Loe raamatut: «Heimliche Brautschau»
Heimliche Brautschau
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Heimliche Brautschau
~ 1867
Die Comtesse Marie-Theresa Madeleine Beauharnais stand auf der Terrasse und sah zum Fluß hinunter.
Das alles gehört dir, dachte sie, drehte sich um, lehnte sich an die Balustrade und sah an den Mauern des Schlosses hoch.
Es stand am Rande des Chinon Forsts auf einer Klippe, von blumenübersäten Terrassen umgeben. Die Zinnen und Türme hoben sich gegen den grünen Hintergrund ab, der weiße Stein sog förmlich das Sonnenlicht auf - ein Märchenschloß, wie es schien.
Wie oft hatte ihr Vater von Rittern erzählt, die hier gelebt und gegen Drachen gekämpft hatten, welche in den Wäldern lauerten und alles Gute zu vernichten drohten.
Ihr Vater... Sie glaubte, ihn durch eines der Tore kommen zu sehen.
„Yola!“
Nur er hatte sie so genannt. Er wollte sie so taufen lassen, aber ihre Mutter hatte sich dagegen gesträubt.
Inzwischen war ihr Vater tot, und Yola, sie war das einzige Kind geblieben, hatte das Schloß geerbt.
Ihr Besitzerstolz schwand. Sie kam sich plötzlich sehr einsam vor und fürchtete die Verantwortung, die auf ihren Schultern lag.
Wie sollte sie es ohne ihren Vater schaffen? Ohne seine Fröhlichkeit und die langen Gespräche, die sie geführt hatten, während sie über die Ländereien geritten waren?
Nach seinem Tode hatte Yola ein Jahr in einem Internat in der Nähe von Paris verbringen müssen, bis ihre Großmutter sich hatte entschließen können, von Nizza nach Beauharnais überzusiedeln.
Daß ihre Großmutter dies ungern getan hatte und die Enkelin möglichst schnell verheiratet sehen wollte, wußte Yola.
Aber ich habe es nicht eilig, dachte sie. Im Moment ist das hier mein Königreich, und ich will es erst einmal allein genießen.
Während sie diesen Gedanken nachhing, ging sie ins Schloß und stieg über die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Der Salon ihrer Großmutter lag im Hauptflügel. Von seinen Fenstern aus konnte man das ganze Tal überblicken.
Sie saß in einem Ohrenbackensessel und sah mit ihrem schlohweißen Haar und den blassen, schmalen Händen wie ein Gemälde aus.
„Wo bist du denn gewesen, mein Kind?“ fragte die alte Frau.
„Draußen auf der Terrasse, Großmama“, antwortete Yola. „Beauharnais ist das schönste Schloß weit und breit, das denke ich immer wieder.“
„Du bist genau wie dein Vater“, sagte Yolas Großmutter und lächelte. „Das hat er auch immer behauptet.“
„Es stimmt aber auch. Wie ein Märchenschloß.“
„Deshalb müssen wir bald den entsprechenden Märchenprinzen für dich finden, mein Liebes. Es soll doch alles ein glückliches Ende nehmen.“
Yola erschrak.
„Aber das hat doch keine Eile, Großmama.“
„Oh doch“, entgegnete die alte Comtesse. „Ich bin zwar sehr gerne hier, aber du weißt, daß ich gegen den Willen meines Arztes gekommen bin und nicht ewig bleiben kann.“
„Aber, Großmama, es ist hier doch fast ebenso warm wie in Nizza. Der beste Beweis sind die Palmen und Orchideensträucher im Park. Bisher hieß es immer, sie könnten nur im Mittelmeerklima gedeihen, aber auch bei uns fühlen sie sich wohl.“
Yola merkte, daß ihre Großmutter ihr kaum zuhörte.
„Ich nehme an, du weißt, mein Kind, was der Wunsch deines Vaters gewesen ist“, sagte die Comtesse.
„In Bezug auf meine Heirat?“ fragte Yola.
„Er hat doch sicher mit dir darüber gesprochen, oder?“
„Nein, Großmama.“
„Zum Glück habe ich deinen Vater noch vier Wochen vor seinem Tode gesehen. Er hat mich in Nizza besucht, ehe er diese unglückliche Reise nach Venedig fortsetzte.“
Der Ton der Comtesse war scharf geworden, aber Yola erwiderte nichts. Sie wußte nur zu gut, warum ihr Vater nach Venedig gefahren war, wollte das Thema aber nicht mit ihrer Großmutter diskutieren. Sie kannte schließlich deren Gefühle.
„Dein Vater hat mit mir über deine Zukunft gesprochen“, fuhr die Comtesse fort. „Vielleicht ahnte er, daß er nicht alt werden würde.“ Sie schüttelte den Kopf, als könne sie es immer noch nicht fassen. „Wie dem auch sei, vielleicht hat er dir gegenüber nicht erwähnt, wen er als Mann für dich wünscht, weil er dachte, es sei dir klar.“
„Von wem sprechen Sie, Großmama? Ich weiß es wirklich nicht.“
„Natürlich vom Marquis de Montereau.“
„Vom Marquis de Montereau?“ wiederholte sie mit erstickter Stimme.
„Ja, mein Liebes“, entgegnete die Comtesse. „Du hast ihn vielleicht noch nie gesehen, aber dem Namen nach kennst du ihn. Er ist nicht nur ein entfernter Cousin von dir, sondern hat bis zu seinem zwölften Lebensjahr hier gewohnt. Laß mich einmal nachdenken. Du mußt damals drei Jahre alt gewesen sein, kannst dich also kaum an ihn erinnern - es sei denn, er ist in der Zwischenzeit einmal hier gewesen.“
„Nein, nicht daß ich wüßte.“
„Wegen deiner Mutter“, erklärte die Comtesse. „Sie war ja ...“
Sie brach ab, aber Yola wußte, was sie sagen wollte.
Ihre Mutter hatte es entgegen aller Familientradition abgelehnt, Gäste auf Schloß Beauharnais zu empfangen.
Daß der Comte de Beauharnais als Oberhaupt einer großen und sehr alten Familie seine weniger begüterten Verwandten unterstützen und zum Teil bei sich wohnen lassen würde, war als selbstverständlich angenommen worden. Als er das Erbe angetreten hatte, war das Schloß von Cousins und Cousinen, Tanten und Großtanten bewohnt gewesen, doch Yolas Mutter hatte es innerhalb von fünf Jahren geschafft, alle zu vertreiben.
Dem nicht genug, hatte sie es auch abgelehnt, Freunde der Familie zu empfangen, die es in früheren Jahren als selbstverständlich erachtet hatten, im Sommer ein paar Wochen auf dem Schloß zu verbringen.
Yola konnte sich noch gut an die damaligen Streitereien zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter erinnern. Doch ihr Vater hatte es schließlich aufgegeben. Die Gästezimmer waren abgeschlossen und somit die Gastfreundschaft ihres Vaters unterdrückt worden.
Yolas Kindheit war zeitweise sehr einsam und düster gewesen. Wenn sie ihren Vater nicht gehabt hätte, wäre das Leben oft unerträglich für sie gewesen.
Irgendwann war es Yola klargeworden, daß ihre Mutter nie hätte heiraten dürfen. Sie hatte Nonne werden wollen, doch ihre Eltern hatten auf der Heirat mit dem Comte de Beauharnais bestanden. Gegen ihren Willen hatte sie die Arrangements akzeptieren müssen, zu denen weder sie noch Yolas Vater hatten Stellung nehmen dürfen. Eine von den Eltern zusammengeführte Ehe war in ihren Tagen gang und gäbe gewesen. Erst als Yolas Vater gespürt hatte, welchen Haß ihm seine Frau entgegenbrachte, hatte er gewußt, daß die Ehe mit ihr für ihn eine Qual sein würde.
So war nur Yola zur Welt gekommen.
Yola konnte sich nicht daran erinnern, daß ihre Mutter sie je liebevoll in den Arm genommen und geküßt hätte. Diese hatte ihre Tage und viele Nächte in der Schloßkapelle verbracht. Zwischen 1520 und 1530 im Renaissancestil erbaut, erregte sie die Begeisterung und Bewunderung von Kunsthistorikern.
Für Yola jedoch war sie ein Ort der Zerknirschung, durchdrungen vom Zorn Gottes und der Angst vor Strafe.
Gezwungen, täglich der Messe beizuwohnen, auch zu Zeiten, als sie noch nicht lesen und schreiben gelernt und noch nicht begriffen hatte, warum sie eigentlich auf der harten Bank sitzen mußte, hatte sie sich mit der Betrachtung eines Gobelins getröstet, auf dem eine Szene aus dem Leben der Heiligen Johanna wiedergegeben war. Seitdem begegnete Yola der Religion ihrer Mutter mit Ablehnung und Kritik.
War es recht, wenn eine Frau ohne Unterlaß zu Gott betete und gleichzeitig ihren Mann vernachlässigte, ja sogar ignorierte? Es hatte lange gedauert, bis Yola derlei Gedanken in Worte gefaßt hatte, aber die Frage hatte sie sich bereits gestellt, als sie selbständig hatte denken können.
Es war daher nicht verwunderlich, daß ihr Vater ihr ein und alles gewesen war. Als ausnehmend intelligenter und belesener Mann hatte er die Tochter nicht nur unterrichtet, sondern sie auch wie eine Erwachsene behandelt. Und so hatte Yola abstrakte Themen diskutieren können, noch ehe sie mit der Arithmetik begonnen hatte. Sie hatte französische Klassiker gelesen, als Kinder in ihrem Alter sich noch Märchen erzählen ließen. Ihr Vater hatte sie auch gelehrt, das Schöne zu sehen und zu achten, und Yola hatte durch sein Leid früh gelernt, Verständnis für alles und jeden aufzubringen.
Während sie nun ihre Großmutter betrachtete, glaubte sie, deren Gedanken lesen zu können.
„Was weißt du denn über den Marquis?“ fragte die Comtesse. „Du hast ihn doch nie gesehen.“
„Ich habe lediglich von ihm gehört“, antwortete Yola.
„Von wem?“
„Von den Mädchen im Internat. Sie haben pausenlos von ihm geredet. Ihre Eltern wohl auch.“
Die Lippen der Comtesse wurden schmal.
„Der Marquis ist ein junger Mann“, erklärte sie. „Kein Wunder, daß er sich amüsiert.“
„Natürlich, Großmama, aber ich glaube, daß dieses Schloß die Freuden von Paris nicht aufwiegt.“
„Wie kannst du da so sicher sein?“ entgegnete die Comtesse. „Als Kind ist er hier sehr glücklich gewesen. Dein Großvater mochte ihn sehr gern und ich ebenfalls.“ Sie wurde nachdenklich, während sie in die Vergangenheit zurückzublicken schien. „Er war ein hübscher Junge“, fuhr sie fort, „und seine Hauslehrer waren sehr zufrieden mit ihm. Dein Großvater ist oft mit ihm ausgeritten und hat immer wieder betont, wie mutig er ist.“
„Ich bin davon überzeugt, daß er ein sportlicher Mann ist, Großmama, aber das heißt nicht, daß ich ihn heiraten will.“
Die Comtesse machte eine Bewegung mit der linken Hand, und ihre Ringe glitzerten.
„Mein liebes Kind“, sagte sie mit weicher Stimme. „Die Entscheidung liegt nicht bei dir.“
„Doch, Großmama.“
„Wie bitte?“
Die alte Dame zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Ich möchte mir meinen Mann selbst aussuchen.“
„Das ist unmöglich“, entgegnete die Comtesse streng. „Kein junges Mädchen in ganz Frankreich darf sich seinen Mann selbst aussuchen. Das hat es noch nie gegeben. Solltest du den Marquis abstoßend finden oder er dich hassen, wird man Entschuldigungen vorbringen, die Verhandlungen abbrechen und sich nach einem anderen Mann umsehen müssen. “
„Man?“ fragte Yola.
Ihre Großmutter lächelte.
„Das ist eben so eine Redensart, mein Kind. Da dein Vater alles mir überlassen hat, habe ich dem Marquis geschrieben - an Leonide, wie ich ihn früher immer nannte - und ihn gebeten, den Juni auf Schloß Beauharnais zu verbringen.“
„Sie haben bereits an ihn geschrieben?“
„Ja, aber natürlich nichts Direktes“, antwortete die Comtesse. „Der Marquis ist ein Mann von Welt und wird zwischen den Zeilen lesen können. Außerdem habe ich das Gefühl, daß er es erwartet hat, von mir zu hören.“
„Wieso?“
„Weil ich den Worten deines Vaters entnommen habe, daß zwischen ihm und dem Marquis bereits eine Art Abmachung bezüglich einer Heirat bestand. Da ich nicht wissen konnte, daß dein Vater so früh aus dem Leben scheiden mußte, habe ich ihn natürlich nicht nach Details gefragt.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß Papa mich zu einer Heirat gezwungen hätte.“
Yolas Ton war bestimmt und nicht ohne Auflehnung, was ihrer Großmutter nicht entging.
„Natürlich hätte er mit dir darüber gesprochen, mein Kind, davon bin auch ich überzeugt. Ich weiß, wie sehr ihr euch gegenseitig geliebt und geschätzt habt. Dein Vater hätte nie etwas getan, was deinem Glück im Wege gestanden hätte.“
„Mit einem Mann verheiratet zu sein, von dem ich absolut nichts weiß, würde mein Glück sehr beeinträchtigen, Großmama. Sie haben selbst gesagt, daß Sie ihn nicht mehr gesehen haben, seit er mit zwölf Jahren von hier weggegangen ist. Woher wollen Sie wissen, wie er jetzt ist?“
Die Comtesse schwieg.
„Die Mädchen im Internat“, fuhr Yola fort, „haben von ihm gesprochen, als sei er Don Juan, Casanova und der Teufel in einer Person.“
„Nein!“ rief die Comtesse. „Das ist nicht wahr.“
„Allem Anschein nach schon“, sagte Yola mit Nachdruck. „Die Erzählungen über die Eskapaden des Marquis sind mir ebenso sehr auf die Nerven gegangen wie die Schilderungen von den Damen, denen der Kaiser den Hof macht.“
„Die beiden zu vergleichen ist lächerlich“, sagte die Comtesse schnell. „Louis Napoleon mag der Kaiser Frankreichs sein, aber er wäre mir auf Schloß Beauharnais nicht willkommen. Die Familie des Marquis ist ebenso gut wie unsere, und er hat Beauharnaisblut in den Adern.“
Sie sah die Enkelin, deren Stirn sich in Falten gelegt hatte, fast ängstlich an.
„Ich nehme an, du weißt“, fuhr sie schließlich fort, „daß Schloß Montereau von den Revolutionären zerstört und die Ländereien beschlagnahmt wurden, während wir hier viel Glück gehabt haben.“
Yolas Gesichtsausdruck wurde weicher.
Während der Französischen Revolution war Anjou der Hauptkampfplatz der Republikaner und Royalisten gewesen, doch wie durch ein Wunder war das Loiretal, der Garten Frankreichs, vor der Zerstörung verschont geblieben. General Santerre war mit revolutionären Hilfstruppen aus Paris angerückt, doch die Schönheit und die Friedlichkeit des Tales hatte die Männer so beeindruckt, daß sie den Kampf eingestellt hatten. Das war der Grund, warum die Schlösser in diesem Tal erhalten geblieben und die Familien nicht getötet worden waren.
„Sie meinen also“, sagte Yola langsam, „daß der Marquis all die Jahre unverheiratet geblieben ist, um Schloßherr auf Beauharnais zu werden?“
„Zumindest war das der Wunsch deines Vaters“, entgegnete die alte Comtesse. „Und heiraten mußt du schließlich.“
„Aber warum so schnell? Ich bin eben aus dem Internat entlassen. Ich habe noch nichts von der Welt gesehen und dachte, wenigstens eine Saison in Paris mitmachen zu können.“
„Das Paris von früher existiert nicht mehr, mein Kind“, erklärte die Comtesse. „Übrig geblieben ist lediglich Lasterhaftigkeit und Sünde. Der Kaiser und die Kaiserin herrschen über ein Regierungssystem von solcher Maßlosigkeit und Verderbtheit, daß ganz Europa entsetzt ist.“
„Glauben Sie, daß das wirklich stimmt?“ fragte Yola.
„Natürlich stimmt es“, antwortete ihre Großmutter. „Diese Weltausstellung, die dieses Jahr stattfindet, ist lediglich ein Trick. Der Kaiser will damit seine Unzulänglichkeit vor den Augen der Welt verbergen.“
Yola schwieg.
Die Schülerinnen des eleganten Internats von St. Cloud wußten natürlich über das, was sich in Paris tat, genauestens Bescheid. Mädchen, die man für blind und taub hielt, zumindest, bis sie direkt von der Schulbank weg in die Salons eingeführt wurden, tauschten untereinander jeden Klatsch aus, den sie von ihren Eltern, ihren Freunden und vor allem von den Dienstboten hörten.
Ihr Vater hatte oft gesagt, die Menschen würden sich benehmen, als seien Bedienstete gefühllos und Kinder schwachsinnig.
„Sie reden über ihre Köpfe hinweg, als existierten sie nicht“, waren seine Worte gewesen. „Dabei wird mehr Klatsch von Butler und Kammerdiener von Haus zu Haus getragen als von Salon zu Salon.“
Yola war oft in das Elternhaus von Freundinnen eingeladen worden und hatte dort Dinge gehört, die weiß Gott nicht für die Ohren von jungen Mädchen bestimmt waren. Und über den Marquis de Montereau war besonders viel gesprochen worden. Er schien pausenlos in irgendwelche Skandale verwickelt zu sein. Falls sie diesen Mann dem Wunsch ihrer Großmutter gemäß heiratete, würde Yola zwangsläufig in dieses Leben hineingezogen werden - und das konnte nicht der Wunsch ihres Vaters gewesen sein.
Sie erinnerte sich daran, wie im Internat ein Zeitungsausschnitt heimlich von Bank zu Bank gereicht worden war. Ein kritischer und offensichtlich erschöpfter Beobachter hatte das Leben in Paris mit folgenden Worten beschrieben:
Paris ist der Himmel, Paris ist die Hölle. Seit der Silvesternacht nichts als Festlichkeiten, Aufführungen, Konzerte, Bälle. Ein ständiges Kommen und Gehen, ein Jagen von Verpflichtung zu Verpflichtung. Die Tretmühle der Gesellschaft ist grausam.
So stellte sich Yola ihr Leben nicht vor.
„Großmama“, sagte sie jetzt. „Hätten Sie mich doch gefragt, bevor Sie den Brief an den Marquis geschrieben haben. Ich hatte mich so auf eine ruhige Zeit gefreut - ich meine vor den unvermeidlichen Einladungen.“
Sie lächelte.
„Ich möchte die Bekanntschaft mit den Angestellten wiederauffrischen, ich möchte die Familien der Landarbeiter aufsuchen und mich informieren, was inzwischen in der Landwirtschaft getan worden ist, aber das kostet alles Zeit.“
„Du hast doch den ganzen Mai über Zeit, mein Liebes“, entgegnete Yolas Großmutter. „Ich habe den Marquis für Anfang Juni eingeladen.“
Yola unterdrückte die Bemerkung, daß das Schloß schließlich ihr gehöre und sie einladen könne, wen sie wolle und wann sie wolle. Aber sie liebte ihre Großmutter und wußte, daß sie so etwas nicht sagen durfte.
Sie küßte deren weiche Wange.
„Wenn der Marquis geantwortet hat, Großmama“, sagte sie, „sollten wir noch einige Internatsfreundinnen von mir und die passenden jungen Männer einladen. Dann ist es wenigstens nicht ganz so offensichtlich, warum der Marquis aufgefordert worden ist, nach Beauharnais zu kommen.“
Die Comtesse schien jetzt erst zu merken, daß ihr Brief bei aller Diskretion, die sie angewandt hatte, recht eindeutig war.
Ich denke nicht daran, den Mann zu heiraten, dachte Yola, wußte aber gleichzeitig, daß sie einen schweren Stand haben würde, umso mehr, als ihr Vater angeblich für diese Verbindung gewesen war.
Sie ließ die Großmutter im Salon zurück und ging durch den langen Gang in das Zimmer ihres Vaters, in dem sie oft bis spät in die Nacht hinein gesessen und mit ihm diskutiert hatte.
Die Bücherregale reichten bis zur Decke hinauf, und der Raum strahlte Ruhe und Bequemlichkeit aus.
Genau die richtige Atmosphäre, dachte Yola, um meinen Schlachtplan auszuarbeiten.
Sie schloß die Tür hinter sich und setzte sich hinter den großen Schreibtisch ihres Vaters. Sie ließ den Blick über die altgewohnten Gegenstände schweifen - das silberne Tintenfaß, die Schale für die Stifte und Federhalter, die Dose mit dem Streusand - und konnte es plötzlich nicht fassen, daß ihr Vater nicht mehr lebte und sie allein war.
Ihre Großmutter und der Rest der Familie würden alles unternehmen, um sie möglichst schnell zu verheiraten, denn es schickte sich für eine junge Frau nicht, allein zu sein. Sie brauchte, so verlangte es die Sitte, einen Mann, der sie beherrschte und ihr sagte, was sie zu tun habe.
Ich fühle mich dem allen nicht gewachsen, dachte Yola. Warum mußte mein Vater nur so früh aus dem Leben scheiden? Wie oft hatten sie sich ausgemalt, was sie zusammen unternehmen konnten.
„Ich werde dich auf Bälle begleiten“, hatte er gesagt, „und ich weiß jetzt schon, daß du das hübscheste Mädchen im Saal sein wirst.“
Sie hatte gelacht.
„Du schmeichelst mir, Papa, dabei hast du immer gesagt, daß du das nie tun würdest.“
„Wenn ich das sage, sehe ich dich mit den Augen eines Fremden“, hatte er erwidert. „Ohne jegliches Vorurteil wage ich zu behaupten, daß du völlig anders bist als das Durchschnittsmädchen deines Alters.“
„Wieso?“ hatte sie gefragt.
„Nicht allein, weil du hübsch bist, Yola“, hatte ihr Vater geantwortet. „Hübsche Frauen hat es in unserer Familie durch Generationen hindurch gegeben. Auch nicht, weil du von Natur aus graziös bist und dich mit einer Anmut bewegst, wie man sie selten sieht. Es ist etwas völlig anderes, meine kleine Yola.“
„Aber was ist es denn?“
„Mit Worten läßt sich das schwer ausdrücken. Ich habe mir so sehnlichst ein Kind gewünscht und habe den Himmel angefleht, mir eines zu bescheren, das alle meine Ideale verkörpert. Das ist wohl der Grund, daß du für mich ein Geschenk Gottes bist.“
Seine Worte waren ernst gewesen, und Yola hatte den Vater mit großen Augen angesehen.
„Glaubst du das wirklich, Papa?“ hatte sie leise gefragt.
„Ja, ich glaube es, weil es stimmt. Das, was du denkst und fühlst, mein Kind, strahlt wie Licht aus dir heraus und verleiht dir eine Schönheit, die mit der althergebrachten Schönheit nichts zu tun hat.“
„Ich möchte genau so sein, wie du es willst, Papa“, hatte sie erwidert, „aber du mußt mir dabei helfen.“
„Das habe ich seit dem Tag deiner Geburt versucht. Ich bin stolz auf deine Intelligenz, Yola. Alles, was du sagst, ist klar und logisch. Wieder etwas, was dich grundlegend von anderen jungen Mädchen mit ihrem endlosen Geplapper unterscheidet.“
Yola hatte gelächelt.
„Du bist sehr streng und kritisch, Papa.“
„Ich sage, was ich denke, mein Liebling, und bewundere deinen Mut.“
„Den ich von dir geerbt habe.“
„Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht, Yola, aber jetzt bin ich glücklich, daß ich eine Tochter habe. Du bist zart und gefühlsbetont und zeigst sowohl geistig als auch körperlich einen Mut, der eines jeden Mannes würdig ist.“
„Kann man sich da noch beschweren?“ hatte Yola spöttisch gefragt. „Dir zuliebe wäre ich gern ein Junge, Papa, aber ich kann mir nicht helfen, ich glaube, daß es ganz amüsant ist, eine Frau zu sein, noch dazu, wenn man mit den Qualitäten ausgestattet ist, die du mir zusprichst.“
„Amüsant für dich, Yola, aber sicherlich sehr schmerzlich für diejenigen, die dich lieben.“
„Schmerzlich?“
„Viele Männer werden sich in dich verlieben, Yola, und ich werde wahrscheinlich sehr eifersüchtig sein. Da du mir in vielem sehr ähnlich bist, glaube ich jedoch, daß du nur einen Mann wirklich lieben wirst. Mit all deinem Herzen und deiner Seele.“
Damals hatte Yola nicht recht verstanden, was ihr Vater gemeint hatte, doch jetzt fielen ihr seine Worte wieder ein.
Falls sie den Marquis oder irgendjemand heiratete, den sie nicht wirklich liebte, würde ihre Ehe genauso eine Qual sein, wie sie es für ihren Vater gewesen war.
Wie kann meine Großmutter erwarten, daß ich einen Mann akzeptiere, von dem ich so viel Negatives gehört habe, fragte sie sich.
Sie wußte jedoch, daß ihre Großmutter nur ihr Bestes wollte und sich lediglich danach richtete, was die Gesellschaft seit Urzeiten als Norm vorschrieb. Die Enkelin war ihrer Meinung nach eine sehr gute Partie aus bestem Hause, die sich allerdings als zukünftigen Herrn von Schloß Beauharnais einen Mann mit einem gewichtigeren Titel hätte suchen können.
Der letzte Punkt war für Yola nicht ausschlaggebend, doch nach allem, was sie über den Marquis gehört hatte, schien es ihr unmöglich, diesen Mann zu heiraten.
Er spielte eine große Rolle in der Gesellschaft und sicherlich auch in der Welt der Kurtisanen.
Von einem jungen Mädchen wurde erwartet, daß es völlig ahnungslos war und nichts von den Frauen wußte, die Paris wie zauberhafte, exotische und sehr teure Blumen verschönten.
Aber Yola war nicht naiv und wußte, daß es zwei gesellschaftliche Kreise gab, die auf eine Art und Weise ineinander verwoben waren, die in keinem anderen europäischen Land möglich gewesen, geschweige denn geduldet worden wäre.
Da gab es zum einen die kaiserliche Familie, an deren Spitze Napoleon III. stand, verheiratet mit Kaiserin Eugenie, der schönen Spanierin, die bei den Franzosen in dem Ruf stand, ihren Mann ständig zu Kriegen anzustacheln.
Yola hatte erzählen hören, daß das Leben im Palais des Tuileries langweilig und spießig sei und das Gespött der echten französischen Aristokraten hervorrufe, die alles in Verruf zu bringen versuchten, was mit Louis Napoleon Bonaparte in Zusammenhang stand.
Durch seine unermüdliche Jagd nach schönen Frauen gab ihnen der Kaiser auch guten Grund zu Kritik.
Er wurde von den Mitgliedern der kaiserlichen Familie stark unterstützt, vor allem von seinem Cousin Prinz Napoleon, einer hochbegabten, wenn auch umstrittenen Persönlichkeit.
Als Yola noch klein gewesen war, war er Abgeordneter und Kaiserliche Hoheit geworden, und ihr Vater hatte ihr dessen Reden, die in ihm den glühenden Verfechter der Demokratie erkennen ließen, hin und wieder vorgelesen.
Im Internat jedoch war das Privatleben des Prinzen für die Mädchen Lieblingsthema und gab zu viel Getuschel und Gekicher Anlaß.
Wie auch der Kaiser hatte er eine Unmenge von Mätressen.
„Ich habe Prinz Napoleon heute Vormittag meine Aufwartung gemacht “, hatte sie einmal den Vater einer Freundin sagen hören. „Man erzählt sich doch, daß in seinen Privatgemächern immer irgendwo ein vergessener Petticoat herumliegt. Heute morgen waren es zwei.“
Für Yola waren der Prinz und der Marquis wie Zwillinge. Sie war überzeugt davon, daß der eine so schlecht war wie der andere.
Er, Prinz Napoleon und der Kaiser waren daran schuld, daß die Halbweltdamen in die Welt der Gesellschaft vorgedrungen waren.
Zu Zeiten ihrer Großmutter wäre es undenkbar gewesen, daß eine Dame und schon gar nicht ein junges Mädchen von deren Existenz Kenntnis gehabt hätten.
Aber die Mädchen im Internat hatten sich Namen zugeflüstert, die Yola anfangs nichts gesagt hatten, die jedoch immer wieder fielen. Natürlich hatte sie sich schließlich gefragt, wer diese Damen waren, die auf edlen Pferden durch den Boi de Boulogne ritten, die bestimmten, was Mode war und Partys gaben, die in den Klatschkolumnen wie römische Orgien gerühmt wurden.
Alles hatte sich sehr seltsam ausgenommen. Yola hatte sich während des letzten Jahrs im Internat oft gewünscht, ihr Vater könne ihr erklären, was das alles zu bedeuten habe.
Aber ihr Vater war tot, und der Gedanke wollte nicht weichen, daß in jedem, aber wirklich jedem Bericht der Klatschkolumnisten der Name des Marquis genannt war. In den meisten Fällen stand er sogar an erster Stelle.
Und nicht nur geschrieben wurde über ihn, sondern auch ebenso viel geredet wie über Prinz Napoleon und den Kaiser.
Über seine Eskapaden und Skandale wurde genauso mit vorgehaltener Hand geredet wie über die Partys von Madame Musard, die ihren enormen Reichtum dem König der Niederlande verdankte, oder Prinzessin Castiglione, der offensichtlich die ganze Liebe des Kaisers galt.
All das war sehr schwer zu verstehen, aber eines stand fest: was auch immer in Paris passierte, der Marquis nahm daran teil.
„Papa“, sagte Yola jetzt mit fester Stimme, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, „ich werde den Marquis nicht heiraten. Du scheinst nicht gewußt zu haben, was für ein Mensch er ist.“
Sie horchte auf, als erwarte sie, ihr Vater würde eine Diskussion mit ihr beginnen, wie er es oft getan hatte. Doch diese wichtige Entscheidung, eine Entscheidung, die ihr ganzes Leben prägen würde, mußte sie wohl allein fällen. Ohne ein vorhergegangenes Gespräch, durch das ihre Meinung noch gefestigt worden wäre.
„Überleg dir doch einmal, Papa“, sagte sie, als säße sie ihm gegenüber. „Ich bin jung, und du hast mir Ideale mitgegeben, für die ich kämpfen und die ich verwirklichen möchte. Glaubst du vielleicht, der Marquis würde mir dabei helfen, zum Beispiel die Pläne zu verwirklichen, die wir zur Weiterentwicklung der Landwirtschaft geschmiedet haben? Glaubst du, er würde mir helfen, Schloß Beauharnais zu einem Ort zu machen, an dem sich interessierte und intelligente Menschen versammeln, um zu diskutieren und den Fortschritt zu proklamieren? Du hast immer gesagt, daß wir einen Salon haben werden, wenn ich erwachsen bin, und nicht etwa in Paris, sondern auf dem Lande, hier im Garten Frankreichs, in einer Atmosphäre, die für klares Denken wie geschaffen ist. Glaubst du vielleicht, das würde dem Marquis Spaß machen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Bestimmt nicht. Er wandert von Boudoir zu Boudoir. Alle acht Tage erwähnt man in seinem Zusammenhang eine andere Frau. Man sieht ihn auf Rennplätzen, im Bois de Boulogne, auf Staatsbällen und Partys von Schauspielerinnen und Kurtisanen.“
Sie stieß ein trockenes Lachen aus.
„Ich möchte so leben, wie wir es uns immer vorgenommen haben, in einer Welt des Geistes, die einem den Blick unter die Oberfläche erlaubt. Ich möchte das finden, was du immer die Welt hinter der Welt genannt hast. Nur so kann man sich entwickeln und - letzten Endes - Frankreich helfen.“
Yolas Ton war leidenschaftlich geworden. Und dann, als merke sie plötzlich, daß sie nie mehr eine Antwort bekommen werde, schlug sie die Hände vor die Augen.
„Hilf mir, Papa“, flehte sie. „Sag mir, was ich tun soll. Ich habe Angst und weiß nicht, was aus mir werden soll.“
Die Tränen wollten ihr in die Augen steigen, aber sie kämpfte tapfer dagegen an.
Als die Stille unerträglich wurde, riß sie sich aus ihren Gedanken und zog die mittlere Schublade des Schreibtisches auf. Sie war voller Papiere, die Yola einsehen wollte, weil sie glaubte, sie gäben über den Besitz und die Ländereien Aufschluß, deren Herrin sie nun war. Sie war fest entschlossen, sich jedes Detail anzueignen, das sie fand, um über alles genau Bescheid zu wissen.
Sie machte die Schublade wieder zu und zog die nächste auf. Hier lagen eine Anzahl von Karten und Plänen. Yola nahm sich vor, sie eingehend zu studieren, wenn sie Zeit und Ruhe hatte.
Sie zog die dritte Schublade auf.
Als sie sah, was darin lag, wurde sie sehr still. Langsam, fast widerstrebend nahm sie die Miniatur, die auf einem Stoß von Briefen lag in die Hand und betrachtete sie.
Es war das Bildnis einer Frau.
Sie war nicht sehr jung und nicht das, was man landläufig schön nannte, hatte jedoch eine sehr starke Ausstrahlung, sehr attraktive Augen und einen leicht amüsierten Zug um den Mund. Das dunkle Haar war aus der hohen intelligenten Stirn gekämmt und im Nacken mit einer Samtschleife zusammengebunden.
Yola sah die Miniatur lange an, und schließlich wußte sie, was sie zu tun hatte.
Im ersten Moment war ihr die Idee so ausgefallen vorgekommen, daß sie kaum gewagt hatte, darüber nachzudenken, doch nun wußte sie, daß hier die Lösung ihres Problems lag - wenn es überhaupt eine Lösung gab.