Loe raamatut: «Die zärtliche Versuchung», lehekülg 2

Font:

Der Vikar runzelte die Stirn. „Das habe ich mir noch gar nicht überlegt, Abby“, sagte er.

„Aber ich habe es mir überlegt, Sir. Miss Torilla ist achtzehn, und wenn ihre Frau noch am Leben wäre, Sir - Gott sei ihrer Seele gnädig, dann würde sie sich nach einem passenden Mann für Miss Torilla umsehen. Sie würde Feste für sie geben und Freunde ihres Alters einladen.“ Abby seufzte verächtlich. „Und was für Leute könnten wir hier einladen?“ fragte sie. „Abgerissene, schmutzige Kerle, denen der Kohlenstaub in den Haaren hängt.“

Der Vikar wollte etwas sagen, kam aber nicht zu Wort.

„Ich weiß, ich weiß, Sir, auch sie haben Seelen, die gerettet werden müssen, sind Christen und in den Augen Gottes nicht anders als wir. Aber Sie erwarten doch nicht, daß Miss Torilla einen Bergarbeiter heiratet, oder?“

Augustus Clifford zuckte verlegen mit den Schultern.

„Ehrlich, Abby, ich habe noch nicht darüber nachgedacht, daß Torilla ja eigentlich erwachsen ist.“

„Das ist sie aber inzwischen, Sir, und es ist eine Schande, wirklich eine Schande, daß sie hier in diesem gottverlassenen Nest bei lebendigem Leib begraben ist - und das ist sie, das können Sie mir glauben, Sir.“

„Aber ich werde doch hier gebraucht“, sagte der Vikar, als müsse er sich verteidigen.

„Das mag schon stimmen, Sir“, entgegnete Abby. „Und ich behaupte ja nicht, daß Sie nicht die Arbeit Gottes tun und sie gern tun. Es ist sozusagen Ihr Beruf, Sir, aber Miss Torilla ist kein Pfarrer, sondern ein junges Mädchen und noch dazu ein sehr hübsches.“

Mehr konnte Abby nicht sagen, denn Torilla kam mit einem kleinen Auflauf zurück, der auf eine reichlich große, runde Platte gestürzt war. Sie stellte die Platte vor ihren Vater, der so in Gedanken war, daß er sie überhaupt nicht wahrnahm.

Torilla warf Abby einen ängstlichen Blick zu, doch die Haushälterin ließ sich nicht beirren. Sie wechselte die Teller und drückte dem Vikar resolut einen Vorlegelöffel in die Hand.

Augustus Clifford sah erst auf den Löffel, dann hob er den Blick und ließ ihn von Abby zu Torilla schweifen

„Sie haben recht, Abby“, sagte er schließlich. „Torilla muß einmal hier raus und andere Leute sehen. Das Geld werden wir schon irgendwie aufbringen.“

Von dem Auflauf probierte er nur einen knappen Löffel voll. Erst als er das Haus wieder verlassen hatte, konnte Torilla mit Abby reden.

„Du hast Papa dazu überredet, Abby“, sagte das junge Mädchen. „Ich fühle mich jetzt richtig schuldig. Er wollte das Geld, das er jetzt für mich ausgibt, doch den Coxwoods zukommen lassen.“

„Diese Coxwoods haben schon viel zu viel von deinem Vater gekriegt“, sagte Abby zornig. „Diese Frau ist eine Heulsuse, und der Vikar glaubt ihr in seiner Gutmütigkeit jedes Wort.“

„Ich weiß, Abby, aber Papa hat es hier auch wirklich schwer. Das Elend der Menschen macht ihn krank. Wenn wenigstens die Kinder nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen würden!“

Sie stieß einen Seufzer aus.

„Vielleicht ist es wahnsinnig egoistisch von mir“, fuhr sie fort. „Wenn ich hier bleibe und Papa das Geld den Coxwoods gibt, dann ist vielleicht wenigstens einer Familie geholfen.“

„Und wenn hundert Coxwoods verhungern“, sagte Abby mit Bestimmtheit, „du fährst zu deiner Kusine.“

„Aber ich sollte Papa vielleicht nicht allein lassen.“

„Du wirst diese Einladung annehmen, Torilla“, sagte Abby streng. „Und jetzt setz dich hin, beantworte den Brief und schreibe deiner Kusine, daß du am Montag losfährst.“

„Aber, Abby, das ist ja schon übermorgen.“

„Je früher, desto besser“, sagte Abby. „Und wegen deines Vaters brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich kümmere mich schon um ihn, das weißt du.“

„Auf dich hört er viel mehr als auf mich“, meinte Torilla und lächelte. „Ich hätte ihn nie dazu bringen können, sich noch Fleisch zu nehmen. Er hat zwar nichts gesagt, aber ich glaube, es hat ihm richtig gut geschmeckt.“

„Diese Hammelkeule reicht uns bis Ende der Woche“, sagte Abby. „Dein Vater braucht mehr Fleisch. Wenn er satt ist, macht er sich nicht so viele Sorgen um die Armen und Kranken.“

Torilla wußte, wie weh es ihm tat, dieses Elend täglich mit ansehen zu müssen. Aber er war nicht der Einzige, der litt. Auch ihr krampfte sich das Herz zusammen, wenn sie sah, wie kleine Kinder in den Bergwerken arbeiten mußten und ausgepeitscht wurden, wenn sie weinten oder einschliefen. Der Erfolg war erschütternd. Frauen von dreißig waren alt, verbraucht und meistens von irgendeiner Krankheit befallen. Sie konnte es verstehen, daß die Männer in ihrer Verzweiflung ins Gasthaus liefen und ihr Elend in Bier ertränken wollten.

In dieser trostlosen Gegend hatten die Menschen nicht einmal das Existenzminimum, und fast täglich brachte Torilla kranken Frauen und Kindern, die nie genug zu essen bekamen, einen Topf Suppe. Aber sie hatte ja selbst so wenig. Wenn Abby ihrem Vater nicht von Zeit zu Zeit ein paar Shilling für einen billigen Stoff abbetteln würde, müßte Torilla in genauso ausgewaschenen, immer wieder zusammengeflickten Kleidern herumlaufen wie die Frauen der Bergarbeiter.

Es gab herzlich wenig einzupacken, aber trotzdem verbrachte Abby den darauffolgenden Tag mit Waschen und Bügeln. Torilla besaß ein paar Kleider, die noch von ihrer Mutter stammten, elegante Kleider, die sie hier nie hatte tragen können.

Wahrscheinlich waren sie völlig außer Mode, aber nicht einmal das wußte Torilla mit Bestimmtheit, denn das Geld reichte kaum zum täglichen Leben, also war nicht daran zu denken, auch nur einen Penny für ein Modejournal auszugeben.

Aber Torilla machte sich keine Gedanken über ihr Äußeres, denn sie wußte, daß Beryl so großzügig sein würde, wie sie es immer gewesen war.

Und so verließ sie am Montagmorgen in einem einfachen Hemdblusenkleid das Pfarrhaus. Der Umhang, den sie über die Schultern geworfen hatte, war schon fadenscheinig, doch das kümmerte sie nicht weiter. Dafür war das Strohhütchen, das noch aus der Garderobe ihrer Mutter stammte, um so flotter.

„Eigentlich solltest du ja nicht allein reisen“, sagte Abby, während sie auf die Postkutsche warteten.

„Ach was - ich bin doch kein kleines Kind mehr“, entgegnete Torilla lächelnd. „Außerdem gibt es keine andere Möglichkeit.“

„Und daß du mir nicht mit Fremden sprichst!“ ermahnte Abby das junge Mädchen. „Und noch etwas, was ich dir sagen wollte…“

„Was denn?“ fragte Torilla.

„Während der letzten zwei Jahre hast du in einer seltsamen und für ein junges Mädchen höchst unpassenden Welt gelebt. Nichts als Schmutz, Elend und Leid um dich herum. Was ich dir also noch sagen wollte - sprich nicht so viel darüber, wenn du mit Lady Beryl, also ich meine, wenn du mit deiner Kusine zusammen bist.“

„Warum denn nicht?“ fragte Torilla.

„Weil die Menschen so etwas nicht hören wollen. Sie wollen sich über fröhliche Sachen unterhalten und nicht über traurige.“

Abby überlegte einen Moment.

„Weißt du noch, was deine Mutter immer zu deinem Vater gesagt hat?“ fragte sie schließlich. „, Sei doch etwas fröhlicher’, hat sie immer gesagt, ,du kannst dir nicht alle Sünden dieser Welt auf die Schultern laden.’“

Torilla lächelte.

„Ja, ich erinnere mich daran“, entgegnete sie. „Und Papa hat dann immer gefragt, ob er denn langweilig sei.“

„Genau“, sagte Abby zufrieden. „Und seit dem Tod deiner Mutter ist dein Vater ziemlich verdrießlich, und das mögen andere nicht.“

„Das finde ich nicht, Abby.“

„Ich habe ja auch gesagt, daß die anderen es nicht

mögen, Torilla. Und deshalb sollst du vergessen, was du hier alles gesehen und erlebt hast, und sollst wieder so fröhlich sein, wie du es zu Hause immer warst.“

In den blauen Augen des jungen Mädchens leuchtete es plötzlich auf.

Abby wußte, daß Torilla an früher dachte. Wie glücklich sie doch alle gewesen waren in dem Pfarrhaus mit seinem hübschen kleinen Garten... Mitten in einem sauberen Dorf hatten sie gewohnt, umgeben von zufriedenen Menschen.

„Versprichst du mir das?“ fragte Abby.

„Daß ich niemand langweilen werde?“ fragte Torilla. „Natürlich verspreche ich dir das. Ach, Abby! Wenn du doch mitkommen könntest! Wenn jemand Erholung verdient hätte, dann du.“

„Wenn ich weiß, daß du glücklich bist und endlich wieder einmal eine andere Umgebung siehst, ist das Erholung genug für mich.“

In diesem Augenblick kam die Postkutsche um eine Biegung.

„Da ist sie!“ rief Abby. „Ich wünsche dir alles, alles Gute, Torilla, und genieß jeden Augenblick und vergiß alles andere.“

„Dich vergesse ich ganz bestimmt nicht, Abby“, sagte Torilla.

Sie schlang die Arme um den Nacken der alten Haushälterin und küßte sie auf beide Wangen.

„Und vielen Dank, daß du dich um Papa kümmerst. Allein dir habe ich es zu verdanken, daß ich wegfahren darf.“

„Richte deiner Kusine aus, daß ich ihr alles Glück dieser Erde wünsche“, sagte Abby. „Hoffentlich kriegt sie einen braven Mann.“

„Das hoffe ich auch.“

Die Postkutsche hielt neben ihnen. Ein junger Mann sprang vom Bock und lud Torillas kleinen Koffer auf das Dach, dann öffnete er die Tür für sie. Zwischen zwei großen, dicken Reisenden war noch ein Platz frei.

„Adieu, Abby!“ rief Torilla, kletterte in die Kutsche und entschuldigte sich bei jemandem, dem sie auf den Fuß gestiegen war.

Sie setzte sich, der junge Mann stieg wieder auf den Bock, und Torilla beugte sich nach vorn und winkte. Abby winkte zurück. Obwohl sie Tränen in den Augen hatte, lächelte sie.

Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Pferde zogen an, und Torillas Reise begann.

2.

Der Marquis von Havingham fuhr mit seinem Gespann von vier prachtvollen rotbraunen Füchsen auf den Hof des Peligan Inn. Er hatte diese Reise in der leichten Kutsche unternommen, einer Spezialanfertigung, die schneller war als alles, was man auf der Landstraße antraf.

„Heute haben wir, glaube ich, einen Rekord herausgefahren, Jim“, sagte der Marquis.

„Allerdings, Mylord“, entgegnete Jim und freute sich schon darauf, daß er vor den anderen Pferdeburschen angeben konnte.

Der Marquis sah sich erstaunt in dem überfüllten Hof um. So viele elegante Kutschen auf einmal? Hier war doch sonst nicht so viel los.

„Natürlich!“ rief er dann. „Das Rennen in Doncaster! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“

„Seine Lordschaft werden bestimmt nicht darunter zu leiden haben“, sagte Jim. „Wie ich Mr. Harris kenne, hat er Ihnen das beste Zimmer reserviert.“

Diesbezüglich hatte auch der Marquis keine Zweifel, denn er hatte seinen Kammerdiener mit dem Gepäck vorausgeschickt, wie er es immer zu tun pflegte, denn er legte Wert darauf, daß bei seiner Ankunft bereits alles ausgepackt und seinen Wünschen entsprechend hergerichtet war.

Ein Rennen jedoch zog alle reichen Leute aus der Umgebung zusammen, und das hieß, daß das Gasthaus überfüllt war, daß die Angestellten alle Hände voll zu tun hatten und es zwangsläufig laut sein würde, was er nach einem langen Tag auf der Landstraße gar nicht schätzte. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern, und so stieg der Marquis aus der Kutsche, leicht verärgert darüber, daß er sich nicht bei Freunden angemeldet hatte.

„Wen besuchst du auf dem Rückweg?“ hatte ihn seine Mutter gefragt, als er sich von ihr verabschiedet hatte.

„Niemanden“, hatte er geantwortet. „Ich möchte keine Zeit verlieren. Außerdem finde ich diese Besuche unterwegs immer reichlich langweilig.“

Was er seiner Mutter verschwiegen hatte, war die Tatsache, daß die Großgrundbesitzer auf dem Land die lästige Angewohnheit hatten, ihre Töchter dem Gast schier an den Hals zu werfen. Dazu kam, daß diese Töchter meistens von einer Einfalt und Humorlosigkeit waren, die den Marquis umso schneller in die Welt zurücktrieben, in der die Frauen weltgewandt, spritzig und charmant waren. Und meistens waren sie bereits verheiratet und kannten die Spielregeln. Es bestand also keine Gefahr, plötzlich mit einem Ehering bedroht zu werden, der für ihn Handschellen gleichkam.

„Aber du hast doch eine Abscheu vor Hotels und Gasthöfen, Gallen“, hatte seine Mutter gesagt.

„Das stimmt, Mama“, hatte der Marquis geantwortet, „aber ich habe ja Harris dabei, der mir alles vorbereitet und dafür sorgt, daß die ein, zwei Nächte erträglich werden.“

„Ich fände es trotzdem netter, wenn du bei Freunden übernachten würdest“, hatte die Marquise gesagt.

„Mach dir keine Gedanken, Mama.“ Der Marquis hatte gelacht. „Außerdem reise ich, wie meistens, inkognito.“

Der Marquis war nicht nur wegen seiner gesellschaftlichen Stellung bekannt und wurde von vielen beneidet, er galt auch als der Rennstallbesitzer schlechthin. Aus diesen Gründen bediente er sich in Hotels oder Gasthäusern eines seiner geringeren Titel. Daß ihn Harris hier im Peligan Inn als Sir Alexander Abdy eingetragen hatte, wußte er. Er lief also nicht Gefahr, von Schlachtenbummlern belagert zu werden, die jeder Rennstall mit sich zog, und war auch vor Menschen sicher, die ihn um Hilfe baten oder, was noch unangenehmer war, behaupteten, ihn aus Kriegszeiten zu kennen und sozusagen ,Kameraden’ zu sein.

Er betrat den Gasthof durch einen Seiteneingang und stieß sofort auf Harris und seinen ersten Stallburschen, den er mit dem Kammerdiener vorausgeschickt hatte.

„Guten Abend, Mylord“, grüßten die beiden Bediensteten wie aus einem Munde.

„Eine sehr zufriedenstellende Reise, Ben“, sagte der Marquis. „Die vier Rotfüchse sind jeden Penny wert, den ich für sie bezahlt habe.“

„Das hört man gern, Mylord.“

„Ich habe sie heute ziemlich hergenommen“, sagte der Marquis. „Sie müssen also morgen geschont werden. Und passen Sie auf den neuen Stallburschen auf. Er ist mir ein wenig zu forsch.“

„Mache ich, Mylord.“

Der Marquis folgte Harris durch einen schmalen Gang und über eine alte Eichentreppe hinauf.

Aus den Gaststuben drang Lärm herauf. Die Rennbesucher feierten bereits ihre Gewinne oder ertränkten ihren Kummer über den Verlust in Alkohol.

Das Zimmer, in das Harris seinen Herrn führte, hatte einen Erker und ein großes Bett, das recht bequem aussah.

„Ich hatte völlig vergessen, daß diese Woche in Doncaster Rennen sind“, sagte der Marquis, als Harris die Tür hinter ihm schloß.

„Das habe ich mir fast gedacht“, entgegnete der Diener. „Da wir unsere Pferde im Frühjahr noch nicht laufen lassen, habe ich es dummerweise auch völlig vergessen.“

Der Marquis war daran gewöhnt, daß sich die Diener, die schon lange bei ihm waren, mit ihm und seinem Besitz identifizierten.

„Ich nehme an“, sagte er daher nur, „daß es hier reichlich voll ist.“

„Allerdings, Mylord“, sagte Harris, „aber ich hoffe, daß Sie sich hier trotzdem einigermaßen wohlfühlen. Leider ist es mir mit dem besten Willen nicht gelungen, auch das Zimmer nebenan zu bekommen.“ Er half dem Marquis aus dem Mantel. „Es ist ganz klein“, fuhr er fort, „aber ich habe den Wirt wenigstens dazu überreden können, es einer Dame zu überlassen und nicht, wie eigentlich geplant, einem Herrn. Ich dachte, eine Dame ist bestimmt weniger laut.“

Der Marquis nickte, fürchtete aber jetzt schon, während der Nacht kein Auge zutun zu können. Da er für gewöhnlich sehr aktiv war, legte er größten Wert auf einen ungestörten Schlaf. Seine Diener hatten daher die Anweisung, jeweils die Nebenzimmer dazu zu mieten. Daß es diesmal nicht möglich gewesen war, war seine eigene Schuld. Er mußte froh sein, daß er überhaupt ein Zimmer bekommen hatte.

Nachdem der Marquis gebadet und einen Abendanzug angezogen hatte, ging er in eines der kleinen, aber sehr gemütlichen Séparées hinunter. Im Kamin brannte Feuer, das Essen war ausgezeichnet und der Service einwandfrei.

Nach dem Dinner setzte sich der Marquis mit einem Glas Cognac vor den Kamin und las die Zeitungen, die ihm Harris besorgt hatte. Zufrieden stellte er fest, daß die Pferde, die bereits auf Rennen liefen, keinerlei Konkurrenz für seinen Stall waren. Wie recht hatte er getan, seine Pferde nicht an den Rennen in Doncaster teilnehmen zu lassen! Dieses Jahr konzentrierte er sich ganz auf Ascot, wo er den Goldpokal zu gewinnen glaubte.

Er überflog die innenpolitischen Nachrichten und stieß auf die üblichen Klagen über die Schwierigkeiten Englands, sich den Friedensbedingungen anzupassen. Die Regierungsberichte waren trocken und langweilig, wie gewöhnlich.

Nachdem er den ganzen Tag im Freien gewesen war, machte ihn die Wärme des Kaminfeuers bald schläfrig. Er trank sein Glas leer und ging früher als sonst in sein Zimmer hinauf, wo Harris auf ihn wartete. Wenn der Marquis gezwungen war, in einem Hotel oder einem Gasthof zu übernachten, dann bezog sein Kammerdiener nicht nur das Bett mit eigens mitgebrachten Laken und Überzügen, sondern er hatte auch eigene Kopfkissen dabei.

„Wünschen seine Lordschaft früh geweckt zu werden?“ fragte Harris.

Er hatte die Kleider des Marquis über dem Arm und war fest entschlossen, sie noch am Abend einzupacken. Wie gewohnt würde er am nächsten Morgen mit dem ersten Licht des Tages aufbrechen und vorausfahren, um bei Ankunft seines Herrn alles vorbereitet zu haben.

„Ich glaube, acht Uhr ist früh genug“, antwortete der Marquis. „Haben Sie meine Sachen für morgen herausgelegt?“

„Natürlich, Mylord“, antwortete Harris. „Es hängt alles im Schrank.“ Da der Kammerdiener die Frage seines Herrn als überflüssig empfand, klang in seiner Stimme eine Spur von Vorwurf mit.

„Gut“, sagte der Marquis. „Sie können sich dann zurückziehen, Harris.“

„Vielen Dank, Mylord“, entgegnete Harris und verbeugte sich. „Ich wünsche Mylord eine angenehme Nacht und hoffe, daß seine Lordschaft nicht gestört werden.“

„Das hoffe ich auch“, sagte der Marquis.

Der Kammerdiener ließ einen letzten prüfenden Blick durch das Zimmer wandern, dann ging er hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Der Marquis zog den langen, reinseidenen Morgenrock aus, warf ihn über seine Stuhllehne und ging ins Bett. Es war tatsächlich bequem, er hatte sich nicht getäuscht. Zufrieden legte er sich zurück. Er war tausendmal lieber allein als in Gesellschaft von irgendwelchen Gastgebern, die ihn mit ihrer Konversation zu Tode langweilten. Wenn es wenigstens dabei geblieben wäre! Meistens nämlich hatte man ihm zu Ehren die gesamte Nachbarschaft zum Dinner eingeladen. Und das hieß dann, daß er nett und liebenswürdig zu Leuten sein mußte, mit denen er nicht das Geringste gemein hatte, die ihm völlig fremd waren und denen er nie wieder zu begegnen hoffte.

Seine Laken waren weich und kühl, im Kamin brannte Feuer, das einen rötlichen Schein auf die Schatten des Zimmers warf.

Der Marquis schlief schon fast, als er schwere Schritte die Treppe heraufkommen hörte. Warum der Wirt aber auch keinen Läufer über die Stufen spannt, dachte er im Halbschlaf.

Und dann fuhr er plötzlich in die Höhe, denn es hatte geklopft. Zuerst glaubte der Marquis, es sei an seiner eigenen Tür gewesen, doch als das Klopfen wiederholt wurde, wußte er, daß es nebenan war.

„Wer ist da?“ fragte eine Frauenstimme.

Die Wand zwischen den beiden Zimmern war so dünn, daß der Marquis alles genau verstand.

„Ich will Ihnen etwas geben, was Sie drunten im Speiseraum haben liegen lassen“, antwortete die Stimme eines Mannes.

„Ich habe aber doch gar nichts liegen gelassen“, entgegnete die Frau.

„Doch, Miss, deswegen bin ich doch heraufgekommen.“

Der Marquis interessierte sich im Grunde nicht dafür, was da vor sich ging, stellte sich jedoch vor, wie die Frau aus dem Bett stieg.

„Ich kann mir nicht vorstellen ...“ Die Tür knarrte. „Ach - Sie sind es!“ rief die Frau.

„Ja, ich bin es“, sagte der Mann, und seine Stimme klang plötzlich ganz anders. „Sie sind gegangen und haben nicht einmal gute Nacht gesagt.“

„Wie komme ich dazu!“ entgegnete die Frau. „Sie hatten kein Recht, mich anzusprechen, Sir.“

„Aber ich will mit Ihnen sprechen.“

„Aber ich nicht mit Ihnen. Bitte, gehen Sie!“

Der Marquis hatte das Gefühl, daß die Frau die Tür schließen wollte, aber daran gehindert wurde.

„Nein!“ rief sie plötzlich. „Ich lasse Sie nicht herein. Gehen Sie! Auf der Stelle!“

„Ich will aber mit Ihnen reden.“

„Bitte - lassen Sie mich in Ruhe. Sie werden mein Zimmer nicht betreten.“

„Ich bin ja schon drin. Und was wollen Sie jetzt dagegen machen?“

Der Mann brach in Gelächter aus.

„Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich um Hilfe.“

„Das hört kein Mensch.“

„Gehen Sie jetzt! Ich möchte schlafen.“

„Aber ich will doch mit Ihnen reden. Sie sind eine reizende Person, Miss Clifford. Sehen Sie, Sie wollten mir Ihren Namen nicht nennen, und jetzt weiß ich ihn doch.“

„Ich bitte Sie zum allerletzten Mal, auf der Stelle zu gehen. Sie haben in meinem Zimmer nichts zu suchen.“

„Da ist doch nichts dabei. Hören Sie endlich mit Ihrem vornehmen Getue auf! Man wird doch noch seinen Spaß haben dürfen.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Gehen Sie jetzt, und lassen Sie mich in Ruhe.“

„Ich denke nicht daran. Los - seien Sie doch nicht so! Sie gefallen mir. So ein hübsches Ding habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“

Der Mann mußte weiter in das Zimmer hineingegangen sein, denn die Frau schrie plötzlich. Es war ein Angstschrei.

Der Marquis fuhr in die Höhe. Das ging zu weit. Nicht nur er wurde in seinem Schlaf gestört, sondern diese arme Frau wurde auch noch auf die unflätigste Weise belästigt. Der Mann hatte anfangs die Stimme verstellt, um sie zum Öffnen der Tür zu bewegen, und jetzt schien er handfest zu werden.

Der Marquis war kein prüder Mensch. Wenn er eine Frau begehrte, machte er ihr den Hof, aber er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, jemanden zu bedrängen, der sich ganz eindeutig ablehnend verhielt.

Und eine Frau zu bedrängen, die offensichtlich allein reiste und ohne Schutz war - ein solches Benehmen fand er schändlich.

Die Frau stieß einen zweiten Schrei aus, und jetzt sprang der Marquis aus dem Bett, zog seinen Morgenrock an und stürzte aus dem Zimmer.

Die Tür nebenan war geschlossen, und er riß sie auf, ohne anzuklopfen.

Die Szene, die sich ihm bot, war genau wie erwartet - eine Frau, die sich verzweifelt gegen die Umarmung eines Mannes wehrte. Der Marquis erkannte den Mann auf den ersten Blick. Es war Sir Jocelyn Threnton, ein höchst unsympathischer Zeitgenosse, der auf keinem Rennen fehlte.

Sir Jocelyn war so darauf versessen, die Frau in seinen Armen zu küssen, daß er den Marquis nicht hereinkommen hörte.

Torilla sah ihn zuerst. „Helfen Sie mir!“ rief sie. „Bitte -helfen Sie mir!“

Mit zwei Schritten war der Marquis hinter Sir Jocelyn, packte ihn an den Schultern und drehte ihn zu sich um.

„Raus hier!“ herrschte er ihn an.

„Was geht das denn Sie...“ Sir Jocelyn brach mitten im Satz ab. Es hatte ihm die Rede verschlagen, denn er hatte den Marquis erkannt.

„Raus!“

Mehr brauchte der Marquis nicht mehr zu sagen.

Sir Jocelyn machte den Mund auf, als wolle er sein Verhalten erklären oder sich den Ton des Marquis verbieten, nahm jedoch plötzlich davon Abstand. Wie ein geprügelter Hund schlich er sich aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.

Der Marquis sah die Frau an, der er im letzten Moment noch zu Hilfe gekommen war, und sein Atem stockte. Sie war sehr jung und sehr hübsch. Das blonde Haar ging ihr fast bis zur Taille, und die großen angstvollen Augen beherrschten das ganze Gesicht.

Sie stand an die Wand gelehnt und sah ihn ernst an.

„Vielen Dank“, sagte sie mit bebender Stimme. „Vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte.“

„Es tut mir sehr leid, daß Sie auf diese Weise belästigt worden sind“, entgegnete der Marquis. „Er kommt bestimmt nicht wieder, aber schließen Sie zur Vorsicht die Tür ab und machen Sie unter keinen Umständen ein zweites Mal auf.“

„Es war sehr dumm von mir, aber ich hätte nie gedacht -nicht einmal im Traum, daß es solche Menschen gibt.“

Der Marquis konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Sie müssen in Zukunft vorsichtiger sein“, sagte er.

„Ja“, entgegnete das junge Mädchen mit der Stimme eines gehorsamen Kindes. „Und nochmals vielen, vielen Dank.“

„Gehen Sie wieder ins Bett, und denken Sie nicht mehr daran“, sagte der Marquis.

Damit ging er und machte die Tür hinter sich zu. Er war noch nicht wieder in seinem Zimmer, als er hörte, wie nebenan der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.

Er konnte Sir Jocelyn fast verstehen. Er habe schon lange nicht mehr ein so hübsches Ding gesehen, hatte er gesagt, und da mußte ihm der Marquis beipflichten.

Wer das Mädchen wohl war, und warum sie allein reiste? Miss Clifford hatte Sir Jocelyn zu ihr gesagt. Kein ungewöhnlicher Name, dachte der Marquis, aber das Mädchen stammte offensichtlich aus sehr gutem Haus. Und Haare hatte es, wie der Sonnenschein im Frühling.

Über seinen Anflug von Poesie lachend, ging der Marquis wieder ins Bett.

Es dauerte lange, bis sich Torilla wieder beruhigt hatte.

Als sie ins Bett ging, zitterte sie immer noch am ganzen Körper. Daß ein Gentleman es wagen würde, sich Einlaß in ihr Zimmer zu erzwingen, hätte sie nie für möglich gehalten.

Während des Abendessens hatte sie bemerkt, wie er immer wieder zu ihr herübergesehen hatte. Er war mit anderen Herren zusammengesessen, und es war immer lauter geworden an deren Tisch. Sie hatten zu viel getrunken.

An ihrem Tisch in der anderen Ecke, der für die Reisenden aus der Postkutsche reserviert worden war, hatten die Männer Bier bestellt. Die Frauen hatten um Mineralwasser gebeten.

Da ihnen zuletzt serviert wurde, war ihr Essen kalt und die Auswahl der Speisen nur noch gering gewesen, aber Torilla hatte vor lauter Müdigkeit keinen Hunger gehabt. Sie hatte gerade überlegt, ob sie sich schon vor dem Nachtisch zurückziehen sollte, als sie neben sich eine Stimme gehört hatte.

„Darf ich mich Ihnen vorstellen?“

Sie hob den Kopf, und da stand der Gentleman neben ihr, der sie während der ganzen Mahlzeit auf die peinlichste Weise angestarrt hatte.

„Ich bin Sir Jocelyn Threnton und würde Sie gern zu einem Glas Wein einladen.“

„Nein“, hatte Torilla entgegnet. „Vielen Dank.“

„Sie werden mir doch keinen Korb geben“, hatte der Gentleman selbstsicher gesagt. „Kommen Sie, wir wollen uns doch etwas besser kennenlernen.“

„Nein, Sir, vielen Dank“, hatte Torilla steif erwidert. Sir Jocelyn hatte insistieren wollen, doch jemand von seinem Tisch hatte ihn zurückgerufen. Er hatte sich abgewandt, und Torilla war schnell aufgestanden und hatte den Speiseraum verlassen, ehe Sir Jocelyn es gemerkt hatte.

Als sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, glaubte sie in Sicherheit zu sein.

Sie hatte schon eine ganze Zeit im Bett gelegen, als sie nebenan jemanden sprechen hörte. Es klang, als gäbe jemand einem Diener Anweisungen.

Sicherlich ein Teilnehmer des Pferderennens, dachte sie, denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß jemand, der es im Grunde nicht nötig hatte, in einem Gasthof an der Landstraße übernachtete.

Als sie vor zwei Jahren mit ihrem Vater Richtung Norden gereist war, war dieser Gasthof wie ausgestorben gewesen. Lediglich ein paar Bauern aus der näheren Umgebung hatten ihr Bier getrunken und nicht gewagt, die Reisenden anzustarren, geschweige denn sie anzusprechen.

Mit großem Erstaunen hatte Torilla während des Abendessens festgestellt, wie elegant die Herren waren, die vom Rennplatz kamen. Es war lange her, seit sie seidene Krawatten, champagnerfarbene hautenge Kniehosen und hohe Stiefel gesehen hatte, die so glänzten, daß man sich hätte darin spiegeln können.

Daß sich jedoch ein Mann, der sich den Anschein gab, ein Gentleman zu sein, so benahm, wie Sir Jocelyn es getan hatte, war ihr unbegreiflich.

Die Reisenden aus der Postkutsche wurden um halb sechs Uhr morgens geweckt. An Torillas Tür klopfte ein Zimmermädchen.

„Das Frühstück ist fertig, Miss!“ rief es.

Torilla war schon seit geraumer Zeit wach. Sie hatte unruhig geschlafen und war immer wieder aufgeschreckt, weil Alpträume sie geplagt hatten. Immer wieder hatte sie geglaubt, von jemandem festgehalten zu werden und nicht fliehen zu können.

Je früher ich von hier verschwinde, desto besser, dachte sie.

Sie zog sich an und steckte ihr Nachthemd in die Reisetasche, in der sich ihre Waschsachen befanden.

Sie rechnete nicht damit, daß von den Besuchern des Pferderennens schon jemand auf den Beinen war. Während sie das wenig appetitanregende Frühstück aß, das man für sie und ihre Mitreisenden zubereitet hatte, sah sie trotzdem ständig zur Tür. Erst als die Pferde anzogen und die Postkutsche abfuhr, stieß Torilla einen Stoßseufzer der Erleichterung aus. Die bittere Erfahrung, die sie in dem Gasthof hatte machen müssen, sollte ihr eine Lehre sein.

Nachdem der Marquis ein geradezu köstliches Frühstück zu sich genommen hatte, das ihm auf das Zimmer gebracht worden war, verließ er den Gasthof um neun Uhr dreißig. Das neue Gespann, vier völlig ausgeruhte Pferde, war genauso sehnsüchtig darauf bedacht wie sein Besitzer, endlich unterwegs zu sein.

Es war ein klarer, sonniger Tag, die Luft roch nach dem nahen Sommer.

Als der Marquis sein Zimmer verlassen hatte, sah er, daß die Tür nebenan offen stand. Beim Anblick des leeren Raums hatte er sich vage daran erinnert, daß er früh am Morgen Geräusche gehört hatte. Sie waren jedoch so leise gewesen, daß sie ihn nicht ganz geweckt hatten.

Das Mädchen, so dachte er jetzt, dem er am Abend zuvor aus der peinlichen Situation geholfen hatte, mußte zu den Reisenden aus der Postkutsche gehört haben. Die Kutsche war um sechs Uhr aufgebrochen, der Rest der Gäste blieb wahrscheinlich noch eine Nacht.

Da der Marquis diesem unsympathischen Sir Jocelyn nicht noch einmal begegnen wollte, hielt er sich nicht lange im Hof auf, in dem große Betriebsamkeit herrschte. Pferde wurden aus den Ställen gebracht und vor die verschiedenen Kutschen gespannt. Die Stallhalter und die Stallburschen von Privatleuten schrieen sich gegenseitig an, und der Wirt lief mit Rechnungen hin und her.

Tasuta katkend on lõppenud.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
18+
Objętość:
160 lk
ISBN:
9781782136835
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip