Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

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Ich gab erst ihm und dann meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und sagte: »Es macht mich nicht traurig. Es ist das schönste Lied der Welt.«

Wir hielten am Straßenrand, um uns die Beine zu vertreten, oder in nebelverhangenen Wäldern für ein Picknick. Mein Vater klemmte unsere Plastikflaschen mit Parsi-Cola oder einem Joghurt-Minz-Getränk zwischen die Steine eines rauschenden Bergbachs, krempelte sich die Hosenbeine bis zu den Knien hoch, setzte sich auf einen Felsen und hängte die Füße ins Wasser. Die Socken schob er säuberlich aufgerollt in seine Schuhe, die er auf dem Schoß hielt. Er rief nach mir, wenn er eine Wasserschlange oder einen Vogel mit roten Schwanzfedern entdeckte, und wenn ich mal musste, schirmte er mich mit seiner Jacke ab. Ich hockte mich dahinter, bohrte mit meinem Strahl ein Loch in die Erde und spielte währenddessen mit Zweigen und Blütenblättern. Wenn es Zeit fürs Mittagessen war, sah ich zu, wie meine Mutter Gemüse in einer gelben Plastikschüssel wusch. Ich beobachtete die braunen Halbmonde ihrer Fingernägel, während sie das Shish-Kebab auf die Spieße schob und Tomaten, Zwiebeln und die leckeren Zitronen von dem Baum in unserem Garten dazwischen verteilte.

Drei Tage lang waren wir glücklich, alle drei waren wir glücklich.

4

Als nichts zu helfen schien und niemand meinen Eltern sagen konnte, was mit mir los war, wandte sich meine Mutter an Gott. Gott war ihr Sicherheitsnetz, Gott und die Porzellanengel. Meine Mutter, die Götzendienerin, die früher so gern in die Disco gegangen war, meine Mutter mit ihren verführerischen nachtschwarzen Augen! Während ihr rosa Cocktailkleid zusammen mit dem Rest ihrer Siebziger-Jahre-Garderobe im Schrank von Motten zerfressen wurde, unternahm sie Pilgerreisen zu Moscheen und Mausoleen. Mich nahm sie mit, wild entschlossen, jemanden zu finden, der mich segnete oder mir die Dämonen austrieb.

Doch auch das half nicht.

Wir fuhren zum Tadschrisch-Platz und besuchten die Imamzadeh-Saleh-Moschee. Am Tor mussten wir unsere Schuhe bei einer Frau abgeben, die sie in grüne Regalfächer stellte. Dann suchte sich meine Mutter aus einem Stapel Stoff ein großes geblümtes Tuch aus, das sie sich wie einen Tschador umhängte und mit schmalen Fingern vor ihrem Herzen zusammenhielt.

»Narz mikonam barat, Sheyda dschan«, sagte meine Mutter. »Falls Gott meine Gebete erhört, werde ich ihm in deinem Namen etwas zurückgeben. Sitz du einfach still da und lies im Koran.«

Ich konnte an nichts anderes denken als an die arme Frau, deren Aufgabe es war, den ganzen Tag stinkende Schuhe einzusammeln.

Offenbar erhörte Gott die Gebete vieler Leute, denn im Hof kamen wir an Menschen vorbei, die uns mit Pistazien gefüllte Plätzchen, Datteln und pralle blau-weiße Säckchen Salz anboten. Meine Mutter dankte den großzügigen Spendern fromm, und ich, die ich die Geschenke tragen durfte, wiederholte ihre Worte und imitierte ihre Gesten, zog mir das Tuch vors Gesicht und neigte sittsam den Kopf. Das Gebet meiner Mutter dauerte ewig. Die ganze Zeit tat ich, als würde ich auch beten, als wüsste ich, was ich da machte und worum ich Gott bitten sollte. Ich vermisste Gott und sagte ihm, dass ich ihn gerne mal sehen würde und dass er bitte meine Eltern glücklich machen solle.

Plötzlich war mir zum Weinen zumute. Mein Gesicht begann zu brennen, und mein Herz schlug heftig gegen seinen Käfig. Ich wollte frei sein von all dem, frei von der Traurigkeit, frei von Gott. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden gelegt, wäre eingeschlafen, die Wange auf den kalten Marmor gepresst, und hätte meinem schlafenden Herzen gelauscht. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, während meine Mutter aufstand, sich vorbeugte, auf die Knie ging, sich zu Boden warf und dabei dieselben arabischen Verse murmelte, die wir in der Schule auswendig gelernt hatten, ohne ein Wort davon zu verstehen. Sie wiederholte wieder und wieder dieselben Formeln, und ich hörte die weißen Perlen der Gebetskette an ihrem Handgelenk verzweifelt aneinanderschlagen. Als sie endete, hob ich den Blick und sah, dass sie weinte. Ich wollte so schnell wie möglich fort von diesem traurigen, beklemmenden Ort.

Alle Menschen hier sahen unglücklich aus; alle beteten für ein Wunder, einen guten Rat oder einen Segen. Mütter beteten für die sichere Rückkehr ihrer Männer und Kinder; Mädchen beteten für immerwährende Liebe; Ehefrauen beteten für den frühen Tod ihrer Schwiegereltern; alte Jungfern beteten für einen Prinzen auf einem weißen Pferd; junge Männer beteten für einen Weg aus Iran; Alte beteten für den Jungbrunnen; zahnlose Männer beteten für eine zweite Frau; reiche Männer beteten für Gesundheit; Arme beteten für Geld.

Alle wollten Gott ihre Geschichte erzählen, alle erhoben ihre Stimmen zu einem einmütigen »Amen«. Alle wollten, dass Gott eingriff, dass er einen Blick, nur einen kurzen Blick, auf ihr jämmerliches Leben warf und Mitleid mit ihnen hatte, weil sie selbst hilflos waren und niemand sonst sie bemitleidete. Ein Gebet ist ein Akt der Verzweiflung. Es geht dem Selbstmord voraus. Es kann zu ihm führen. Diese Leute gehörten alle in Therapie.

Der Höhepunkt des Ausflugs zum Tadschrisch-Platz waren die verwinkelten Gassen des Basars, wo hinter Schaufensterscheiben Goldketten und Anhänger in Form von Herzen und Schmetterlingen schimmerten oder rosa und blaue Duschschwämme unblutig an Wände genagelt waren. Perücken in verschiedenen Haarfarben balancierten auf den abgetrennten Köpfen von Schaufensterpuppen, und in Lingerie-Geschäften bedeckten rote Spitzenhöschen, aufreizende Push-up-BHs und Strapse ihre enthaupteten Körper.

Ich fragte meine Mutter, warum die Schaufensterpuppen sich so kleiden durften. Sie erklärte mir, die Puppen dürften tun und lassen, was sie wollten, weil sie tot seien. Und ihre Körper seien verstümmelt, damit sie keiner lebenden Frau ähnelten, anderenfalls wären ihre Leichen wohl auch auf Lastwagen gestapelt und abtransportiert worden. Der Tod war in unserer Familie schon immer ein Thema, das untrennbar mit Freiheit und dem Ende einer Gefangenschaft zusammenhing.

»Wenn du eine Schaufensterpuppe wärst«, hätte ich am liebsten zu meiner Mutter gesagt, »könntest du dich auch so anziehen.« Aber meine Gedanken gingen in dem dichten Gedränge unter. Wir schoben uns durch die engen Gassen und lauschten dem Ruf zum Abendgebet, der einen Schwarm Tauben aufscheuchte. Die Vögel flatterten mit lautem Flügelschlag durch den dunklen, verrauchten Gang. Wir lächelten, als mit einem Mal ringsherum an Bäumen, Dächern und Mauern orange Lichter aufflammten. Sie brachten unsere Augen zum Leuchten, verliehen allem einen rätselhaft sinnlichen Schimmer und erhellten die düsteren Winkel und Ecken, die nach abgestandenem Regenwasser und Apathie stanken. Wir sahen Erdbeeren, groß wie Mangos und hellrot wie verdünntes Blut. Einmachgläser mit eingelegten Rüben, Oliven und roten Paprika standen in Reih und Glied, und darüber hingen Seile mit getrockneten gelben Limetten.

Als meine Mutter stehen blieb, um Erdnüsse für meinen Vater zu kaufen, drückte mir der Verkäufer ein paar Cashewnüsse in die Hand und fragte mich, wie ich heiße. Ich antwortete brav, schob mir dann die Cashews in den Mund, kaute auf dem salzigen Brei herum und schmeckte seinen alltäglichen Kampf, das Nörgeln seiner Frau, die Tränen seiner Kinder und die Liebe zu seinem Gebetsteppich. Pantoffeln, billiger Schmuck, Spielzeug, Fahnen, Zimt, Safran, Versprechen, Garantien, Rabatte, Zwei-zum-Preis-von-einem, weiße Zuckerwattebäusche, die aussahen wie essbare Perücken von Adeligen, Talismane, in die dein Name und der deiner Mutter eingraviert wird, Geburtssteine, jeder in einer anderen Farbe und aus einem anderen Material, die etwas über dich und dein Leben aussagen. Ich bin Widder, ich bin der kristallklare Diamant des Monats April; angeblich bin ich voller Unschuld. Meine Mutter stieß ein höhnisches Lachen aus und schob mich aus dem Laden.

Wir gingen zurück nach draußen auf den Platz. Vor dem Eingang des Basars stand ein Mann neben einer Holzkiste voller Laub und rief: »Schmetterlinge zu verkaufen! Schmetterlinge zu verkaufen!« Ich entzog mich dem Griff meiner Mutter und lief zu ihm. In der Kiste tummelten sich Raupen mit schwarzen, weißen und gelben Zebrastreifen. Ich zuckte zurück: »Das sollen Schmetterlinge sein?« Er grinste. »Möchtest du eine, meine Kleine? Du musst sie nur füttern, dann wird sie zu einem wunderschönen Schmetterling. Versprochen.« Als er sah, dass ich immer noch wie gebannt war vor Angst und Faszination, zog er ein großes raupenzerfressenes Blatt aus der Kiste und ließ eine gelangweilte Raupe mit unzähligen winzigen Füßchen auf seinen Finger kriechen. Dann hielt er mir den Finger vors Gesicht. Ich kreischte auf und klammerte mich an den langen Mantel der Frau neben mir. Als ich merkte, dass es meine Mutter war, seufzte ich erleichtert. Sie lächelte. Da meine Mutter einverstanden zu sein schien, bewegte der Mann seine Hand vor und zurück, amüsiert über mein Kichern und mein ängstliches Quieken, das ich zugegebenermaßen übertrieb, weil ich das Grinsen und die belustigten Blicke der Passanten genoss.

»Möchtest du eine? Ich schenke sie dir.«

Ich klatschte begeistert in die Hände, aber meine Mutter, die mit einem Mal ganz bleich geworden war, sagte nein. Es gebe niemanden, der sich um das Tier kümmern könne. Komm jetzt.

Sofort.

»Chanum, die Raupe kümmert sich um sich selbst. Setzen Sie sie einfach mit einer Schüssel Wasser und ein paar Blättern in ein großes Glas.«

Nein.

Ich stampfte auf und warf mich zu Boden. Das ganze Gewicht des Tages floss aus mir heraus. Ich hörte erst auf zu heulen, als ein Kompromiss gefunden war. Der Mann wies mich an, ihm die Hand hinzuhalten. Dann stupste er die Raupe mit einem zweiten Blatt an, und wir beobachteten, wie sie langsam von einem Finger auf den anderen wechselte, wobei sie sich krümmte wie ein Komma.

 

»Ein Schmetterling, es ist ein Schmetterling, meine Kleine.« Er sah meine Mutter an und lächelte.

Mein Vater, der uns am Tadschrisch-Platz abgesetzt hatte, hatte versprochen, uns wieder abholen zu kommen. Also liefen wir über die Brücke zurück zur Hauptstraße, um dort auf ihn zu warten. Unter uns rauschte der schwarze Fluss vorbei, als hätte er es eilig. Am liebsten hätte ich mich auf die Steinmauer gekniet, so wie meine Mutter sich vorher zum Gebet hingekniet hatte, und gelauscht, wie der Fluss durch die zitternde Nacht pulsierte und einer geschichtsvergessenen Stadt Leben spendete. Ich wollte, dass der Fluss meine Erinnerungen abwusch, dass er mich gründlich einseifte, umdrehte, mich von der anderen Seite einseifte und dann abspülte. Ich wollte, dass er mir dreimal kräftig auf den Rücken klopfte, damit ich meine überbordende Phantasie und all die anderen Dinge, die meine Mutter traurig machten, ausspuckte wie ein Stück Brot, das mir in den falschen Hals geraten war. Meine Mutter hechelte ihrem eigenen Atem hinterher, sog pfeifend die Luft durch die Nase und redete mit sich selbst oder mit mir. Ständig sah sie sich nervös um und murmelte wütend: »Wo ist dein Vater? Wo bleibt er nur? Warum begleitet er uns nie? Ich –«

Ich begann, ein Lied zu singen, und dachte an die flaumigen Beine der Raupe, die die Landschaft meiner Handfläche überquert hatte.

»Dieser dreckige Bastard hat mir seinen Finger reingesteckt«, flüsterte meine Mutter dem traurigen Fluss zu. Dann flüsterte sie dasselbe noch einmal der unter Gedächtnisschwund leidenden Nacht zu, weil ich, ihre Tochter, weit weg war, verloren in meinen Träumen.

Ich sang weiter vor mich hin, melodisch und selbstvergessen.

Meine Mutter und ich unternahmen eine weitere, allerdings weniger denkwürdige Pilgerreise nach Maschhad im Nordosten von Iran, wo sie im Imam-Reza-Mausoleum weinte und für meine geistige Gesundheit und mein Seelenheil betete. Es war das erste und einzige Mal, das ich den Zug nahm. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden fuhren wir in schaukelnden, rostigen Waggons durch vier verschiedene Jahreszeiten. Berggipfel trugen eine Federboa aus gleißendem Schnee, Blumen glänzten golden in der Sonne, Wolken schwebten am klaren Himmel und folgten unserer frommen Reise wie Fäuste, die sich urplötzlich zusammenballten und Regensplitter aufs Waggondach trommeln ließen, bevor sie langsam davonzogen, um betrunkenen, schläfrigen Göttern als Kissen zu dienen. Vagabundierende Herbstblätter verließen ihre heimischen Baumwipfel und wurden dem Zug von einem sanften Wind ins Gesicht geblasen, und es war, als würden sie um ihre Zukunft trauern.

Das Mausoleum war voller Menschen, eine ganze Flut von Menschen, die wie Ameisen in einem unterirdischen Bau durcheinanderwimmelten. Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich durch unzählige Innenhöfe. Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, weil die blauen und schwarzen Tschadors der Frauen mit ihrem Geruch nach Schweiß und Tränen mein Gesicht streiften. Ich sah mir alles ganz genau an. Ich sah andere Kinder mit verwirrten Augen und rotzverschmierten Gesichtern, sah, dass auch sie am liebsten woanders gewesen wären, und sie blickten mich an und schüttelten stumm den Kopf. Wir verstanden uns wortlos. Ich sah, wie Männer mit Ringen an den haarigen Fingern sich im Schritt kratzten, wie sie mich überragten und Sonnenlicht durch den weißen oder gelblichen Stoff ihrer Hemden schien.

Alles war golden. Goldene Minarette und eine goldene Kuppel leuchteten über dem goldeingefassten Grab von Imam Reza, dem heiligen Mann, vor dessen Tod die Gazellen gewarnt hatten, indem sie mit den Hufen stampften, und als er an vergifteten Trauben starb, weinten die Tiere, weil er einst eine Artgenossin vor den Pfeilen eines Jägers gerettet hatte. Wir schritten über kalten Marmor, wie Millionen anderer vor uns, und in der Moschee wärmten wir unsere Füße an teuren Teppichen, auf denen Menschen schliefen und beteten und auf Wunder warteten, und die ganze Zeit umgab uns von allen Seiten der penetrante Geruch schuhloser, bestrumpfter Füße. Im Innenraum sah ich hoch zu den Kronleuchtern, die wie funkelnde Diamanten aussahen, meine Geburtssteine. In ebendiesen türkisenen, mit arabischer Kalligraphie verzierten Wänden hatten fromme Männer den Vater des Schahs den »neuen Yazid« genannt und waren Tage später eines gewaltsamen Todes gestorben.

Auf dem Weg nach draußen segnete mich ein einarmiger Bettler, der als frommer Mann verkleidet auf einer Matte auf dem Boden saß und meine Mutter um Geld bat. Meine Mutter griff in ihre Tasche, zückte ihr Portemonnaie, nahm alle Scheine heraus und drückte sie dem alten Mann in dessen einzige Hand. Münzen klirrten in ihrem Portemonnaie, und sie zog den Reißverschluss auf, holte eine 100-Rial-Münze hervor, zeigte mit einem Finger auf die Rückseite und sagte zu mir: »Hier sind wir, siehst du?« Sie drehte mein Gesicht zu der Moschee und hielt die Münze daneben. »Siehst du es jetzt?« Sie schüttelte mich.

»Ja«, sagte ich mit schniefender Nase.

Dann stellte meine Mutter ihre Geldbörse auf den Kopf und leerte den Inhalt auf die Matte des hocherfreuten Bettlers. Die Münzen prallten gegeneinander: pling, pling, pling.

»Ein Segen ist nicht mit Geld aufzuwiegen«, säuselte der Bettler.

DRITTES KAPITEL
1

In der ersten Woche nach meiner Verhaftung kam niemand außer Dr. Fereydun zu Besuch, doch dann tauchten Onkel Dariusch und sein Sohn Navid im Gefängnis auf und wollten mich sehen. Anfangs waren die drei meine einzigen Besucher, aber ich versuchte, das nicht allzu persönlich zu nehmen. Ich kenne nicht viele Leute, und besonders beliebt bin ich nie gewesen, auch nicht, bevor bekannt wurde, was ich getan habe. Und seien wir mal ehrlich, wer will schon die glückliche Geborgenheit seines Heims verlassen, um einer Mörderin gegenüberzusitzen. Onkel Dariuschs Frau Hilla hatte offenbar zu große Angst, um mich besuchen zu kommen, aber natürlich behauptete er, dass sie nicht in der Stadt wäre. Wo sie hingefahren war, sagte er nicht, deshalb wusste ich, dass er log. Onkel Dariusch gehört zu den Menschen, die einem immer ungefragt ihre komplette Lebensgeschichte erzählen. Er ist durchsichtig wie ein nasses weißes Hemd. Seine Ehrlichkeit ist seine beste und seine schlimmste Eigenschaft, damit hat er sich viele Freunde gemacht und ebenso viele Feinde. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie er es geschafft hat, meinen Vater zu überleben. Und wie er es jetzt schafft, mich zu überleben. Er nimmt nie ein Blatt vor den Mund, geht keinem Streit aus dem Weg, ist strammer Atheist und hasst alles, was mit der arabischen Welt und dem Islam zu tun hat, wie die Pest.

»Meine Dreifaltigkeit ist tot: Gott, Schah, Vaterland«, hat er oft verkündet. Deshalb wusste ich gleich, dass etwas im Busch war, als er bei seinem Besuch im Gefängnis kaum etwas sagte und ihm die Wörter so schwer über die Lippen kamen, als müsste er sie wie Läuse aus dichtem Haar klauben. Ich war enttäuscht, dass meine Tante nicht mitgekommen war. In meiner Kindheit stand ich ihr sehr nahe, und auch mit meinem Cousin Navid spielte ich oft, wenn sie uns besuchen kamen. Meist jagte ich ihn mit dem Schlauch durch den Garten und brachte sein sorgfältig gegeltes Haar, das er furchtbar wichtig nahm, durcheinander.

Dann beschwerte Navid sich bei meiner Mutter, strich seine schwarzen Locken glatt und trug neues Gel auf. Anschließend tränkte er ein Handtuch und verfolgte mich durch den Garten. Er wirbelte das nasse Handtuch durch die Luft und klatschte mir damit auf den Po, während ich vor ihm wegrannte und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Kleine Tropfen flogen durch die Luft, glitzerten in der Sonne wie die Juwelen eines aufgebrochenen Granatapfels, landeten kalt auf meinem Gesicht und liefen mir an den Beinen hinunter. Irgendwann rutschte ich unweigerlich aus, fiel in den Springbrunnen und schlug mir den Kopf an unserem Steinengel auf, während Navid sich totlachte. Benommen kletterte ich aus dem Wasser, klitschnass und in Tränen aufgelöst, mit an den Kleidern klebenden Blättern und ertrunkenen Wespen. Ich stolperte über Blumentöpfe oder lief gegen das Geländer, und dann kam Tante Hilla und zog Navid schimpfend am Ohr ins Haus, wo sie ihm eine Ohrfeige gab und ihn dazu zwang, für den Rest des Tages wie ein braver Junge zwischen ihr und seinem Vater zu sitzen. Als er einmal versuchte, sich zu rechtfertigen und seiner Mutter sagte, ich hätte seine Frisur zerstört, nachdem er stundenlang vor dem Spiegel gestanden habe, verdrehte sie ihm noch etwas mehr das Ohr und schimpfte: »Du bist zwei Jahre älter als sie, und außerdem schlägt man keine Mädchen. Niemals.«

Ich genoss es, wenn Navid geschlagen wurde. Trotzdem glaube ich nicht, dass sich meine sadistische Ader gegen ihn persönlich richtete. Ich habe nichts gegen den armen Jungen, der in unserer Kindheit mindestens genauso unter meinen Streichen gelitten hat wie ich unter seinen. Nein, meine Genugtuung betrifft das ganze männliche Geschlecht und geht sehr viel tiefer als jugendlicher Sadismus und Rachegelüste. Meine Verachtung und meine gemischten Gefühle gegenüber Männern habe ich von meiner Mutter geerbt. Wieder Eva, nicht Aresu.

Mit Navid erlebte ich meinen ersten Kuss, und er ist der Beweis, dass Liebe und Gewalt untrennbar miteinander verbunden sind. Man kann nur jemanden, den man liebt, ernsthaft verletzen. Um einen Menschen zu verletzen, um ihm einen irreparablen Schaden zufügen zu können, musst du ihn lieben. Und damit der Schaden dauerhaft ist, muss dein Opfer dich ebenfalls lieben. Wer liebt, wird zwangsläufig bestraft, denn die Liebe trägt ihre eigene Strafe auf der Schulter wie einen siamesischen Zwilling.

Tante Hilla ergriff immer Partei für mich, und die Tatsache, dass sie sich auf meine Seite schlug, machte mir Mut. Dank ihr war ich stolz, eine Frau zu sein. Ich fand es seltsam, dass sie mich nicht im Gefängnis besuchen kam. Was hatte ich ihr bloß getan? Wovor hatte sie Angst? Ihr Sohn und ihr Mann hätten sie begleitet, außerdem trug ich Handschellen. Hunderte von Augen wären auf mich gerichtet gewesen, und abgesehen davon töte ich nur Menschen, die ich liebe. Und so nett Tante Hilla auch ist, zu sagen, dass ich sie liebe, wäre gelogen. Aber sie hatte meiner Mutter nahegestanden. Vielleicht hätte sie einen Besuch bei mir als Verrat empfunden.

Navid saß stumm neben seinem Vater. Er sagte kein Wort, nickte nur bei Onkel Dariuschs Fragen oder schüttelte bei meinen Antworten den Kopf. Ich weiß nicht, ob er schockiert war oder Angst vor mir hatte. Vielleicht glaubte er zu träumen, und sein Traum wurde nach und nach zu einem Albtraum. Er starrte mit leerem Blick auf den Tisch zwischen uns, während mein Onkel redete. Dann legte er die Hände vor sich auf den Tisch, immer noch mit demselben leeren Blick, als hätte er noch nie Hände oder einen Tisch oder einen Stuhl gesehen. Als Nächstes hielt er sich die Handflächen vors Gesicht und bewegte sie vor und zurück. Einen Moment lang glaubte ich, meine Dunkelheit wäre ansteckend. Am liebsten hätte ich ihm geraten, bis Mitternacht zu warten und seine Hände dann dem Mond entgegenzustrecken, denn der Mond würde ihm alles, was er sehen musste, in seinem silbernen Licht zeigen. So wie er es mir gezeigt hatte.

Onkel Dariusch fragte, wie es mir gehe.

Gut.

Er fragte mich, warum ich es getan hätte, und ich sagte, dass ich es einfach hätte tun müssen.

Warum?

Weil es nicht anders ging, und weil es das Richtige war, der einzige Ausweg.

Fühlst du dich allein?

Ein bisschen.

Hast du Angst?

Wovor?

Vor dem, was dich erwartet?

Warum? Was erwartet mich denn?

Na ja, vielleicht wirst du den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen. Macht dir das keine Angst?

Doch.

Und was ist mit dem Tod? Hast du Angst vor dem Tod?

Nein.

Bereust du deine Tat?

Nein.

Brauchst du irgendwas? Sollen wir dir beim nächsten Mal was mitbringen?

Nur eine Uhr und ein Foto vom Himmel.

Eine Uhr?!

Ja, und ein Foto vom wolkenlosen Himmel!

Onkel Dariusch schüttelte den Kopf, leckte sich über seinen spröden Schnurrbart und bedeutete Navid aufzustehen.

Pass auf dich auf, sagte er. Wir werden für dich beten.

Ich hätte gern gesagt, dass das nicht nötig war, aber ich schwieg. Mein atheistischer Onkel wollte für mich beten. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

 

Als im Iran-Irak-Krieg Väter und Söhne vom Busen weinender Ehefrauen und Mütter gerissen wurden, um die Ehre ihres Landes zu verteidigen, war mein Cousin Navid vierzehn Jahre alt. Ich weiß noch, wie er sich in unserem Haus versteckte und tagelang weinte, weil die schmutzstarrenden Jungs aus der Nachbarschaft, mit denen er immer auf der Straße spielte, nachts aus ihren Häusern geholt und an die Front geschickt wurden. Onkel Dariusch, der wusste, dass sein Sohn als Nächstes an der Reihe sein würde, kaufte für Navid und Hilla zwei Fahrkarten nach Syrien. Er beschloss zu bleiben, weil er seinen Laden im Basar nicht aufgeben wollte. Er bat seine Frau, im Sayyida-Zainab-Mausoleum in Damaskus für ihn und für Iran zu beten. Nach neun Monaten kam Tante Hilla zurück, ohne die einzige Bitte, die ihr Mann ihr mit auf den Weg gegeben hatte, erfüllt zu haben. Sie sagte: »Ich habe vergessen, wie man betet.« Woraufhin Onkel Dariusch gleichmütig antwortete: »Macht nichts. Die Zeiten, in denen uns Gebete geholfen hätten, sind vorbei. Hilla dschan, meine Dreifaltigkeit ist tot.«

Nach meiner Urteilsverkündung rechnete ich mit weiteren Besuchen, aber ich bekam meinen Onkel und Navid zwei Wochen lang nicht zu Gesicht. Und eine Uhr oder ein Foto vom Himmel brachten sie mir auch nicht.

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