erst meine Mutter nach dem Vorfall mit der schwarzen Katze in Dr. Fereyduns Sprechzimmer.

Doch die Zeiten, in denen ich mich an fremden Sachen vergriffen habe, sind lange vorbei. Im Gefängnis sitze ich aus einem ganz anderen Grund. Manchmal frage ich mich, warum meine Eltern mich eigentlich nie in Schutz genommen haben, vor allem mein Vater nicht, der doch genau wusste, wie es sich anfühlt, ununterbrochen verleumdet und als Bösewicht abgestempelt zu werden. Mein Leben lang haben sich immer nur Fremde für mich eingesetzt. Nur sie haben meine Absichten erklärt, meine Absichten verstanden, mich verstanden. Vielleicht lag das daran, dass die Fremden nicht mit mir unter einem Dach leben mussten und nicht darunter zu leiden hatten, dass sie meine Eltern waren. Sie konnten nach der Begegnung mit mir einfach nach Hause zu ihren friedlichen Familien gehen und ihren wohlerzogenen Kindern Geschichten über böse Kinder wie mich erzählen, Kinder, die ihren Eltern und Gott den Gehorsam verweigerten. Sie konnten ihnen erzählen, was diese bösen Kinder für eine Zukunft erwartete, dass sie nämlich zu bösen Erwachsenen heranwuchsen, die Autos klauten und Pulver schnupften, das zwar weiß, aber trotzdem dreckig war.

Ich frage mich, ob es stimmt, was die Leute sagten: Dass die Menschen, die dich jeden Tag sehen, die mit dir zusammenleben, die mit dir essen, mit dir verreisen und mit dir beten, dich am besten kennen. Meine Eltern haben mich nie verstanden. Vielleicht war das das einzige wirkliche Trauma meiner Kindheit. Denn ich wollte unbedingt verstanden werden. Ich wollte, dass die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, mir zeigten, wo es langging. Doch sie wollten etwas anderes. Sie wollten vom jeweils anderen verstanden werden und hatten keine Zeit für mich. Sie wollten wissen, warum und wann und wie, sie wollten große Antworten auf große Fragen. Und ich war nur eine winzig kleine Frage ohne Fragezeichen.

Als ich an jenem Tag nach Hause kam, in mein Zimmer lief und mich vor den Spiegel stellte, fiel mein Blick auf das Stück Schokolade, das an meiner Stirn klebte. Den ganzen Nachhauseweg über hatte mir mein Schatz im Gesicht gepappt. Ich entfernte das klebrige Stück und schob es mir in den Mund. Dann leckte ich mir die Finger ab und verrieb den Fleck, bis meine Stirn ganz rot war. Ich war gezeichnet. Mein Vater hatte mich also doch bestraft. Er hatte mich als Lügnerin gebrandmarkt.

Heute frage ich mich, was es wohl zu bedeuten hat, dass sich der Vorfall an Shab-e Yalda ereignete, der Nacht, in der Mithra geboren wurde, der zoroastrische Gott der Wahrheit. Ich frage mich, ob die Tatsache, dass es die längste und dunkelste Nacht des Jahres ist, irgendwelche Auswirkungen darauf gehabt hat, was für ein Mensch ich geworden bin.

Solche Dinge, solche scheinbar unwichtigen Dinge, spielen nämlich eine große Rolle. Ich war wahrhaftig rettungslos verloren.

3

Meine Eltern hatten mir meinen Teddybär weggenommen, nachdem sie mich mit einer großen Schere auf dem Bett ertappt hatten. Ich hatte versucht, meinen Kopf in das Loch zu schieben, das ich in die Unterseite meines Teddys geschnitten hatte, in der Hoffnung, dass der Rest meines Körpers folgen würde. Das ursprüngliche Loch zwischen seinen Beinen war durch Abnutzung entstanden und ich war unschuldig daran, aber seine Erweiterung war zugegebenermaßen ein überlegter, gezielter Akt. Ein paar Tage zuvor hatte mein Onkel Dariusch mich auf seinen Knien reiten lassen, und während ich damit beschäftigt war, seinen absonderlichen Walross-Schnurrbart zu studieren, begann er, mir die wundersame Geschichte von Ḥayy ibn Yaqẓān zu erzählen. Hayy war ein Kind der Wildnis, das wie Moses von seiner wohlmeinenden Mutter in einen Fluss geworfen wird und auf einer unbewohnten Insel landet. Dort nimmt sich eine Gazelle, die ihr Kitz verloren hat, seiner an. Sie zieht ihn auf, bis sie stirbt. Bei ihrem Tod ist er gerade einmal sieben Jahre alt. »Genauso alt wie du!« Aus wissenschaftlicher Neugier seziert Hayy mithilfe von angespitzten Zweigen und scharfkantigen Steinen die Leiche seiner Mutter. Er will herausfinden, warum die Wärme aus ihrem Körper gewichen und das leise Pochen in ihrer Brust verstummt ist. Dann streift er über die Insel und seziert alles, was er in die Finger bekommt. Er vergleicht die Tiere und Pflanzen mit sich selbst, weil er den Tod, die Materialität des Körpers und die Körperlosigkeit der Seele verstehen will …

Hier endete die Geschichte meines Onkels, aber in Wahrheit geht sie weiter. Hayy widmet sein Erwachsenenleben dem Nachdenken und der inneren Einkehr. Als er von der Insel gerettet wird und in den Schoß der Gesellschaft zurückkehrt, kann er nicht fassen, wie ahnungslos die Menschen sind. Sie ignorieren all die mystischen Erkenntnisse, zu denen er in der Einsamkeit gekommen ist. Er kann ihre irrationale Hingabe an fromme Praktiken und religiöse Lehren nicht verstehen. Er selbst will diese Lehren über ihre offensichtliche Bedeutung hinaus erweitern, um seinen Mitmenschen einen Gefallen zu tun, aber sie begegnen ihm mit Ungeduld und Feindseligkeit. Er sinnt über die Irrtümer und den Exhibitionismus der religiösen Rituale nach, die nichts zu tun haben mit einem Leben in innerer Harmonie und dem direkten Weg zur Wahrheit. Er beschließt, auf seine Insel zurückzukehren, wo er zuvor jenseits aller religiösen Dogmen ein sehr viel besseres Verhältnis zur Wahrheit hatte, als es unter den Menschen, die nicht begreifen, dass Religion nur ein Mittel zum Zweck ist, möglich ist.

Faszinierender spiritueller Hokuspokus, aber damals war ich wie besessen von Hayys Geschichte. Deshalb ertappte mich mein Vater eines Nachts, nachdem ich das Sorgerecht für meinen Teddy an einen verschlossenen Schrank verloren hatte, dabei, wie ich mich mit einer Schere in der Hand über meine schlafende Mutter beugte, um sie aufzuschneiden. Ein paar Wochen später saß ich in Dr. Fereyduns Praxis.

Zu meiner Verteidigung: Sie schlief reglos wie ein Stein, ihre Haut war kalt, und als ich mein Ohr an ihre Brust legte, um ihrem Herzschlag zu lauschen, hörte ich nichts.

Als Kind, und so lange ist das noch gar nicht her, legte ich oft den Kopf in den Nacken, blickte in den Himmel – was mir jetzt verwehrt ist – und dachte über Gott nach. Ich fragte mich, warum er beschloss, sich manchen Menschen zu erkennen zu geben und anderen nicht. Waren wir in seinen Augen nicht alle gleich? Und wenn er seinen Propheten tatsächlich Tugenden mitgegeben hatte, die für Normalsterbliche unerreichbar waren, warum hatte er sie dann obendrein auserwählt? Erst erschuf er sie als etwas Besonderes und belohnte sie dann auch noch für diese Ehre (oder diesen Fluch).

In der Schule nahmen wir diese Art von phantastischen Fabeln im Unterricht durch, und ich saß wie gebannt da, das Kinn auf die Hand gestützt, und starrte auf die Lippen der Lehrerin. Ich stellte mir das Leben dieser bemerkenswert frommen Männer vor – ja, es waren immer Männer, aber das fiel mir damals nicht auf –, die offenbar samt und sonders eine eher seltsame Kindheit gehabt hatten: Sie waren Außenseiter oder Waisen, von den Eltern verstoßen, ausgesetzt oder verraten. Ihre missverstandenen Herzen quollen vor Weisheit über, und sie verbrachten die meiste Zeit allein, mit Visionen oder in tiefer Meditation. Auch wurden sie alle für verrückt erklärt, entweder von Kindesbeinen an oder im Verlauf ihres Lebens.

Gott schien Einzelgänger zu bevorzugen. Ich dachte, dass Gott sicher gut nachempfinden kann, wie man sich als solcher fühlt, weil die Götter auch meist allein sind. Als ich Hayys Geschichte zum ersten Mal hörte, entwirrten sich tausend Knoten in meinem Magen und ein Seil schoss von meinem Kopf zum Himmel und verband mich mit all diesen großen Seelen. Ich war eine von ihnen. Ich war sicher, dass meine Zeit noch kommen würde. Ich war überzeugt, dass Gott Großes mit mir vorhatte. Für meinen Schmerz gab es einen Grund, und die Leiden meiner Kindheit, dieses schreckliche Gefühl von Verlust, das mich nie verließ, hatte eine Bedeutung, die irgendwann ans Licht kommen würde. Und dann würde der Wal mich in die sandigen Arme eines Ufers spucken. Ich war Hayy, ich war Jonas im Bauch des Wals, ich war Joseph auf dem finsteren Grund des Brunnens.

Einmal nahm mein Vater uns mit in den Norden, ans Ufer des Kaspischen Meers. Ich lief bekleidet und bekopftucht ins Wasser, kämpfte mich durch die Wellen und rutschte über Algen und Steine, die meinen Namen riefen und mich immer weiter hinauslockten. Das Wasser zerrte an meinen roten Plastiksandalen, spülte sie vor und zurück, bis das Meer sie mir auszog und die Sandalen wie zwei kleine rote Schiffchen in den Wellen versanken. Ich musste das Unglück hilflos mitansehen, während mir der Sand durch die Zehen rann und ich mit den dürren Armen einer Neunjährigen gegen die Brecher anschwamm, die mich trafen.

Ein Stück weiter weg hatte mein Vater seine Angel ausgeworfen, und meine Mutter war zurück zum Auto gegangen, um Brot und eine zweite Kanne Chai zu holen. Ich wollte den Beweis für meine Theorie erbringen, dass Gott mich vor dem Ertrinken retten würde, so wie er meine Seelenverwandten lange vor meiner Geburt gerettet hatte. Er würde seine Engel schicken, um mich aus den Wellen zu heben, das Meer würde sich scheiden oder ein breit grinsender Wal würde sein Maul öffnen und mich auffordern, hineinzuspazieren. Der Wal würde mich seine Sheyda-Suppe nennen, aber dann würde er mir zuzwinkern und in einem freundlichen, wenn auch belehrenden Ton sagen, dass das alles nur eine Geschichte sei, eine kleine Lektion. Er würde mir sagen, dass er Gottes gehorsamer Diener sei und ich ein ganz besonderer Mensch. Und dann, wenn man längst aufgehört hätte, nach meiner Leiche zu suchen, wenn die Tränen auf den Gesichtern meiner Eltern getrocknet wären und sie stattdessen mit dunklen Augenringen herumliefen, würde der Wal mich wieder ausspucken und mir zum Abschied mit der Schwanzflosse zuwinken.

Leider blieb Gott nicht genug Zeit, mir einen Wal vorbeizuschicken. Aber mir blieb genug Zeit, eine Menge Wasser zu schlucken und ein hastiges Gebet zu sprechen, als ich den Boden unter den Füßen verlor und unterging. Der Himmel verschwamm vor meinen Augen, die Wellen brachen über mein Leben herein, und ich atmete einen Schwall kleiner Luftblasen aus. Ich sank auf den Grund. Alles war ruhig und friedlich. Die nasse Höhle des Kaspischen Meers umfing mich. Aber dann erhörte noch jemand mein Gebet: Ein Fischer, der mich in den Wellen hatte planschen und untergehen sehen, packte mich an der Bluse und zog mich zurück an die Oberfläche.

Als seine Lungen wieder Bekanntschaft mit Sauerstoff machten, rief er keuchend nach meinem Vater. Ich hustete und schnappte nach Luft. Er warf mich über seine Schulter und trug mich zum Strand, während mein Vater, dem das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, seine Angel wegwarf und sich durch die Wellen kämpfte, um zu uns zu gelangen. Ich schlang meine dünnen Arme um den Hals des Fischers, roch das Salz des Meeres und schmeckte die ölige Nässe seines Haars. Ich blickte zum Horizont, wo sich zwei verschiedene Blautöne küssten, und dann hoch zum Himmel. In dem Wissen, dass Gott mich erhört hatte, schloss ich lächelnd die Augen.

 

Nachdem meine Mutter mir ein Hemd meines Vaters angezogen und meine Kleider zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet hatte, setzte sie sich mit mir ins Auto und umarmte mich lang. Alle vier Türen standen offen, wir saßen auf dem Rücksitz, mein Kopf auf dem Herzen meiner Mutter, ihre Wange auf meinem nassen Haar. Zitternd flehte ich sie an, unser Picknick nicht zu beenden. Ich musste versprechen, nicht mehr in die Nähe des Wassers zu gehen. Mein Vater verdonnerte mich dazu, die Fische zu bewachen, die er gefangen hatte, und ich saß weinend neben dem Eimer und versuchte, sie wiederzubeleben. Ich nahm jeden einzelnen in die Hand, fasziniert von den regenbogenfarbenen Schuppen und der Art, wie sie, wenn ich sie in den Sonnenuntergang hielt, bläulich, gelb und purpurrot schimmerten.

Ich gab den Fischen eine Mund-zu-Mund-Beatmung und blies, in dem Glauben, ihnen zu helfen, Kohlendioxid in ihre geschürzten Lippen. Ich war stolz auf meine gute Tat und fand es lustig, dass sie sich mit aufgerissenen Augen aufblähten wie ein Luftballon. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, und sobald mein Vater sich abwandte, trug ich den Eimer zum Meer, wobei ich wegen des Gewichts der fünf Fische ziemlich Schlagseite hatte, während meine Mutter mir hinterherbrüllte. Dann schleuderte ich einen Fisch nach dem anderen in die sich überschlagenden Wellen, nicht ohne mich vorher mit einem Kuss von ihnen zu verabschieden. Dem letzten flüsterte ich ein aufrichtiges Dankeschön zu. Sie schlugen auf das Wasser auf und erwachten zuckend zum Leben. Zufrieden versetzte ich dem Eimer einen Tritt und humpelte mit blutendem Zeh zurück zu meinem Vater, der mir eine Tracht Prügel verpasste, weil ich unser Abendessen und drei Stunden Arbeit weggeworfen hatte.

Dann sammelte mein Vater Treibholz und entzündete ein Lagerfeuer. Zum Abendessen gab es zwei Tüten Chips mit Mast-o-Mussir, Knoblauchjoghurt. Eine Familie, die ihr Auto ganz in der Nähe geparkt hatte, gesellte sich zu uns, und wir luden auch noch ein paar ortsansässige Fischer, einschließlich des gottgesandten, ein, mit uns am Feuer zu sitzen und ihr Essen mit uns zu teilen. Ich weigerte mich, irgendetwas anzurühren. Später verteilte meine Mutter kleine Papierbecher und goss allen goldbraunen Chai ein. In meinen Tee gab sie einen Schluck kaltes Wasser, und ich pustete auf die dampfende Flüssigkeit, bis sie abgekühlt war. Fröhliches Gelächter stieg zum Himmel, und bald schienen alle die Tatsache, dass ich fast im Kaspischen Meer ertrunken wäre, vergessen zu haben. Die Erwachsenen rissen Witze, tauschten Familiengeschichten aus und machten sich über süße Feigen und Wassermelonen her. Als die Fischer begannen, Legenden von Meerjungfrauen und Wassermännern zu erzählen, die Kinder in ihr Unterwasserreich entführten, bedeutete mein Vater ihnen zu schweigen, weil »die Kleine sich solche Geschichten immer viel zu sehr zu Herzen nimmt«.

Das Feuer brannte herunter und die anderen Feriengäste sammelten ihre Siebensachen ein, um zurück zu dem Haus zuvorkommender Einheimischer zu fahren, bei denen sie ein Zimmer angemietet hatten. Dort würden sie auf Teppichen und Schaumstoffmatten schlafen, und wenn sie ihren Darm entleeren wollten, würden sie sich umständlich über ein Loch im Boden hocken, das ihren Schlüsselbund und ihre Münzen verschluckte. Anschließend würden sie mit einem Wasserschlauch auf ihr Poloch zielen, in der Hoffnung, sich nicht komplett nasszuspritzen, während sie sich nach dem Komfort ihres eigenen Hauses mit seinen gottlosen französischen Bidets sehnten.

Die Fischer gingen mit meinen Eltern zum Wasser, um ihnen »Meeresgetier zu zeigen, das wie Glühwürmchen leuchtet«. Ich blieb im Sand sitzen, lauschte dem Hundegeheul in der Ferne und beobachtete den silbernen Halbmond. Da wusste ich, dass Gott durch sein Schlüsselloch zu uns hinunterschaute. Noch Jahre später konnte ich nicht schlafen, wenn ich vergeblich am Himmel nach dem Mond suchte, denn das bedeutete, dass Gott beschäftigt war. Entweder rettete er gerade woanders Leben oder er hatte sich erschöpft ein Kissen über den Kopf gezogen und war eingeschlafen, weil er unser hasserfülltes Geschrei nicht mehr hören konnte.

Die Nacht zog ihren samtenen Schleier über die Welt. Kein Stern stand am Himmel. Der Wind trug die Geheimnisse der Dunkelheit davon. Der Gesang der Grillen verstummte, und Stille hüllte uns ein. Wir gingen zurück zum Auto, das neben ein paar Bäumen stand. Der Eimer, den mein Vater aus dem Meer gerettet hatte, quietschte an seinem sonnenverbrannten Arm. Sein uraltes Geräusch lenkte meine Schritte. Ich hielt mir die Hand wenige Zentimeter vors Gesicht und konnte nichts sehen. Aus Angst vor der alles verschlingenden Dunkelheit drehte ich mich um und blickte zum Mond, der das Meer beschien. Und da sah ich alles. Glasklar und zum ersten Mal sah ich alles.

Ich wollte geliebt werden. Ich wollte einfach nur geliebt werden. Ich wollte in den Armen der Nacht versinken, wollte, dass mich jemand hielt, wollte ebenso vertrauensvoll mit einem geliebten Menschen verschmelzen wie der Himmel mit dem Meer. Wir sind so jung wie unsere Unschuld und so alt wie unsere Sorgen. Ich bin in einem Gewirr aus Zahlen verloren, aus Jahren, die mich zu ersticken drohen, aus bloßgelegten schwärenden Wunden. Ich sitze hier fest, in der Dunkelheit gefangen, mit einer zersplitterten Seele, die einfach nicht heilen will. Die Maden meiner Vergangenheit lassen nicht von mir ab. Hungrig fressen sie immer weiter.

Obwohl ich seitdem viele Male am Kaspischen Meer gewesen bin, hat keine der Reisen die Erinnerungen an diesen ersten Ausflug verblassen lassen. Nie wieder habe ich auf dem Rücksitz unseres Autos den Oberkörper aus dem heruntergekurbelten Fenster gehalten und lauthals mitgesungen, während Hayedeh mit ihrer legendär melancholischen Stimme davon erzählte, was für ein Wunder die Liebe sei. Sobald das Lied Aroosak, »Puppe«, zu Ende war, bat ich meine Mutter, die Kassette zurückzuspulen. Ich hängte mich aus dem Fenster und brüllte die Zeilen in den Wind, mein Kopftuch gebläht wie die Bäuche der Fische, die ich gerettet hatte. Wir fuhren zwischen waldbedeckten Berghängen hindurch, deren tiefes Grün sich in meinen tränenden Augen spiegelte. Der Fahrtwind nahm mir die Luft, ließ meine Ohren flattern, kühlte meine Zunge, und ich weinte, tief berührt von der Musik. Ich fühlte mich hilflos ob des ewigen Winters in Hayedehs Herzen und der Bitterkeit, die sie empfand. Ich verstand den Kummer ihrer Puppe, der man das Herz gebrochen hatte und die wie ich tausend Tränen in den Augen hatte. Ich klammerte mich an die heruntergekurbelte Scheibe meines Fensters und beobachtete das Gesicht meiner Mutter im Seitenspiegel. Der Wind trocknete meine Tränen, und ich prägte mir ein, wie sie aussah, wenn sie glücklich war. Dann zog ich den Kopf wieder ins Innere, betrachtete das Gesicht meines Vaters und stellte fest, dass auch ihm ein Lächeln um die Lippen spielte, während er gedankenverloren eine Zigarette rauchte und mit einer Hand das Auto steuerte. Sobald das Lied zu Ende war, beugte ich mich vor, um die Kassette zurückzuspulen. Mein Vater fragte: »Warum willst du das Lied eigentlich immer wieder hören, wenn es dich so traurig macht?«