Loe raamatut: «SeelenFee - Buch Zwei», lehekülg 2

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16 – Sie waren gerade fertig geworden …

… und Konrad Schwendt grinste erleichtert, kurz nachdem er das Büro des Landgrafen im Gutshaus betreten hatte.

Raymond nickte anerkennend. Heute war Samstag, sie hatten kaum mehr als drei Tage für die Beseitigung des Chaos in Silvanas Wohnung benötigt – eine wirklich anerkennenswerte Leistung. Die Polizei hatte, wie es wohl üblich war, dem Vorfall ein Aktenzeichen zugeteilt und würde bei Änderung der Kenntnis- und Sachlage die Ermittlungen wieder aufnehmen, wie man Silvana gesagt hatte. Da nichts gestohlen worden war und die Einbrecher auch keine verwertbaren Spuren hinterlassen hatten, würde es wohl diese weiteren Ermittlungen nie geben. Niemand war verärgert darüber, im Gegenteil, alle, nicht nur Silvana, waren froh, mit der abgeschlossenen Aufräumaktion dieses leidliche Anliegen aus den Köpfen zu bekommen.

»Ich danke Ihnen, Konrad.«

»Nicht der Rede wert, Herr Graf.«

Herr Graf! Aus Konrads und Paulas Mund fühlte sich diese Anrede seit seiner Rückkehr nicht mehr passend an. Das würde er ändern, bald schon, doch im Moment, bis morgen, gab es drängendere Aufgaben.

»Ist Silvana jetzt bei Rosa?«

»In einer Stunde wird sie hier sein. Sie wollte noch ein paar Dinge nachsortieren«, sagte Konrad Schwendt, wobei ihm ein kurzes, vertrauliches Lächeln über das Gesicht huschte.

Offensichtlich hatten sie sich blendend verstanden, dachte Raymond und freute sich ein weiteres Mal über das Einvernehmen, das sich seit ein paar Tagen über das Landgut gelegt hatte. Es war … nahezu wie zu den schönsten Zeiten mit Melissa.

Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Raymond hatte Konrad direkt am Mittwoch an Silvanas Seite gestellt, zumal Paula, die anderen Hausangestellten und auch die Gutsmitarbeiter deutlich gemacht hatten, dass sie die anstehenden Arbeiten auf den Obstbaumwiesen und auch die Vorbereitungen auf die Taufe allein mühelos im Griff hatten. »Da stört Konrad sowieso nur«, hatte Paula Mittwochmorgen grinsend und mit einer betont wegwerfenden Handbewegung verdeutlicht. Sie freute sich, wie alle anderen auch, über die Einflussnahmen und Vermittlungen, die Silvana – beinahe im Stillen und mit einer liebenswerten Selbstverständlichkeit – auf dem Landgut getätigt hatte. Und endlich könnten sie ihr ein wenig von ihrer großen Zuneigung zurückgeben.

Doch davon wollte Silvana nichts wissen. »Melissa war und ist meine beste Freundin. All das ist nur selbstverständlich«, wiegelte sie immer wieder ab.

Natürlich war es nicht selbstverständlich. Das wussten alle. Dass Melissas Mutter jetzt jeden Tag im Gutshaus war und sich rührend um Rosa kümmerte, gehörte auch zu den Dingen, die Silvana angestoßen hatte – auch das war nicht selbstverständlich.

Abends, wenn Ingmar Scholz kam, um seine Frau abzuholen, und Silvana zurück aus ihrer Wohnung zum Gutshaus fuhr – bis Sonntag, bis zur Taufe, wollte sie sich nachts nach wie vor um Rosa kümmern, das hatten Silvana und Raymond gemeinsam beschlossen -, saßen sie noch bei einem kleinen Imbiss zusammen und erzählten von ihren Erlebnissen des Tages und von den Fortschritten der Vorbereitungen auf die kleine Feierlichkeit am Sonntag.

Alle, nicht nur Raymond, genossen diese ruhige Stunde zutiefst. Es war, als wären sie eine Familie, und ein Stück weit waren sie es in diesen wenigen Momenten auch.

Nachts lag Raymond stets lange in einer Art verträumten Zustand wach und holte sich noch einmal die Bilder dieser abendlichen Verbundenheit vor Augen. Und immer saß dann Melissa lachend und aufmerksam zuhörend mit am Tisch. Dieser Wunschtraum, diese Illusion, dass sie bei ihm, unter ihnen war, tröstete ihn sehr.

Und jede Nacht, kurz vor dem Einschlafen, gab es da noch einen anderen, sehr merkwürdigen Gedanken, der ihn ein wenig beunruhigte, der ihn aber dennoch friedlich einschlafen ließ – einen Gedanken an Silvana. Er hatte das Gefühl, mit ihr in seiner Nähe war nahezu alles machbar. Sie verstand ihn beinahe so gut wie Melissa. Doch eben nur beinahe, denn es gab da schon noch einen bedeutsamen Unterschied: Melissa hatte er geliebt. Gleichwohl … Silvana ab Sonntagabend nicht mehr in seiner Nähe zu wissen, fühlte sich bitter an.

»Da ist noch etwas«, sagte Konrad Schwendt, womit er Raymond aus der Einsamkeit seiner Gedanken zurück in die Wirklichkeit holte. »Philipp wartet draußen. Er würde gern kurz mit Ihnen reden. Aber er will keinesfalls stören.«

»Aha! Nicht stören will er? Seit wann ist Philipp so feinfühlig?«

»Er scheint verändert, Herr Graf«, sagte Konrad Schwendt mit ernster Stimme.

Nachdenklich fragend sah Raymond seinen Verwalter an. Philipp Schwarzer, sein Nachbar, war eher der Kumpeltyp, der sagte, was er dachte, und auch im Handumdrehen mit allen per Du war. Und der hatte sich verändert? Was war geschehen?

Plötzlich fielen Raymond Elektras letzte Worte wieder ein … »Frag deinen Nachbarn!«

»Ich denke, wir sind auch so weit durch, oder?« Mit einem Nicken stimmte Konrad Schwendt seinem Chef zu. »Gut. Dann bitten Sie Philipp herein.«

*

Raymond schüttelte den Kopf. Er wollte nicht glauben, was er da eben vernommen hatte.

»Doch, Raymond, du kannst mir glauben, so war das«, sagte Philipp Schwarzer betont aufrichtig.

»Aber … du wolltest doch nie verkaufen. Warum dann jetzt diese … diese Kehrtwendung?«

Raymonds Nachbar zuckte die Achseln. »Ich habe sie anfänglich nicht ernst genommen. Eine so schöne Frau … was will die mit zwei Obstwiesen, habe ich nur gedacht. Was für ein Irrtum.« Beide schwiegen. »Heute weiß ich auch, dass es ein riesiger Fehler war. Ich hätte erst mit dir … aber du warst ja nicht … Und ich wusste nicht, wie ich dich erreichen konnte. Es ist unverzeihlich, ich weiß das jetzt auch. Und dann haben sich die Ereignisse überschlagen«, fuhr er nuschelnd fort und erzählte Raymond erneut den Anfang dieser sehr merkwürdigen Geschichte – wohl auch, weil er sie selbst kaum glaubte.

»Letzte Woche war Elektra Gräfin von Memmingstetten überraschend bei mir. ›Wie geht es dir, Philipp? Du erinnerst dich an mich?‹, fragte sie. Natürlich erinnerte ich mich an sie, aber dass sie noch wusste, wer ich war …? Damals, als ihr zusammen wart … wir alle hier im Dorf haben dich beneidet. Ich auch, ich gebe es zu, obwohl ich längst verheiratet war. Meine beiden Kleinen waren schon nicht mehr ganz so klein. Michaela ging schon in die Schule.« Er lachte … ein wenig verlegen. »Doch, doch, so war es. Aber eine so schöne Frau, und dann auch noch adlig, die sucht sich natürlich einen Prinzen, war unsere Erklärung dafür, warum sie für all uns ›Normalos‹ hier unerreichbar war.« Doch plötzlich verlor sich sein Lachen. »Aber an dem Donnerstag kam sie mir noch viel schöner vor. Und diese Frau erinnerte sich an mich. Unfassbar. Doch dann erzählte sie plötzlich etwas von Obstwiesen. Von Geschäften und so. Der Übergang war so … so nahtlos, ich konnte das überhaupt nicht begreifen.«

»Sie hat dich also eingewickelt.«

»Ja, genau. Eingewickelt. Und ihre Anwesenheit, die … die war überwältigend.«

»Aha! Und du wusstest dich nicht anders zu wehren, als ihr diese zwei Wiesen zu verkaufen?«

»Nein, nein, so war das nicht, Raymond«, entgegnete er abrupt, wartete einen Moment und fuhr dann mit ernüchterter Stimme fort: »Ich bin ehrlich, ich habe sie unterschätzt. Sie ist nicht nur charmant, sie ist auch … eiskalt.«

»Eiskalt?«, wiederholte Raymond dieses eine Wort kaum hörbar, welches Elektra vielleicht tatsächlich hinlänglich beschreiben konnte. Eiskalt war sie wohl tatsächlich, so schien es, wenn sie etwas unbedingt wollte.

Wenn er jetzt so darüber nachdachte, dann hatte er letzten Samstag, am Ende ihres Gesprächs den gleichen Eindruck gewonnen. Aber … das waren natürlich andere Vorzeichen gewesen.

»Und trotzdem hast du -«

»Nicht gleich, Raymond, das musst du mir glauben«, unterbrach Philipp ihn. »An dem Donnerstag habe ich sie … ich würde mal sagen: Ich habe sie lächelnd abblitzen lassen. Zumindest habe ich es versucht. Und im Nachhinein auch geglaubt, dass ich es geschafft hatte. ›Ich verkaufe nicht‹, hatte ich zu ihr gesagt.« Beschwörend sah er Raymond an und riss dann die Augen weit auf. »Und sie … was machte sie? Sie kam auf mich zu, strich mir mit einem Finger über die Wange und sagte: ›Glaube mir, Philipp, alles hat seinen Preis. Alles.‹ Dann gab sie mir noch ihre Karte … ›Du kannst mich heute jederzeit anrufen. Aber spätestens am Samstag komme ich wieder, und da wäre es schön, wenn du mir deinen Preis nennen würdest.‹ Das waren ihre Worte gewesen. Von einer Sekunde zur nächsten ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen, das kannst du mir glauben. Es war gruselig. Ich spüre es noch immer.«

»Und dann?«

Philipp Schwarzers Blick verlor sich in seinen Erinnerungen. »Und dann? Dann wurde es vollkommen verrückt. Auf ihrer Karte stand auch die Adresse ihrer Homepage. Wusstest du, dass … deine Elektra jetzt in Kolumbien lebt?«

»Nein. Und sie ist nicht meine –«

»Schon gut, Raymond, sorry«, fiel Philipp ihm erneut ins Wort. »War auch nur ein Scherz, obwohl … scherzen sollte man mit dieser Frau besser nicht. Na, jedenfalls hat es mir keine Ruhe gelassen … Was will eine Frau, die in Kolumbien lebt, mit zwei Obstwiesen am Bodensee? Das war irgendwie absurd. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass sie als Taufgeschenk für deine Tochter gedacht waren.«

»Was? Bist du jetzt völlig …?« Übergeschnappt, hatte Raymond sagen wollen, hatte das letzte Wort aber zurückgehalten. Zu verrückt klang alles, was er da gehört hatte … Aber es sollte noch verrückter kommen.

»Ach, das weißt du noch gar nicht?«

»Das ist Unsinn, Philipp, völliger Unsinn. Vor einer Woche wusste ich ja selbst noch nichts von der morgigen Taufe. Und außerdem … Sie ist ja nicht einmal eingeladen.«

»Ja, gut, du hast recht, das mit dem Taufgeschenk erzählte sie mir auch erst am Mittwoch. Aber das mit der Einladung zur Taufe, Raymond, das würde ich mir an deiner Stelle noch mal gründlich überlegen.«

Fragend sah Raymond seinen Nachbarn an. War das jetzt lediglich ein Hinweis oder am Ende gar eine Art Drohung?

»Weißt du, wer ihr Gatte war?«

Raymond schüttelte den Kopf. »Ich weiß lediglich, dass er vor einem Jahr tödlich verunglückt ist … hat sie mir erzählt. Aber ob das wirklich stimmt?«

»Verunglückt? Ha! Hat sie wirklich ›verunglückt‹ gesagt?«, stieß Philipp Schwarzer gehässig hervor.

»Ja. Das waren ihre Worte gewesen. Vielleicht ein Autounfall. Danach klang es zumindest für mich.«

»Nein, Raymond, kein Autounfall, und er ist auch nicht einfach verunglückt, er … er wurde erschossen … auf offener Straße.«

Schweigend sah Philipp Schwarzer seinen Nachbarn einen langen Moment an und fuhr dann ruhig fort: »Sicherlich, erschossen werden ist auch ein Unglück, aber bestimmt nichts, was wir beide unter ›verunglückt‹ verbuchen würden.«

Raymond wusste nicht, ob er all das, was er da hörte, glauben sollte. Elektra war nie »ein Kind von Traurigkeit« gewesen, hatte immer schon das aufregende Leben geliebt … war darin oft robuster gewesen als manch ein Mann.

Aber das hier?

Gut, sie hatte ihn verlassen, weil sie noch etwas, nein, weil sie noch viel hatte erleben wollen, auch weil sie sich noch hatte ausprobieren wollen …

Genau genommen hätte er da schon spüren können und auch müssen, dass ein Heiratsantrag ins Nichts laufen würde. Aber ihre Worte – sich ausprobieren wollen – waren aus einer übermütigen Laune heraus gesagt worden. Er hatte sie nicht ernst genommen.

Doch war das jetzt nicht mehr von Belang, bemerkenswerter war, in welche Kreise sie danach geraten war … und dass sie wohl außerdem eine sehr befremdliche Art von Wahrheit im Umgang mit ihrem Leben gefunden hatte.

Erschossen, ging es ihm durch den Kopf. Was für eine andersartige und bizarre Welt.

Und was wollte diese Frau, die ihm mit jedem von Philipps Worten fremder geworden war, tatsächlich von ihm? Zwei riesige Obstwiesen für seine Tochter? Was sollte das? Elektra lebte jetzt in Kolumbien. Oder wollte sie am Ende tatsächlich zurück … zu ihm?

Philipp Schwarzer schien ihm seine Gedanken an den ungläubigen Augen abzulesen, zumindest einen Teil davon, und verhalten fuhr er fort: »Dieser Rafael Marin Gonzalez – sein Name hat sich mir auf immer und ewig eingebrannt – war so was wie der Pate von Kolumbien. Er -«

»Was? Du meinst Drogen?«

»Nein, nein, keine Drogen. Alles ›legal‹. Was viel cleverer ist. Ihm gehörten beinahe dreißig Prozent der kolumbianischen Kaffeeplantagen, dazu eine Baufirma, die nahezu alle Fernstraßen in Kolumbien baut, und schließlich noch die größte Müllentsorgung des Landes. Ein riesiges Imperium. Milliardenschwer. Und all das … gehört jetzt dieser Elektra.«

»Du erzählst Unsinn, Philipp.«

»Ach ja? Weißt du, warum sie nicht mehr bei dir hier wohnt, wie sie es anfänglich vorgehabt hat?«

»Nein, aber du weißt es, was?«

»Raymond, ich weiß, das klingt jetzt alles ziemlich verrückt, aber du musst mir glauben. Informiere dich! Im Netz findest du fast alles.« Eindringlich sah er Raymond an und fuhr dann fort: »Außerdem … eine Cousine von mir ist die Empfangschefin im Excelsior, und die hat mir noch so einiges erzählt, vertraulich. Dinge, die du natürlich nicht im Internet findest.« Philipp Schwarzer sprühte vor Überheblichkeit. Wie Raymond das hasste.

»Und was … was hat deine Cousine dir erzählt, Philipp?«

»Elektra, beziehungsweise ihre Sekretärin, hat im Excelsior eine ganze Etage angemietet. Und das schon seit Anfang letzter Woche. Und deine Elektra ist auch schon seitdem hier. Genau genommen seit dem Dienstag nach der Beisetzung. Und sie hat auch nicht nur drei oder vier Koffer dabei, wie sie es Paula glaubhaft machen wollte. Außerdem ist ihr Sicherheitschef mit drei Securitys wohl auch ständig um sie herum. Sehr diskret. Und dieser Sicherheitschef soll ihr wohl gesagt haben, dass er hier, auf deinem Landgut, nicht gänzlich für ihre Sicherheit garantieren könne. Deshalb ist sie auch wieder zurück ins Excelsior gezogen.«

»Halt, Philipp! Das alles ist doch … Sind wir hier in einem schlechten Film?« Raymond schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich habe Elektra nicht gebeten zu kommen, und ich will auch nichts von ihr, im Gegenteil, als sie mich letzten Samstag traf, habe ich ihr deutlich gemacht, dass ich kein Interesse mehr habe. Und sie ist auch morgen nicht eingeladen, woran ich nichts ändern werde. Also, warum sollte sie mir oder meiner Tochter zwei riesige Obstbaumwiesen ›schenken‹?«

»Das weiß ich auch nicht. Aber eines weiß ich sicher, es muss ihr sehr wichtig sein, denn … sie hat verdammt viel Geld dafür auf den Tisch gelegt.« Und Philipp Schwarzer erzählte weiter: »Letzten Samstag sagte ich ihr noch einmal, dass ich nicht verkaufen werde. Du musst mir glauben, ich hatte es wirklich nicht vor. Doch sie ließ nicht locker. Und dann begann sie mit den ersten versteckten Drohungen. ›Michaela, deine Tochter, ist jetzt neunzehn. Ein hübsches Mädchen, hab ich mir sagen lassen. Und sie fährt noch immer mit dem Fahrrad. Das ist doch ziemlich gefährlich, oder? Ein kleines Auto, das du ihr von dem Erlös hier schenken könntest, wäre doch viel sicherer, oder nicht?‹, hat sie mit gleichmütiger und kalter Stimme gesagt. Es war schrecklich, Raymond. Sie weiß auch, dass Magnus in einem Internat für Hochbegabte ist. ›Magnus, dein Sohn, ist eben sechzehn geworden und macht nächstes Jahr schon sein Abi. Chapeau! Dann will er Physik oder Mathematik studieren. Ein helles Köpfchen. Ich freue mich für dich‹, hat sie gesagt. Und glaube mir, Raymond, in ihren Augen lag keine Freude, auch konnte ich kein Mitgefühl entdecken. Ihre Augen, schwarz mit einem grünen Schimmer, waren eiskalt. Sie hat mir gedroht!«

Raymond spürte, wie ihn plötzlich etwas umklammerte, und er schluckte trocken. Obwohl all das Gehörte mehr in einen düsteren Krimi passte, glaubte er Philipp nun doch jedes Wort. »Und dann?«

»Dann habe ich einen letzten Versuch unternommen … ›Gut. Aber preiswert sind diese Wiesen nicht‹, habe ich zu ihr gesagt und ihr einen völlig überzogenen Preis genannt.

Sie hat nur gelächelt. Offensichtlich hatte sie in dem Moment gewusst, dass sie gewonnen hatte.« Erneut sah Philipp seinen Nachbarn aus großen Augen an und fuhr dann kaum vernehmlich fort: »›Philipp‹, sagte sie in einem herablassenden Ton, ›ich weiß, dass dein Land kaum mehr als ein Drittel deines Preises wert ist. Trotzdem … niemand soll sagen, ich hätte dir dein Land gestohlen. Deshalb, Philipp, werde ich deinen Preis noch einmal verdoppeln. Alle werden dich beneiden. Wenn du willst, beeindrucke sie mit deinem kaltschnäuzigen Verhandlungsgeschick. Erzähl deinen Freunden und Bekannten, was immer du willst. Aber … am Montag, Philipp, am Montag gehen wir zum Notar. Um zehn Uhr. Der Termin steht schon fest. Und am Mittwoch hast du das Geld auf deinem Konto. Und danach hörst du nie wieder etwas von mir. Versprochen, Philipp!‹ Das waren ihre Worte, Raymond. Letzten Montag waren wir dann tatsächlich beim Notar und am Mittwoch, vor drei Tagen also, war das viele Geld auf meinem Konto. Ein letztes Mal war sie danach noch bei mir. Sie wollte nur wissen, ob alles in Ordnung sei. Und bei der Gelegenheit sprach sie auch von der Taufe. Sie wusste davon. Von wem auch immer. Also, Raymond, überleg es dir mit der Einladung noch einmal.« Philipp Schwarzers Augen verloren sich im Nichts, so schien es, endlich war alles gesagt. Und verhalten ergänzte er: »Auch wenn du es mir nicht glaubst, Raymond, ich … ich fühle mich entsetzlich.«

Doch … Raymond glaubte ihm! Zu verwirrend, zu abstrus war all das Gehörte, um erfunden zu sein.

Zwei Minuten später ließ ein sehr kleinmütiger und nachdenklicher Philipp Schwarzer den ebenso nachdenklichen Landgrafen zurück.

Doch diese Nachdenklichkeit hallte Raymond nur einen kurzen Moment durch den Kopf. Alte, lang verborgene Kräfte kehrten zurück, denn er spürte, hier ging es nicht nur um ihn, hier ging es auch um seine Tochter und um Melissa, um ihre Eltern und am Ende vielleicht sogar um Silvana – hier ging es um sein Leben, sein neues Leben, das er erst im Begriff war, nach und nach kennenzulernen. Und niemand durfte ihm, auf welche Weise auch immer, dazwischenfahren. Das würde er zu verhindern wissen.

Übermorgen, am Montag, werde ich zu ihr gehen, dachte er. Übermorgen werde ich diesem Spuk ein Ende bereiten.

Er war entschlossen, dieses neue und wohltuende und sogleich auch schwierige Leben zu verteidigen. Immerhin war er Raymond-Lazare Landgraf zu Sipplingsberg, eine »Hoheit«, eine »Königliche Hoheit«, auch wenn ihm dieser Titel in seinem Leben bislang nur wenig Glück gebracht hat. Und auch hier – im Umgang mit einer Gräfin, heute wohl eher einer »Dollar-Gräfin« oder in welcher Währung diese Frau, die er einmal geliebt hat, jetzt dachte und handelte – würde er sich nicht auf das Glück verlassen. Er würde nur auf den über Generationen gewachsenen Respekt, den sein Titel ihm verschaffte, vertrauen. Und nein, er würde nicht zu ihr gehen, selbstverständlich nicht. Er würde …

Er nahm sein Mobiltelefon hervor und wählte eine Kurzwahl.

»Frau Gerster, ich grüße Sie. Sipplingsberg hier. Wir sehen uns ja morgen, aber heute, obwohl Samstag ist, hätte ich noch eine Bitte an Sie … als meine Sekretärin.«

»Was immer Sie wünschen, Chef.«

Er lächelte. Wie hatte ihm ihr »Chef« gefehlt.

»Gut. Dann machen Sie bitte für Montag, 11.00 Uhr, einen Termin in meinem Büro. Ich schicke Ihnen gleich Namen und Telefonnummer per SMS. Und … ich verlasse mich auf Sie, Frau Gerster.«

»Aber selbstverständlich, wie immer, Chef. Soll ich einen Grund anmerken?«

»Ich denke, mein Name wird ausreichend sein.«

17 – Der Sonntagsgottesdienst war ...

… seit einer halben Stunde beendet. Doch kaum jemand hatte die Kirche verlassen; im Gegenteil, nicht nur, dass die Messe heute besonders gut besucht war, es waren in den letzten Minuten auch noch Dorfbewohner und andere Neugierige dazugekommen. Alle wollten der Taufe einer Prinzessin beiwohnen, die gleich beginnen sollte.

Als die Taufgemeinde dann endlich die Kirche betrat, unter leisem Geraune die Schirme schloss, Schneeregen ergoss sich schon seit Stunden aus dunklen Wolken auf Land und See, wurde es augenblicklich still im Kirchenschiff.

Erwartungsvolle Ruhe breitete sich aus.

Kaum vernehmbar, als würden sie vom Himmel fallen, erklangen erste Orgeltöne … eine Bachkantate.

Aufmerksam stand der Pfarrer am Altar. Doch niemand beachtete ihn, alle wollten das Baby sehen … und den Vater, der nun wohl endlich zu seinem Kind gefunden hatte.

In den letzten Wochen war viel erzählt und gemutmaßt worden. »Rabenvater« war beinahe noch das Harmloseste, was verbreitet worden war.

Als die Gruppe dann endlich durch den Mittelgang dem Altar entgegenschritt, war augenblicklich klar, dass das Gerede weitergehen würde. Neben dem Landgrafen schritt Silvana Larbang, die beste Freundin der Verstorbenen. Und erst hinter den beiden folgten die Eltern von Melissa zu Sipplingsberg. Einige der Gottesdienstbesucher schüttelten den Kopf über diese Pietätlosigkeit – und das nicht nur innerlich.

Dass Raymond darauf bestanden hatte und in Melissas Eltern darin Unterstützung gefunden hatte – und dass Silvana sich bis zum Schluss gegen diese Art der »Präsentation« gewehrt hatte – würden diese Besucher nie erfahren, auch würde es sie kaum interessieren. Ihr Urteil stand fest: Die beste Freundin der Verstorbenen war wohl nur eine kleine »Arrivierte«, die die Gunst der Stunde geschickt genutzt hatte. Und ihr Urteil schien vonseiten der gräflichen Familie untermauert zu sein – weder seine Mutter noch seine Schwester waren an diesem wichtigen Tag für das Haus zu Sipplingsberg zugegen.

Glücklicherweise sah der größere Teil der Gottesdienstbesucher das anders. Man hatte gehört, dass die beste Freundin der Verstorbenen sich aufopferungsvoll um die kleine Prinzessin gekümmert, wohl auf ihr eigenes Leben für Wochen gänzlich verzichtet und dass der Landgraf in seiner Trauer von seiner Familie nur wenig Unterstützung bekommen hatte.

Und in dem Blick der Prinzessin, die unablässig und mit großen Augen auf Silvana starrte – all das um sie herum schien ihr nicht geheuer –, erkannten diese Besucher eine innige Verbundenheit zwischen dem Baby und der jungen Frau. Auch war das Lächeln, das die junge Frau der Prinzessin wieder und wieder schenkte, von einer zutiefst warmherzigen Sympathie. Dem Baby, der Prinzessin, ging es gut. Und nur das war diesen Menschen wichtig.

Silvanas Mutter, die abseits, ein wenig versteckt, stand, sah all das nicht. Sie wollte das so auch nicht sehen. Sie gehörte zu denen, die entsetzt den Kopf schüttelten. Sie schämte sich für ihre Tochter.

Die Einladung zum anschließenden kleinen Empfang, die Silvana ihr vorgestern im Namen des Landgrafen ausgesprochen hatte, hatte sie dankend abgelehnt. »Ich kann das nicht«, hatte sie gesagt. »Und du solltest dir auch mal überlegen, wo du hingehörst. Dorthin sicher nicht.«

Diese Ablehnung, die Silvana beinahe erwartet hatte, hatte sie dennoch schmerzlich getroffen. »Steh doch einmal zu mir, Mama, und vertrau mir!«, hatte sie ihrer Mutter mit flehender Stimme geantwortet. Doch ihre Mutter hatte sich nur stumm abgewendet und war davongeradelt.

Jetzt ging Silvana hier, in der ersten Reihe, und sie fühlte sich unsagbar deplatziert. Das Einzige, was ihr Halt gab, war Rosas Blick, vertraut und ängstlich zugleich ob der Dinge, die um sie herum geschahen.

*

Die Zeremonie war von kurzer Dauer. Raymond hatte darauf bestanden. Ihm war nur wesentlich, dass der vollständige Name der kleinen Prinzessin deutlich, für alle vernehmbar, verkündet wurde. Davon wussten nur er und der Pfarrer.

»… und somit taufe ich dich auf den Namen Rosa-Marietta Melissa Sibylle Silvana Prinzessin zu Sipplingsberg«, sagte der Pfarrer und ließ ein paar Tropfen von dem geweihten Wasser über die Stirn des Babys fließen.

Silvana? Entsetzt schreckte Silvana auf, blickte Melissas Mutter an, die ebenso irritiert die Augen aufriss, und wendete ihren Blick dann zu Raymond, der mit einem Lächeln seine Tochter in den Händen hielt. Sicherlich spürte er die fragenden Blicke der beiden Frauen, die neben ihm standen, doch schien er nicht gewillt, eine Erklärung oder einen kurzen Blickkontakt zu geben. Er hatte entschieden. Basta!

Erst am Nachmittag, am Ende des kleinen Empfangs, sollte Silvana mehr erfahren.

Als sie die Kirche eine halbe Stunde später wieder verließen, sah Raymond sich unauffällig um, zumindest versuchte er es. Elektra erblickte er aber nicht. Merkwürdigerweise beruhigte ihn das nicht.

Was er nicht sah, waren eine Frau und ein Mann, südländisch vom Typ her, dezent und vornehm gekleidet, sicherlich kein Pärchen, fremd hier, die sich stets verschwiegen wegduckten, sobald sein Blick in ihre Richtung fiel.

*

Stunden später war es dann so weit: der Abschied.

Der kleine Empfang war friedlich verlaufen. Man hatte über Belanglosigkeiten geredet, auch gelacht, doch nicht von Herzen, eher zurückhaltend, beinahe … verkrampft. Letztlich war man froh gewesen, diesen Tag, diese »Feierlichkeit«, mit Anstand, Würde und der angemessenen Zurückhaltung hinter sich gebracht zu haben. Melissa hätte bestimmt gesagt: »Feiert! Feiert den Namen und das Leben meiner Tochter.« Aber niemandem war zum Feiern zu Mute gewesen. Alle vermissten sie, und dagegen hätte sich Melissa auch nicht mit ihrem gewinnenden Lachen wehren können.

»Dann ist es jetzt so weit?«, sagte Raymond mit Wehmut in der Stimme.

Silvana nickte nur. Sie wollte jetzt rasch weg. Sie hatte den Moment genutzt, als Sibylle sich aufmachte, Rosa die Windel zu wechseln.

»Wann sehen wir dich hier wieder?« Raymond versteckte sich und seine Traurigkeit über den seit Tagen überfälligen Abschied hinter dem »Wir«. Silvana versteckte ihre Antwort stumm hinter einem Achselzucken.

»Lass uns nicht zu lange warten. Rosa vermisst dich jetzt schon.«

Sie versuchte, seine letzten Worte augenblicklich zu vergessen, und sie räusperte sich. »Bei mir ist viel liegen geblieben. Ich habe zwar keine Augenringe … dennoch … die Auftraggeber drängeln.«

Das mit den Augenringen verstand er nicht, doch mochte sie es ihm jetzt nicht erklären. Sie wollte nur weg. Aber eines gab es dann doch noch.

»Warum Silvana? Melissa und Sibylle verstehe ich, aber warum Silvana

Nachdenklich schloss Raymond die Augen. Einen langen Moment. Schließlich sah er sie an. »Du hast ihr etwas gegeben … Ich denke, nur eine Mutter, nein, vergiss das und bitte, versteh mich jetzt nicht falsch. Es ist nur so, dass Rosa sich immer daran erinnern soll, wer wirklich von Belang in ihrem Leben war und ist. Und ist der eigene Name dafür nicht der beste Platz?«

Silvana war beeindruckt. Und sie spürte, obwohl sie sich entschieden dagegen wehrte, dass er wohl recht hatte. Eine Träne löste sich und lief ihr über die Wange.

»Ich danke dir, Raymond.«

»Nein, ich … wir alle danken dir, Silvana.«

Er sah sie an, und er lächelte verlegen. Und dann … ohne zu zögern … öffnete er die Arme. »Darf ich?«

Auch Silvana zögerte nicht, ging die zwei Schritten auf ihn zu und verlor sich einen Moment in seiner Umarmung.

Es war … nein, sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, auch wollte sie sich dem Gefühl nicht länger hingeben. Sie musste endlich weg. Mit Anstand.

»Ich komme in den nächsten Tagen immer mal vorbei. Nach Rosa sehen. Versprochen. Vielleicht abends, wenn Herr Scholz Mama Sibylle abholt.« Sie lachte verlegen. »Das klingt ja beinahe so, als wollte ich mich hier zum Essen einladen.«

»Nein, nein. So klingt das ganz und gar nicht. Du bist hier willkommen … immer. Wann du möchtest. Und sollte Rosa dich sehr vermissen, kommen wir … alle … zu dir.«

»Gern. Aber jetzt muss ich …«

Paula und eine Hausangestellte würden sich vorerst, bis eine »Nanni« gefunden war, tagsüber um Rosa kümmern. Abends und nachts wollte Raymond die Kleine bei sich haben. So war es zumindest angedacht. Silvana plagte ob dieser Lösung ein wenig das schlechte Gewissen, dennoch musste sie jetzt an sich und ihre Arbeit denken. Termine drängten, kaum etwas hatte sie in den letzten Wochen vom Schreibtisch bekommen.

»Ein Allerletztes noch«, sagte Raymond. »Ich danke dir auch für das mit den Träumen.«

Sie verstand ihn nicht gleich, mochte jetzt auch nicht nachfragen, doch rasch fuhr er fort: »Der Albtraum … Ich bin drangeblieben. Ohne deinen Hinweis … Wer weiß, vielleicht würde ich heute noch …? Es war eine schlimme und schöne Erfahrung. Ich danke dir!«

»Für die Erfahrung?«

Er lächelte. »Du weißt, wie ich das meine.«

Ja, sie wusste es. Sie nickte nur, und sie schwieg.

»Hast du alles?«

Nun lächelte sie doch noch einmal. Wie besorgt er war.

»Das Auto ist gepackt. Aber keine Angst, es sind alles nur meine Sachen.«

Er lachte nur. Verlegen. Alles war gesagt. Für den Moment.

Und dann … ohne ein weiteres Wort, ohne eine weitere Geste, ohne eine weitere Berührung stieg sie in ihr Auto und fuhr los.

Zu Hause angekommen, verschloss sie die Wohnungstür, stellte ihr Mobiltelefon ab und verschwand heulend unter ihrer Bettdecke.

Doch … nach etwa einer halben Stunde stand sie auf, machte ihr Telefon wieder an, holte all ihre Sachen aus dem Auto und goss sich einen Tee auf.

Sie wollte sich nicht verstecken. Es gab keinen Grund dafür.

Weinend stand sie dann am Fenster und blickte in die Dunkelheit. Alles war friedlich. Nichts deutete mehr darauf hin, dass bis vor Stunden noch schwerer Schneeregen über das Land gezogen war. Die Straße vor ihrer Haustür war beinahe wieder trocken.

»Das Leben geht weiter«, sagte sie leise vor sich hin und dachte kurz über die Ereignisse der letzten Tage nach. Noch nie hatte sie in so kurzer Zeit so viel Unbekanntes und Bekanntes gleichzeitig in ihr Leben hineinlassen müssen: den Tod und das Leben, das traurige Mitgefühl und das falsch verstandene Mitleid.

Tasuta katkend on lõppenud.

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