Loe raamatut: «Die Herrin des Clans», lehekülg 2

Font:

Dalbeth House war ein eindrucksvolles Gebäude, das inmitten von Gärten lag, die von hohen Mauern umgeben waren.

Der Herzog fuhr in einer gut gefederten, mit vier Pferden bespannten Kutsche, die sein Onkel natürlich nicht bezahlt hatte. Pünktlich um vier Uhr erreichte er das schmiedeeiserne Tor.

Dieser Zeitpunkt galt allgemein als passender Ankunftstermin. In seiner Einladung hatte er gelesen, daß er die Gräfinwitwe am ersten Abend treffen sollte. Für den nächsten war eine große Familienfeier geplant.

Er konnte sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren, daß am zweiten Abend seine Verlobung mit Lady Jane offiziell verkündet werden sollte.

Im Stillen hatte er gehofft, man würde ihm mehr Zeit lassen, seine zukünftige Braut kennenzulernen. Mit ein bißchen Glück hätten sich vielleicht sogar einige gemeinsame Interessen finden lassen.

Seit seiner Ankunft in Schottland wurde er ständig angetrieben. So sehr ihm das mißfiel, es blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich mit so viel Würde wie nur irgend möglich zu fügen.

Er saß zurückgelehnt in seiner Kutsche, die auf seinen Wunsch hin offen war, und ließ die Landschaft auf sich einwirken. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.

Über eine lange, kurvenreiche Straße, die mitten durchs Moorland führte, erreichte man ein mit Nadelbäumen bewachsenes Tal. Ein kleiner Fluß schlängelte sich hindurch, in dem er sicherlich eine Anzahl schöner Lachse fangen konnte, falls ihm Zeit genug dazu blieb.

Kurz darauf gelangten sie zum Meer, das sich bis hin zum fernen blauen Horizont erstreckte.

Steile Klippen ragten gen Himmel. Hier war die gefährliche Stelle, wo sein Vetter mit seinem Boot gekentert und ertrunken war.

Die Gräfinwitwe begrüßte den Herzog sofort bei der Ankunft. Zu seiner Überraschung glich sie kein bißchen dem Bild, das er sich von ihr gemacht hatte.

Sie trug ein schwarzes Kleid, das nur aus Paris stammen konnte. Am meisten verwunderte ihn ihre Welterfahrenheit, die er im schottischen Hochland nicht vermutet hätte.

Außerdem fand er die Art und Weise, wie sie geschminkt war, ungewöhnlich. Unwillkürlich fielen ihm die Worte des Marquis ein, daß der Graf in den letzten Jahren seines Lebens nicht glücklich gewesen war.

Die Gräfinwitwe redete überschwenglich auf ihn ein, während sie ihn in einen eleganten Salon führte. Der Raum hatte eine hohe Decke und große Fenster mit Aussicht aufs Meer.

Im Gegensatz zu seinem eigenen Schloß machte hier alles einen neuen, luxuriösen und vor allem kostspieligen Eindruck.

Es gab eine Überfülle an Blumen, Seidenkissen und Kristall-Leuchtern. Allein das Teeservice, das sofort nach seiner Ankunft hereingebracht wurde, war ein kleines Vermögen wert.

Er und seine Gastgeberin blieben beim Tee allein. Sie plauderte ununterbrochen, wobei sie ihn immer wieder aufforderte, den Kuchen, die frischen Brötchen und die unzähligen anderen Delikatessen zu probieren. Ihr Benehmen ließ keinen Zweifel in ihm aufkommen, daß er ihr mehr als willkommen war.

„Es war sehr schlimm hier während der langen Krankheit Ihres Onkels“, sagte sie. „Natürlich haben wir auch noch andere Nachbarn. Doch da unsere Ländereien unmittelbar aneinandergrenzen, lag mir diese Freundschaft immer besonders am Herzen. Und jetzt werden all meine Träume wahr.“

Mit einem bezaubernden Lächeln fuhr sie fort: „Die liebe Jane ist natürlich ein bißchen schüchtern. Sie sieht dem ersten Zusammentreffen mit Ihnen etwas ängstlich entgegen. Was mich betrifft, so bin ich sicher, daß Sie ihr freundlich begegnen werden. Sie verstehen bestimmt, daß sie, nachdem sie solange in Italien lebte, einen Teil unserer Hochlandgebräuche vergessen hat. Es gibt vieles, was sie noch lernen muß.“

Dem Herzog wurde schwer ums Herz. Etwas Ähnliches hatte er befürchtet. Umso größer war seine Überraschung, als er vor dem Dinner der jungen Gräfin vorgestellt wurde.

Er wirkte in Abendkleidung noch eleganter und imponierender als sonst. Von seiner Taille hing der Sporran des Chieftains herunter, der seinem Onkel gehört hatte.

Die Gräfinwitwe, funkelnd im Glanz unzähliger Brillanten, trug eine Robe, die selbst bei einem Hofball aufgefallen wäre. Sie war von schwarzer Farbe, hatte aber nichts Trauermäßiges an sich.

Colonel Macbeth, den der Herzog schon in London getroffen hatte, betrat an ihrer Seite den Salon. Sie wurden von einem älteren Verwandten mit dem Titel Macbeth of Macbeth begleitet.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde Champagner serviert. Der Herzog schalt sich innerlich einen verdammten Narren, weil er vor lauter Nervosität das erste Glas in einem Zug leerte.

Während es neu gefüllt wurde, öffnete sich die Tür und die junge Gräfin betrat den Raum. Im ersten Augenblick glaubte er, einen weiteren Gast vor sich zu haben. Doch dann dämmerte es ihm. In seinem vom Champagner umnebelten Gehirn dachte er, einer Halluzination zu erliegen.

Lady Jane war das hübscheste Mädchen, dem er je begegnet war. Der Herzog hatte sich eine völlig falsche Vorstellung von ihr gemacht, zumal sie in keiner Weise schottisch wirkte. Ihr blondes Haar war nach der neuesten Mode frisiert, und sie trug ein Kleid, das an Eleganz und Kostbarkeit dem ihrer Stiefmutter in nichts nachstand.

Dem Herzog als Frauenkenner entging nicht, daß ihre Augenwimpern künstlich nachgedunkelt waren. Ihre Lippen wirkten zu rot, um natürlich, und ihre Haut zu weiß, um nicht gepudert zu sein. Wenn so etwas inzwischen in Schottland möglich war, mußten sich die Verhältnisse seit seiner Jugendzeit sehr gewandelt haben.

Die Gräfinwitwe legte den Arm liebevoll um die Schultern ihrer Stieftochter.

„Das ist Jane“, stellte sie vor. „Sie brennt darauf, Sie kennenzulernen. Ihr jungen Leute könnt euch wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wieviel mir dieser Augenblick bedeutet.“

Ein kleiner Schluchzer schwang in ihrer Stimme mit.

„Ich habe schon viel von Ihnen gehört“, begrüßte er sie formvollendet.

Von Schüchternheit konnte keine Rede sein. Sie blickte unter ihren dunklen Wimpern fast herausfordernd zu ihm hoch. Ihre roten Lippen kräuselten sich spöttisch: „Ich war sehr gespannt darauf, Sie kennenzulernen.“

Das Dinner wurde in einem Raum serviert, der das genaue Spiegelbild eines fürstlichen Speisesaals war.

Die Gräfinwitwe saß am Kopfende der Tafel und hielt ein leichtes und amüsantes Gespräch in Gang. Unwillkürlich drängte sich dem Herzog das Gefühl auf, daß er einer sorgsam eingeübten Vorstellung beiwohnte.

Das Essen war hervorragend. Vor allem die älteren Herren taten ihm alle Ehre an. Ihre Gesichter röteten sich, und die Scherze wurden gewagter, je häufiger ihre Gläser gefüllt wurden.

Es gab viel Gelächter, in das die junge Gräfin herzhaft einstimmte. Obwohl so viel jünger als alle Anwesenden, wirkte sie kein bißchen scheu oder verlegen.

Während der Herzog schlaflos im Bett lag, dachte er noch einmal über das unglaubliche Geschehen nach. Er hatte in Indien einige junge Mädchen gekannt, denen er allerdings so gut wie möglich aus dem Weg gegangen war.

Ob im Hause des Vizekönigs oder auch in Simla, immer saßen sie in kleinen Gruppen zusammen, plauderten und beobachteten neugierig die jungen Männer. Wenn man sie ansprach, erröteten sie. Meist waren sie zu schüchtern, um während des Tanzes auch nur ein Wort zu äußern.

Diese Hemmungen kannte Jane nicht. Sie unterhielt sich mit ihm: ja, sie flirtete sogar mit ihm. Als sie nach dem Dinner für kurze Zeit allein blieben, beugte sie sich zu ihm herüber und hob ihm einladend das Gesicht entgegen.

Er küßte sie nicht, weil ihm das alles viel zu schnell ging. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, zu einer Erklärung gedrängt zu werden, ehe er selbst dazu bereit war.

Zu gegebener Zeit würde er ihr, wie das jedermann von ihm erwartete, einen Antrag machen. Ort und Stunde wollte er selbst bestimmen. Unter Druck setzen wollte er sich nicht lassen, auch nicht von seiner zukünftigen Braut.

Der Ausdruck in ihren Augen, als sie ihm eine gute Nacht wünschte, ging ihm nicht aus dem Sinn. Sein Instinkt warnte ihn, daß irgendetwas nicht stimmte. Leider fand er keine Erklärung für sein Unbehagen.

Ohne über seine Handlungsweise nachzudenken, stand er auf, trat zum Fenster und zog einen der Vorhänge zurück. Draußen stand der Mond am Himmel und tauchte das Meer in silbernes Licht. Die Sterne funkelten strahlend und hell. Blicklos starrte er hinaus, doch die wunderschöne Szenerie berührte ihn im Augenblick nicht im mindesten.

Da er glaubte, im Freien besser nachdenken und sich über seine Gefühle klarwerden zu können, zog er ein Hemd und seinen Kilt an und schlang sich ein seidenes Tuch um den Hals. Nachdem er sich noch eine Tweedjacke über die Schultern gehängt hatte, öffnete er leise die Tür. Draußen auf dem Korridor war es fast völlig dunkel. Nur eine einzelne, in einem Silberleuchter steckende Kerze brannte. Sie verbreitete genügend Licht, um die Treppe und die untere Halle zu erkennen. Leise machte er sich auf den Weg.

Zu seiner Erleichterung tat kein Lakai Dienst, wie das unweigerlich in London der Fall gewesen wäre. Vorsichtig schloß er die schwere Eichentür auf und zog den gutgeölten Riegel zurück.

Die kühle Nachtluft empfand er als unendlich angenehm. Da ihm nichts daran lag, von jemand gesehen zu werden, - man könnte es merkwürdig finden, daß er um diese nächtliche Stunde unterwegs war - entfernte er sich mit großen Schritten vom Haus.

Er durchquerte den Garten und schlüpfte am anderen Ende durch ein Tor in der Mauer. Das Gelände dahinter war mit Buschwerk bewachsen, an das sich ein Nadelwald anschloß.

Die Tannenbäume reichten fast bis zum Klippenrand. Mitten hindurch schlängelte sich ein im Mondlicht klar erkennbarer Pfad. Der Herzog folgte ihm tief in Gedanken versunken, wobei er kaum wußte, wohin er ging.

Plötzlich drang Wasserrauschen an sein Ohr. Die Worte der Gräfinwitwe beim Dinner fielen ihm ein.

„Morgen werden wir Ihnen unseren Lachsfluß zeigen. Er ist zwar nicht so gut wie der Ihre, enthält aber doch eine ganze Anzahl guter Fische.“

„Ich freue mich schon darauf“, hatte er lächelnd erwidert.

„Sie müssen sich auch unseren Wasserfall anschauen. Vielleicht erinnern Sie sich noch aus Ihren Kindertagen daran. Auf Grund der heftigen Regengüsse im vergangenen Monat führt er zur Zeit Hochwasser.“

An den Wasserfall von Dalbeth hatte der Herzog tatsächlich seit Jahren nicht mehr gedacht. Sein Ursprung war eine Quelle und ein Becken in den Hügeln, in dem sich das Schmelzwasser des Winters sammelte. An dieser Stelle bildete sich ein Wasserfall, der über die Felsen hinunter ins Meer stürzte.

Der Ort war eine Attraktion für Touristen, die diesen Teil Schottlands besuchten. Der Herzog freute sich darauf, ihn wiederzusehen.

Bald wurde das Rauschen, das an einen starken Regenguß erinnerte, stärker. Nachdem er die Bäume hinter sich gelassen hatte, erblickte er das Wasser, das silbern im Mondlicht schimmerte.

Davor hob sich scharf wie ein Scherenschnitt die Silhouette einer weiblichen Gestalt ab.

2

Der Herzog war irritiert. Es gefiel ihm gar nicht, daß ihn ein Hausbewohner hier entdeckte. Er hatte nicht erwartet, zu dieser Stunde jemanden im Wald, geschweige denn am Wasserfall anzutreffen.

Kaum anzunehmen, daß es sich um eine Touristin handelte. Eher schon eine Dienerin, die über die Begegnung sicher nicht den Mund halten würde.

Er blieb stehen und überlegte, ob es nicht besser wäre, auf schnellstem Wege zum Haus zurückzukehren. Das weibliche Wesen näherte sich immer mehr dem Wasserfall. Sie hielt den Kopf gesenkt und erweckte den Eindruck, als ob sie sich vorwärts tastete. Der Herzog fand das ziemlich gefährlich. Wenn sie das Gleichgewicht verlor, würde das Wasser sie viele Meter über die Felsen hinunterreißen und ins Meer spülen.

Eine leise Vorahnung sagte ihm plötzlich, daß sie ihr Leben absichtlich aufs Spiel setzte. Mit einem schnellen Sprung stürzte er sich nach vorn und packte sie in dem Augenblick am Arm, als sie sich über die Klippen hinunterwerfen wollte.

Das Wasser rauschte so laut, daß sie seine Annäherung nicht gehört hatte. Sie stieß einen kleinen Schreckensschrei aus, während er sie vom Klippenrand wegzog.

„Was zum Teufel tun Sie da?“ fuhr er sie an. „Wenn Sie gefallen wären, lägen Sie jetzt mit zerschmetterten Gliedern da unten.“

„Das . . . wollte ... ich ja“, erwiderte sie mit kaum vernehmbarer Stimme.

Er hielt ihren Arm fest, um sie an der Flucht zu hindern, und blickte zu ihr hinunter. Ihr kleines, herzförmiges Gesicht wurde von zwei riesigen Augen beherrscht, die ihn furchterfüllt anstarrten.

Ihr blondes Haar, das ihr lose über die Schulter fiel, schien die Mondstrahlen einzufangen, so daß es silbrig glänzte. Sie war überaus schlank und beinahe durchscheinend. Unwillkürlich drängte sich dem Herzog die Vorstellung auf, daß er einem Geist oder einer Quellnymphe gegenüberstand.

„Wie konnten Sie nur etwas so Schlimmes und Häßliches tun wollen?“ fragte er scharf.

„Es bleibt mir nichts Anderes übrig.“

Die Antwort kam nur langsam und zögernd. Das Reden schien ihr schwer zu fallen. Ihre Augen hingen fast sehnsüchtig an den Wassermassen, die in die Hefe stürzten.

Schließlich wandte sie sich in flehendem Ton an ihn.

„Bitte lassen Sie mich allein. Ich möchte wirklich ins Wasser gehen.“

„Das wäre sehr unrecht von Ihnen.“

„Warum, wenn es doch das ist, was sie wollen . . .?“

„Wer will das?“ erkundigte er sich. „Und wer sind Sie? Warum sollte überhaupt jemand Ihren Tod wünschen? Wie kommen Sie auf diese Idee?“

Sie antwortete nicht. Ihr ganzer Körper versteifte sich, da sie anscheinend befürchtete, schon zuviel gesagt zu haben.

„Gehen wir ein paar Schritte weiter, und Sie erzählen mir, was Sie bedrückt“, schlug er vor, ohne ihren Arm loszulassen.

Er sprach sehr ruhig und bestimmt. Diesen Tonfall hatte er oft genug angewandt, um Informationen zu erlangen, die man ihm nicht geben wollte.

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf.

„Nein . . nein . . . bitte gehen Sie. Diese Chance wird sich mir nie wieder bieten. Vergessen Sie einfach, daß Sie mich je gesehen haben.“

„Leider ist das unmöglich. Schon weil Ihr Verschwinden viel Wirbel und Geschrei nach sich ziehen würde. Und ich müßte mich schuldig fühlen, weil ich Sie nicht daran gehindert habe, etwas so Kostbares wie Ihr Leben wegzuwerfen.“

„Das Leben ist für mich nicht kostbar, und es wird weder Wirbel noch Geschrei geben.“

„Wie können Sie dessen so sicher sein?“

„Ich erweise ihnen nur einen Gefallen, indem ich schneller sterbe. Und für mich selbst ist es auch besser. Langsames Sterben ist unerträglich.“

Es hörte sich so an, als ob sie mit sich selbst spräche. Ihre Stimme wurde leiser und leiser. Nach dem letzten Wort senkte sie ergeben den Kopf. Allem Anschein nach akzeptierte sie demütig das Unausweichliche.

Den Arm um ihre Schulter gelegt, führte der Herzog sie langsam ein Stück des Weges zurück. Sie war viel zu schwach, um Widerstand zu leisten. Am Waldrand lagen einige Baumstämme, die von Holzfällern gefällt und noch nicht weggeräumt worden waren. Vier davon bildeten eine Art Bank.

„Wollen wir uns nicht setzen und über alles sprechen?“ schlug er vor und blieb stehen.

Sie schien nur halb zu bemerken, was er tat und schaute zum Wasserfall zurück.

„Bitte lassen Sie mich allein“, flehte sie. „Wie ich schon sagte, ist dies meine einzige Chance.“

„Ihre einzige Chance zu sterben? Das meinen Sie doch nicht im Ernst.“

Der Herzog ließ ihren Arm los. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie nur ein dünnes, völlig unzulängliches Nachtgewand trug. Die rauhe Baumrinde mußte für sie sehr unbequem sein. Er faltete seine Tweedjacke zusammen und legte sie wie ein Kissen darauf. Da das Mädchen sich nicht rührte, beförderte er es mit einem leichten Stoß auf die improvisierte Bank.

Als sie saß, entdeckte er, daß ihre nackten Füße lediglich in Pantoffeln steckten.

„Erzählen Sie mir etwas von sich“, bat er ruhig.

Sie blickte zu ihm hoch. Der Herzog hatte noch nie ein Gesicht gesehen, das so vollkommen von den Augen ausgefüllt wurde. Den dünnen Armen und Handgelenken nach zu schließen, war sie dem Verhungern nahe.

In Indien hatte er zu viele Menschen mit Mangelerscheinungen gesehen, um die typischen Anzeichen nicht zu erkennen: die vorstehenden Knochen, die gespannte Haut und die scharfe Kinnpartie.

„Was ist eigentlich mit Ihnen los?“ fragte er. „Es hat den Anschein, daß Sie nicht genügend zu essen bekommen.“

Flüchtig kam ihm der Gedanke in den Sinn, daß es diese Art von Armut war, vor der er mit Hilfe des Geldes der Gräfin seinen Clan in Zukunft zu bewahren hoffte.

Das Mädchen wandte den Kopf ab.

„Sie bringen mir Nahrungsmittel nach oben, um die Dienstboten zu täuschen, geben sie mir aber nicht.“

„Wer sind ,sie‘, und weshalb behandeln sie Sie so grausam?“

Sie stieß einen kleinen Schrei aus.

„Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Es war ein Irrtum.“

In ihrer Stimme schwang eine entsetzliche Angst mit. Wieder blickte sie in Richtung Wasserfall. Kein Zweifel, daß sie sich verzweifelt den Kopf zerbrach, wie sie ihn ungehindert erreichen konnte.

„Fangen wir doch ganz von vorn an“, schlug er vor. „Wie heißen Sie?“

„G . . . Giovanna“, erwiderte sie zögernd.

„Ist das alles?“

„So lautet mein Name. Ich habe keinen anderen.“

Es kam ihm seltsam vor, daß ein Mädchen mitten in Schottland einen italienischen Namen trug. Trotzdem faßte er nicht weiter nach.

„Liebe Giovanna, Sie müssen jetzt reden. Ich kann Sie doch nicht verlassen, bevor Sie meine Neugier gestillt haben.“

„Sie wollen mich verlassen?“ fragte sie hoffnungsvoll.

Dem Herzog war klar, daß sie sich, wenn sie wieder allein wäre, sofort ins Wasser stürzen würde. Er wählte seine nächsten Worte sehr sorgfältig.

„Zuerst müssen Sie mich überzeugen, daß es richtig ist, wenn ein junger Mensch wie Sie sein Leben einfach wegwirft.“

Giovanna zog den Atem ein.

„Ich schwöre Ihnen, daß mir gar nichts anderes übrig bleibt. Wenn ich nicht selbst handle, werde ich langsam dahinschwinden, schwächer und schwächer werden, bis ich tot bin.“

„Und wo soll das geschehen?“

„In meinem Gefängnis. Heute Abend hatte ich Glück. Im Haus herrschte große Aufregung, weil ein wichtiger Gast erwartet wurde. Die alte Magd, die sonst vorgibt, mir etwas zu essen zu bringen, vergaß die Türe zu verschließen. Auf diese Weise konnte ich entfliehen.“

Sie seufzte tief. Wie zu sich selbst sprach sie weiter.

„Den Wasserfall habe ich von jeher geliebt. Ich wäre ganz glücklich, in seinen Fluten zu sterben.“

„Das fände ich sehr, sehr töricht von Ihnen.“

Giovanna schüttelte den Kopf.

„Ich würde sowieso bald sterben.“

„Wie können Sie so sicher sein?“

„Weil ich muß, damit sie . . .“

Er hoffte, sie würde mehr sagen, doch sie drängte die Worte, die ihr über die Lippen wollten, zurück.

Ein kurzes Schweigen entstand. Nach ein paar Augenblicken fuhr sie fort.

„Ich habe Ihnen erzählt, was Sie wissen wollten. Jetzt verabschieden Sie sich bitte und lassen mich allein.“

„Glauben Sie, daß ich dann je wieder mit mir selbst leben könnte? Die Vorstellung, daß Sie von den Wassermassen in die Tiefe gerissen und ins Meer gespült würden, würde mich niemals mehr loslassen.“

„Ich wäre sehr glücklich im Meer.“

„Mag sein, aber mein Gewissen würde mir keine Ruhe lassen.“

„Warum nicht? Sie sind ein Fremder, der nichts von mir weiß. Morgen schon denken Sie vielleicht, daß alles nur ein Traum war.“

„Und wie soll ich reagieren, wenn man mir von Ihrem Tod berichtet?“

Giovanna stieß einen seltsam erstickten Laut aus, der entfernt an ein Lachen erinnerte. Ihre Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln.

„Von meinem Tod wird Ihnen bestimmt niemand berichten.“

Plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen. Sie betrachtete ihn forschend.

„Wer sind Sie eigentlich?“ wollte sie wissen. „Sie sprechen nicht wie einer der Clansleute aus dieser Gegend, wofür ich Sie zuerst gehalten habe.“

„Mein Name ist Talbot.“

Sie schwieg. In ihrem Kopf arbeitete es, vermutlich, weil sie die verschiedenen Talbots, die sie kannte, im Geist Revue passieren ließ.

„Talbot McCaron, Sie sind doch nicht etwa . . . der Herzog?“ fragte sie mit kaum vernehmbarer Stimme.

Ein Blick in sein Gesicht beantwortete ihre Frage. Sie stieß einen leisen Schrei aus.

„Warum sind Sie hergekommen? Weshalb mußte ich ausgerechnet Ihnen begegnen? Jetzt werden sie mich ganz bestimmt umbringen. “

Mit einem erstickten Laut sank sie in sich zusammen. Er betrachtete verwirrt das kleine Bündel Elend zu seinen Füßen. Dann sprang er auf und hob sie in seinen Armen hoch.

Ihr dünner, abgezehrter Körper steckte tatsächlich nur in einem Nachthemd. Ihre Hüftknochen standen hervor, und durch das leichte Material war jede Rippe zu spüren. Das Mädchen hatte das Bewußtsein verloren.

Der Herzog überlegte fieberhaft, was er mit ihr anfangen sollte. Der rettende Gedanke ließ nicht lange auf sich warten. Er trug Giovanna durch den Wald bis zur Gartenmauer. Dort verließ er den Weg, auf dem er gekommen war, entfernte sich wieder vom Haus und durchquerte einen Obstgarten, der bis zum Ende der Einfahrt reichte.

Hier legte er das Mädchen sanft ins Gras unter die Büsche, die den Fahrweg zwischen Pförtnerhaus und Eingangstür abgrenzten. Eine Sekunde lang befürchtete er schon, sie sei tot. Doch sie atmete, wenn auch so schwach, daß sich ihre Brust kaum hob und senkte. Ihr Puls war gerade eben noch spürbar.

Der Herzog hatte im Laufe der Jahre viele Menschen gesehen, die dem Tod nahe waren. Er benötigte keinen Arzt, der ihm sagte, daß Giovanna sterben mußte, wenn nicht bald etwas geschah.

Er zerrte sich den Seidenschal vom Hals, knotete ein Ende um eines ihrer schlanken Handgelenke und befestigte das andere an den kräftigen Wurzeln eines Rhododendronstrauches.

Leider hatte er seine Tweedjacke auf dem Baumstamm zurückgelassen, auf dem sie gesessen hatten. Jetzt hätte er sie als Kopfpolster für Giovanna dringend brauchen können. Andererseits schien sie einigermaßen bequem im Gras zu liegen. Sie würde wohl auch nicht so schnell das Bewußtsein wiedererlangen.

Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, daß niemand, der die Einfahrt entlangging, sie zufällig entdecken konnte, und eilte zum Haus zurück.

Die Vordertür war noch angelehnt, so wie er sie hinterlassen hatte. Er ging hinauf in sein Schlafzimmer und läutete nach seinem Kammerdiener.

Der Herzog hatte sich aus Indien seinen Burschen mitgebracht, der ihm im Regiment über zehn Jahre lang gedient hatte, ein Schotte namens Ross. Abgesehen von einigen hohen Regierungsbeamten war er der Einzige gewesen, der über die gefährlichen Expeditionen seines Herrn Bescheid gewußt hatte.

Die Mitglieder des Geheimdienstes kannten sich nicht persönlich, denn sie hatten keine Namen, sondern Nummern. Über die Aktionen, mit denen sie betraut worden waren, wurde niemals gesprochen, außer über einige wenige, doch nur heimlich, hinter verschlossenen Türen.

Ross hatte sich Talbot McCaron im Laufe der Jahre unentbehrlich gemacht. Seine Befürchtungen, Ross würde ihm nicht in die Heimat folgen, weil er ohne die aufregenden Abenteuer in Indien nicht leben konnte, hatten sich als unbegründet erwiesen. Der Offiziersbursche hatte sich sogar in einen vollendeten Kammerdiener verwandelt.

Ross hatte ihm, als er ihm beim Umkleiden behilflich war, auf einen besonderen Umstand hingewiesen.

„Die Leute hier haben sich die größte Mühe gegeben, es Euer Gnaden so bequem wie möglich zu machen. Sie haben sogar eine Leitung von diesem zu meinem Zimmer legen lassen, damit Sie läuten können, wenn Sie nachts etwas benötigen.“

„Kaum anzunehmen.“

Der Herzog hatte gelacht.

„Wie dem auch sei, ich werde Sie hören. Die Glocke ist unmittelbar neben meinem Bett angebracht.“

Die Gräfin war offenbar entschlossen, sich seiner auf jede nur mögliche Weise zu versichern, dachte der Herzog. Sie fürchtete anscheinend, ich könnte mich der geplanten Heirat in letzter Sekunde noch entziehen.

Jetzt wartete er, nicht ohne sich zu fragen, was er anfangen sollte, wenn Ross ihn nicht hörte oder die Glocke nicht funktionierte. Zu seiner Erleichterung vernahm er bald Schritte. Gleich darauf öffnete sich leise die Tür.

„Euer Gnaden haben geläutet?“

„Ja, Ross, kommen Sie herein, und machen Sie die Tür zu.“

Dem Kammerdiener war sofort klar, daß etwas Ungewöhnliches passiert sein mußte. Das Funkeln in den Augen seines Herrn sprach eine deutliche Sprache.

Kaum eine Stunde später halfen der Haushofmeister und der Kammerdiener dem Herzog, dessen Zähne vor Kälte hörbar klapperten, obwohl er in Decken gehüllt war, die Treppe hinunter.

Ein plötzlich aufgetretener Malaria-Anfall hatte ihn so geschwächt, daß er zitterte wie Espenlaub, wie Ross sich ausdrückte. Die beiden Männer mußten ihn beinahe durch die Halle und in die Kutsche, die draußen wartete, tragen.

Erst als sie den fast hilflosen Herzog auf den Rücksitz hoben, murmelte er mit letzter Kraft: „Es tut mir so leid. Bitte, richten Sie Mylady aus, daß es mir unendlich leidtut.“

„Sie wird sehr betrübt sein, von Ihrem Mißgeschick zu hören. Euer Gnaden“, erwiderte der Haushofmeister. „Hoffen wir, daß dieser schwere Anfall bald vorübergeht, wenn Sie erst durch ihren eigenen Arzt im Schloß behandelt werden.“

„Vielen Dank“, brachte der Herzog nur noch mühsam heraus.

Ross breitete seinem Herrn eine Decke über die Knie und stieg dann ebenfalls in die Kutsche.

„Bitte lassen Sie Mylady wissen, wann es Seiner Gnaden besser geht“, wandte sich der Haushofmeister an ihn. „Sie wird es sehr bedauern, daß er die Gesellschaft verpaßt, die morgen zu seinen Ehren stattfinden soll.“

„Mein Herr wird über sein Versäumnis ebenfalls sehr enttäuscht sein, wenn er erst wieder realisiert, was um ihn herum vorgeht“, erwiderte Ross. „Leider machen ihm diese Malaria-Anfälle sehr oft zu schaffen.“

Der Haushofmeister schnalzte mitleidig mit der Zunge und trat zurück, während der Kutscher die Wagentür schloß, auf den Bock kletterte, und die Pferde antrieb.

Sekunden später warf der Herzog die Decke über seinen Knien ab.

„Sie haben hoffentlich Sutherland genaue Anweisung gegeben, wo er halten soll“, sagte er.

„Jawohl, Euer Gnaden“, erwiderte Ross. „Es wäre aber sicher angebracht, ihm die genaue Stelle zu zeigen.“

Er schaute hinter dem Kopf seines Herrn durch das kleine Fenster.

„Wir sind außer Sichtweite des Hauses, Euer Gnaden.“

„Dann lassen Sie um Himmels Willen die Fenster herunter. Ich bin am Ersticken.“

Der Herzog entledigte sich auch der restlichen Decken und legte sie neben sich auf den Sitz. Die Pferde standen kaum, als Ross auch schon die Tür aufstieß und den Herzog aussteigen ließ.

Der Wagen hatte etwas zu früh angehalten. Während er sich durch das Gebüsch neben der Einfahrt drängte und den Ort suchte, wo er Giovanna verlassen hatte, fuhr der Kutscher langsam neben ihm her.

Als er sie nicht auf Anhieb fand, befürchtete er schon, das Mädchen könnte sich erholt und befreit haben. Er hatte zwar den Knoten so fest wie möglich angezogen, doch eine Hand war frei geblieben.

Ihr weißes Nachthemd zeigte ihm schließlich den Weg. Sie lag noch genauso im Gras, wie er sie zuvor hingelegt hatte.

Vorsichtig löste er den Seidenschal von der Rhododendronwurzel, die Fessel um ihr Handgelenk ließ er unberührt. Dann hob er sie in seine Arme, eilte zur offenen Kutschentür, hob sie hinein und hüllte sie in die Decken, die er vorher benutzt hatte. Sie war kaum auf dem Rücksitz untergebracht, als Ross auch schon von außen die Tür zuwarf und ohne weitere Befehle abzuwarten, neben dem Kutscher auf den Bock kletterte.

Natürlich wußte der Herzog, wie schändlich er sich in den Augen seiner Gastgeberin verhalten hatte, indem er abfuhr, ohne Lady Jane einen Antrag zu machen.

Im Augenblick lag ihm jedoch mehr am Herzen, Giovannas Leben zu retten, indem er sie vor den Leuten schützte, die sie ihrer Überzeugung nach umzubringen versuchten.

Ihre Geschichte hörte sich äußerst unwahrscheinlich an, und die meisten Leute hätten sie wohl für die Erfindung einer Wahnsinnigen gehalten. In seinen Augen jedoch war sie geistig völlig gesund. Sie litt lediglich unter starken Mangelerscheinungen.

Nachdem sie schon einige Meilen zurückgelegt hatten, schlug sie, ohne sich zu bewegen, die Augen auf. Der Herzog, der sie ständig beobachtet hatte, beugte sich vor. Um ihr noch näher zu sein, kniete er sich vor sie auf den Boden.

„Sie sind in Sicherheit, Giovanna“, erklärte er in ruhigem Ton. „Von nun an brauchen Sie keine Angst mehr zu haben.“

Sie starrte ihn verwundert an.

„Wo bin ich?“ flüsterte sie. „Weshalb sind Sie hier?“ Ein leiser Ausruf entfloh ihren Lippen. „Jetzt haben Sie mich endgültig am Sterben gehindert.“

„Ich fand es besser, Sie zu retten.“

Ihre großen Augen weiteten sich. Sie richtete den Blick zur Decke der Kutsche.

„Um mich herum bewegt sich alles. Was ist geschehen?“

„Sie befinden sich in meiner Kutsche. Ich bringe Sie in mein Schloß.“

Ihre Stimme klang beinahe schrill vor Entsetzen.

„Das dürfen Sie nicht“, rief sie. „Wenn sie das herausfinden, werden sie ihre Drohung wahrmachen und mich bestrafen. Das kann und will ich nicht zulassen!“

„Worin sollte denn die Bestrafung bestehen?“

„Ich kann es Ihnen nicht sagen. Das wäre zu gefährlich. Bitte, bringen Sie mich wieder zurück.“

„Sie wollen tatsächlich sterben?“

„Ja, damit niemand leiden muß.“

„Außer Ihnen.“

Sie antwortete nicht. Ihre Augen waren dunkel vor Entsetzen.

„Wissen Sie . . . Haben Sie ihnen gesagt, daß Sie mich mitnehmen?“ fragte sie ängstlich.

„Natürlich nicht“, versicherte er. „Falls Sie die Gräfinwitwe meinen, denkt sie, daß mich ein schlimmer Malaria-Anfall gepackt hat und daß ich in mein Schloß zurückkehren mußte, um mich von meinem eigenen Arzt behandeln zu lassen. Angeblich kennt er sich am besten mit meiner Krankheit aus.“

Tasuta katkend on lõppenud.

4,99 €
Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
18+
Objętość:
150 lk
ISBN:
9781782138532
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip