Raphael Reloaded

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Raphael Reloaded
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Barbara E. Euler

Raphael Reloaded

Krimi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nachtrag

Dank

Impressum neobooks

Kapitel 1

RAPHAEL RELOADED

Barbara E. Euler

For Wolf, always

Früher hatte er die Boots in die Pedale gestemmt.

Raphael seufzte.

Früher hatte er nicht solche Schmerzen gehabt.

Aber der Wind war derselbe und das Tempo und das Geräusch und der Geruch von Benzin. „Ich will verdammt sein, Azif!“, grölte er in die Gegensprechanlage in seinem Helm.

„Mal sehen, was ich tun kann!“ Der Afrikaner peitschte den Motor hoch.

Raphael sah auf den Tacho und grinste. Sie waren Bullen. Sie durften das.

Manchmal jedenfalls.

„Nicht“, sagte er nüchtern, und der Mittzwanziger bremste sanft.

Dort hinten kam die Küstenlinie in Sicht. Raphael kniff die Augen zusammen. Das milchige Morgenlicht nahm der massigen Häuserfront ihre Härte; der hohe Himmel warf Meerblau zurück.

„Ich will verdammt sein“, wiederholte er voll Inbrunst. Das hier war sein Revier. Immer noch.

Am Strand flatterte ein Absperrband in der steifen Brise. Köpfe fuhren herum, als die beiden Männer auf dem Trike näherkamen. Es klang fast wie ein Helikopter. Dann waren sie da. Azif machte den Motor aus, legte seinen Helm ab und stieg vorsichtig von der Maschine. Bis auf den Wind und die Wellen war es jetzt sehr still.

Azif zeigte seinen Ausweis: „Polizei.“ Zwei Streifenbeamte stapften heran, ein Mann und eine Frau.

Unauffällig dehnte Azif die Glieder. Früher war er geschmei­diger gewesen.

Früher hatte er keine Schrauben im Körper gehabt.

„Azif Ibrahim, Federale Politie. Mein Kollege Hauptinspektor Raphael Rozenblad“, er wies auf seinen Beifahrer. Die Beamten nickten steif und nannten ihre Namen.

„Vandeputte.“

„Lodewijk.“

Raphael zog den Helm vom Kopf. „Lokale Politie Brugge“, er grinste freundlich von seinem Sitz herab. Mit einem Blick streifte er den Horizont und das Wasser und den Sand und die Hand, die daraus hervorstak. Eine Möwe schrie.

Es war schön, am Strand zu sein, selbst neben einer Leiche.

Raphael sog Seeluft in die Lungen. Er kam selten hierher; er brauchte Hilfe dazu und er mochte keinen fragen. Grit hatte es gemacht, es war ihr Job gewesen. Er dachte daran, wie sie ihn in dem breitbereiften Strandrollstuhl bis ans Wasser bugsiert hatte, wie sie bei ihm gelegen hatte, an warmen Sand zwischen den Fingern und den Geruch von Sonnenöl auf Haut.

Vorbei.

Raphael blinzelte in die Morgensonne und setzte sich zurecht. Mit dem Trike war es eh cooler. Leider brauchte man ein Verbrechen dazu; normalerweise waren Trikes am Strand streng verboten. Er sah auf Azif, der unter dem Absperrband durchtauchte, mit den Kollegen sprach und sich dann neben die Hand in den Sand hockte. Eine Joggerin hatte die Hand entdeckt. Oder besser ihr Hund. Die Frau war sehr durcheinander gewesen und hatte mit Mühe ihren Namen zu sagen gewusst. Die Kollegen hatten sie nach Hause geschickt.

Azif betastete die Hand und sah zu ihm herüber und schüttelte den Kopf.

Raphael biss sich auf die Lippen, als der Kollege jetzt mit bloßen Händen konzentriert zu graben anfing, langsam und eben­mäßig. Es sah aus wie ein exotisches Ritual. Raphael beobachtete die Szene schweigend. Die Hand war aufgequollen und bleich und schwammig, das konnte er bis hierher sehen; es ging nicht um Leben und Tod. Es ging um Tod.

Niemand rührte sich, als der Sudanese handvollweise den Sand abtrug und den Körper freilegte oder was davon übrig war. Die beiden Streifenbeamten verschlangen das seltsame Schauspiel wie einen Film und dachten nicht daran, die Strandgänger zu verscheuchen, die in einer Traube gegen das dünne Absperrband wogten und Handys in den mattblauen Morgenhimmel reckten. Es gab keine Kinder, immerhin, die Sommerferien waren lange vorbei.

Kinder. Bice hatte immer Kinder gewollt. Almeno quattro. Vielleicht weil sie aus Sizilien kam. La famiglia war für sie immer das Größte gewesen.

Raphael fuhr sich über das Gesicht. Drei Wochen vor dem Unfall hatte seine Freundin Schluss gemacht. In der SMS hatte was davon gestanden, dass er den Hintern nicht hochkriegte. Das war verdammt richtig.

Jetzt war das verdammt richtig.

„Hoi, Raphael, komm mal!“, rief jetzt der Kollege, ohne von seiner Tätigkeit aufzusehen.

Gehorsam rutschte Raphael in den Sand und robbte los. Für Azif war er ein gewöhnlicher Kollege.

Für Azif war er normal.

Er fühlte sich auch normal, bis die ersten Handys in seine Richtung schwenkten.

Da war es wieder. Dieses Gefühl in der Magengrube, erst klein und dann fordernder. Raphael schwitzte. Lächelte. Fixierte den Boden. Stemmte die Fäuste in den Sand und hangelte sich vorwärts, während die Gedanken Saltos schlugen. Gleich würde es vorbei sein.

Plötzlich war er ganz ruhig. Am Rand seines Blickfeldes sah er Azif, der aufgestanden war und langsam näherkam, die schmalen Hände aneinanderreibend. Raphael hob den Kopf.

Azif hatte feine Nerven, er spürte, wenn was nicht stimmte. Immer.

Der Afrikaner schwang das Plastikband hinter sich und bezog bei Raphael Stellung.

„Ihre Handys sind beschlagnahmt.“

Die beiden Männer hatten es wie aus einem Mund gesagt. Sie tauschten erstaunte Blicke. Grinsten. Es war nicht abgesprochen gewesen. Azif wies nach den Streifenbeamten: „Die Kollegen werden die Handys einsammeln und Ihre Personalien aufnehmen.“

Die Ersten traten den Rückzug an. Raphael sah, wie sie sich vorsichtig aus der Traube lösten, die Handys fest umklammert.

Dann sah er, wie Azif auf das Trike sprang und den Motor aufdonnern ließ. Sand spritzte, als die mächtige Maschine losbrach. Die Leute spritzen auch weg, aber sie hatten keine Chance. Azif verstellte ihnen den Weg und trieb sie zu den anderen zurück wie ein Gaucho. Er machte den Motor aus und stieg ab. Man hörte erregtes Gemurmel.

„Bitte“, Azifs drahtiger Arm wies nach den Kollegen in Uniform, während er über den Sand lief wie ein Tänzer. „Ich habe alles mit meiner Bodycam aufgezeichnet“, schob er nach.

Raphael grinste. Azif trug keine Bodycam, ebensowenig wie er, es hatte zu viel Orwell und zu wenig Raffinesse, aber es machte Eindruck.

Das Gemurmel erstarb. Matte Hände streckten den Kollegen Smartphones hin, blasse Münder würgten Namen heraus.

„Sie können die Handys im Politiehuis in Brügge abholen. Sobald wir mit der Untersuchung fertig sind.“ Azif wies auf Raphael. „Hauptinspektor Rozenblad leitet die Ermittlung. Wenn Sie noch Fragen haben, bitte!“

Raphael wühlte die Beinstummel in den Sand, während ein Hagel von Blicken auf ihn niederging. Er konnte es nicht verbergen, verdammt. Er konnte nicht nichts verbergen.

Aber wegstarren, das konnte er. Ziemlich gut sogar. Raphael schaute hoch.

Als er ihnen in die Augen sah, rissen die Leute ihre Blicke von ihm weg und vertrollten sich eilig. Raphael schnaubte. Keiner hatte ihn angesprochen. Natürlich nicht. Er war ein Monster. Raphael robbte zu Azif rüber, der wieder weiterbuddelte, heftiger jetzt. „Was wolltest du mir zeigen?“

Azif hörte zu graben auf. „Das ist so … die sind so … “, er ribbelte klebrigen Salzsand von den Fingern, mit mäßigem Erfolg. „… eklig.“

Raphael hob die Schultern. „Lass sie.“

Er wies mit dem Kinn nach der Leiche. „Was liegt an?“

Azif hatte die Schultern, den halben Kopf und einen Teil des Rückens aus dem hartgebackenen Sand gemeißelt. Der schlaffe Körper lag bäuchlings, verwrungen, von Textilresten undefinierbarer Farbe bedeckt. Raphael dachte an Werners Scheuertücher, an Putztage, an Streit. An Grit, deren Rolle Werner jetzt ausfüllte. Soweit das ging. Er seufzte und sah auf Azif, der still neben dem Toten hockte, die Hände unter die Achseln geklemmt.

„Was?“, wiederholte er irritiert.

„Nichts … Doch …“, zögernd löste der Kollege sich aus seiner Starre. „Das sind Stammesnarben da“, seine dunklen Finger wiesen auf graues, aufgedunsenes Fleisch.

Raphael kniff die Augen zusammen. Man nennt das Waschhaut. Das ist typisch. Das und der Tierfraß. Wasserleichen werden von hinten her aufgefressen. Der Kopf bleibt unberührt bis zuletzt. Raphael fuhr sich über die Stirn. Vor dieser Lektion hatte er immer Angst, weil er die Wirklichkeit hinter den Worten kannte und im Unterricht ebenso offen darüber war wie über alles andere auch.

 

Raphael liebte seinen Beruf bedingungslos und seine Schüler sollten das auch und darum mussten sie Klarheit haben, in allem. Love hurts, dachte er und beugte sich über die schwammige Wange, die wie eine Qualle aus dem Sand ragte.

„So sah es jedenfalls aus“, Azif schob die Hände wieder unter die Achseln. „Ashanti.“

„Wo denn?“, Raphael musterte den Kollegen, dessen Gesicht keinen bestimmten Ausdruck trug.

„Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher“, Azif stand auf. „Es war nur … so ein Schatten … Komm. Hier können wir nichts mehr tun. Die Spurensicherung ist informiert, die Kollegen kümmern sich um alles. Komm“, wiederholte er, schon fast bei seinem Trike.

„Warte, verdammt“, Raphael rutschte eilig hinter ihm her. „Jetzt warte doch mal. Azif!“, er keuchte.

Der Kollege ließ den Motor an.

„Was, verdammt. WARTE!“ Er zog sich auf den vibrierenden Fußtritt, fischte nach dem Helm, stülpte ihn über und kletterte hoch, Azifs halbherzige Hilfe harsch abweisend. Er konnte das alleine, verdammt.

Jedenfalls, seit Azif ein paar Haltegriffe an das Ding geschweißt hatte. Raphael schwang sich in seinen Sitz und klickte brav den Gurt zu, den der Afrikaner für ihn angebracht hatte. Azif ließ den Motor aufheulen und das Trike brach los und zog eine weite Kurve. Raphaels breiter Rücken presste sich in den Sitz. Wenn die Sandwolke sich gelegt hatte, würden sie auf und davon sein.

Was für ein Spinner. Raphael schüttelte den Kopf. Er dachte an das erste Mal, dass er mit Azif unterwegs gewesen war nach den Anschlägen. Der Afrikaner war neben seinem Bett gestanden, noch aufgekratzter als sonst, das eigene Elend hinter einem ge­übten Grinsen verstaut. „Los, komm! Wir drehen eine Runde!“

Raphael hatte höflich genickt, ehe der Strudel aus Schwindel und Schmerz ihn wieder in die Tiefe riss.

Das Nächste, woran er sich erinnerte, war ein sehr blauer Himmel und Benzingeruch und ein dumpfes Dröhnen, das durch seinen ganzen Körper bebte. Er hatte geschrien. Vor Überraschung, vor Glück, weil da Azif auf seiner Harley war und er daneben, in einem Soziuswagen, sorgsam gebettet. Der Afrikaner hatte zu ihm rüber gesehen und das Visier hochgeschoben und gegrinst. Als sich die warmen Beats von Vasco Rossi in seinen Helm ergossen, waren Raphael die Tränen gekommen. Den ganzen Rest der Fahrt über hatte er geweint.

Daran dachte er, als sie jetzt auf dem neuen Trike Richtung Brügge brausten. Azif hasste Vasco Rossi. Und die Schrauben und Platten in seinem Körper, die sein Traumgewicht ruinierten. Damals war das alles noch so frisch gewesen. Raphael presste die Lippen zusammen.

Wie in Trance hatte er zugesehen, als der Mann Azifs Maschine rammte. Azif stürzte und flog hinter der Harley in hohem Bogen auf das Pflaster, weit genug, um nicht unter ihr begraben zu werden. Verdammtes Glück, hatte Raphael noch gedacht. Dann hatte er gesehen, wie der Mann seine ausbrechende Enduro fing, die gefallene Harley umkurvte und Azif überfuhr.

Raphael starrte auf Azifs Rücken und die Straße, die unter ihnen hinwegrauschte. Azifs Softail war repariert worden wie auch der Mann selber; bei der Softail schien es besser geglückt zu sein.

Raphael blinzelte in das helle Morgenlicht. Er hatte Azif nie gefragt, der wievielte Anschlag auf sein Leben das gewesen war. Azif war ein Gaukler und ein Trickser und ein Clown. Einer, der über Leichen ging und weinte, wenn er glaubte, dass es keiner sah. Und ein Freund.

„Du kanntest ihn“, sagte Raphael geradeheraus. Oder sie? Nein. Dafür war der Rücken zu breit gewesen.

„Fuck.“ Azif bremste abrupt und hielt.

Raphael umklammerte die Lehne. „Arschloch.“ Der Gurt schnitt schmerzhaft in seine Eingeweide oder was davon noch übrig war.

Der Motor bullerte. Autos hupten. Azif hatte das Visier hochgeschoben und starrte ihn an. „Sag das nie wieder.“

„Was? Arschloch?“ Raphael grinste matt. Der Tag fing ja gut an.

Azif blaffte irgendwas. Dann schmiss er das Visier zu und gab Gas.

* * *

Es ist nichts. Raphael starrte dem davonstiebenden Trike nach, als er wieder in seinem Rollstuhl vor dem Politiehuis saß. Im herbstkühlen Wind spürte er Schweiß, unter den Achseln, auf der Brust, auf der Stirn. Sie hatten nichts mehr gesprochen die ganze Fahrt. Nur grad eben, als Azif vor Zittern das zweite Rollstuhlrad nicht auf die Achse gekriegt hatte und gesehen hatte, dass Raphael es auch gesehen hatte, da hatte er nochmal „Fuck“ gesagt. Schließlich war er wortlos abgerauscht, in sein Büro bei der Fede­rale Politie vermutlich, das am westlichen Stadtrand im ehemaligen Frauengefängnis, einem verspielten Ziegelkomplex aus dem 19. Jahrhundert, untergebracht war.

Raphael wischte die Stirn und rieb die Hand an der Hose trocken. Es ist nichts, es ist nichts, es ist nichts. Er fuhr die Rampe hoch und ging rein. Azif hatte sich so viel Mühe gemacht für ihn. Das Trike besorgt, wer weiß woher, Griffe angeschweißt und eine große Box für den Rollstuhl montiert.

Azif mochte ihn. So, wie er war. Genau so. Raphael nickte dem Kollegen am Empfang zu und fuhr zum Lift. Er mochte Azif auch. Verdammt gerne sogar. Nicht erst, seit sie gemeinsam den vorigen Polizeichef hinter Gitter gebracht hatten. Bestimmt gab es für das alles eine Erklärung. Bestimmt musste er nur das Ergebnis der Spurensicherung abwarten, dann würde sich alles klären.

Anna sah ihn erwartungsvoll an, als er die Glastür öffnete. „Und?“, sagte Piet zerstreut, den Blick schon wieder auf dem Bildschirm. Anna lächelte und wartete, bis der Kollege sich aus dem Rollstuhl in seinen Bürosessel gehievt hatte. Er tat sich schwerer damit als vor dem Attentat, das war deutlich zu sehen. Anna seufzte. Sie wurden alle nicht jünger.

„Was passt dir jetzt schon wieder nicht?“, fuhr der Haupt­inspektor sie statt einer Begrüßung an. Oha. Anna zurrte ihr Lächeln fester. „Kaffee?“, fragte sie. Das wirkte immer.

„Ist Azif nicht mitgekommen?“, Piet sah widerwillig von seiner Arbeit auf.

„Ja. Nein. Nein, verdammt. Ist er nicht. Kaffee, ja!“, bellte Raphael. Anna verzog das Gesicht. Man konnte Piet nicht vorwerfen, übermäßig sensibel zu sein. Sie zischte böse. „Bitte“, flüsterte Raphael reumütig.

„Warum denn nicht?“, bohrte Piet weiter. Anna floh zum Kaffee­­automaten. Was für ein Morgen. Montag halt. Schon als der Anruf gekommen war, hatte sie kein gutes Gefühl gehabt. Anna steckte einen Euro in den Automatenschlitz und drückte auf Kaffee schwarz. Wie viel gutes Gefühl sollte man auch haben, wenn eine Wasserleiche angespült worden war. Sie starrte auf den Plastikbecher, der aus dem Schacht gepurzelt kam, und auf das prustende, spritzende Rinnsaal, das halb in ihn reinlief und halb daneben, wie der Pissstrahl eines sehr alten Mannes. Anna fasste den Becher mit spitzen Fingern. Sie dachte an das erste Mal, dass sie hier mit Raphael gestanden hatte, nachdem er damals aus der Reha zurückgekommen war. Das erste Mal, dass sie für ihn den Euro in den viel zu hohen Schlitz gesteckt hatte. Das erste Mal, dass sie an seiner statt auf den Rückgabeknopf gehauen hatte, als der Automat wie so oft seinen Dienst verweigert hatte.

Früher hatte er dagegengetreten, mit seinen albernen Cowboyboots. An jenem Tag war er bloß dagesessen und hatte auf ihren Bauch gestiert. „Lass gut sein“, hatte er schließlich gesagt und war hinter ihr her gerollt, kaffeelos. Wenig später hatte er sie angeherrscht, bloß weil sie ihm eine Akte aus dem Archiv hatte holen wollen. Wie ein wütendes Geschoss war er davongerast. Es ist MEIN Fall, verdammt. Sie hatte grade noch wegspringen können.

Auch damals hatte er seine Verzweiflung hinter Rüpeleien und Grobheit versteckt. Aber damals hatte sie das nicht verstanden. Sie hatte den Tag verwünscht, als Raphael plötzlich wieder bei ihnen reingeplatzt war, ein nutzloser Invalide, um den sie sich auch noch würden kümmern müssen, neben all dem anderen. Quotenkrüppel, hatte der Korpschef gesagt. Anna hatte Piet angefleht, Raphael wieder heimzuschicken, und hatte doch gewusst, dass man diesen Typen niemals wieder loswerden würde. Einen Schwerbehinderten. Und ein echtes Arschloch. Sie hatten einen raubeinigen Einzelkämpfer verloren und dafür einen zynischen Fatalisten bekommen, der noch mehr fluchte als zuvor, was man nicht für möglich gehalten hätte, hätte man es nicht selbst gehört.

Anna grinste tapfer und schob dem Kollegen den Kaffee hin. Man gewöhnte sich dran. Und Raphael war immer noch ein Kämpfer. Und was für einer. „Bitte“, sagte sie freundlich und setzte sich an ihren Platz, ihm direkt gegenüber.

„Was ist denn jetzt?“, sagte Piet über das Ticken seiner Tasten.

Raphael legte die großen, tätowierten Hände um den dünn­wandigen Becher und ließ das Plastik knacken.

„Nichts.“ Er senkte das Gesicht über den Kaffee und schlürfte.

„Wie, nichts?“ Piet hatte zu tippen aufgehört. Er sah den Kollegen an, ein Hauptinspektor wie er selbst, der eine eigene Einheit leiten könnte, aber es vorgezogen hatte, in seiner, Piets, Truppe zu bleiben.

Quasi unter meiner Obhut, dachte Piet, und dass Raphael es wirklich schlimm getroffen hatte.

Zu fünft hatten sie versucht, den Lkw zu stoppen, aber Raphael war es gewesen, dem es schließlich gelang. Als sie ihn fanden, lag er unter seiner Harley. Die Harley lag unter dem umgekippten Zwanzigtonner. Selbst der Notarzt hielt Raphael für tot. Den Flüchtlingen in dem verschweißten Container war nicht viel passiert. Ein paar Knochenbrüche. Ein paar Platzwunden. Ein, zwei Stunden später, und sie wären alle erstickt.

Raphael hatte drei Jahre gebraucht, um zurückzukommen. Kurz darauf dann der Mord­anschlag. Das hatte ihn ein weiteres Jahr gekostet. Piet sog die vertraute Büroluft in die Lungen und hielt sie.

Jeder andere wäre in Pension gegangen. Der hier machte einfach weiter.

Vielleicht wegen diesem Azif. Zwielichtiger Typ, irgendwie. Ein Flüchtling. Hatte in dem Lkw gesteckt, der den Kollegen Rozenblad zermalmt hatte. Und dann war der auch noch bei der Federale Politie. So einer, der überall und nirgends rumsprang, während sie hier vor Ort die Arbeit machten.

Piet blies langsam die Luft aus. Es ging ihn nichts an. Der Mann hatte für seinen Job den Kopf hingehalten. Und nicht nur den. Jan war mit seiner Enduro einmal komplett über ihn drübergefahren. Wenn der Afrikaner nicht so eitel wäre, würde er hinken wie der Glöckner von Notre Dame.

Piet biss sich auf die Lippen. Der Bursche hielt was aus. Wie Raphael. Höllenhunde waren sie, alle beide. Und die Idee mit dem Trike war einfach klasse. Der Mann hätte ruhig mit raufkommen können. „Deinen Bericht, Raphael“, bat Piet besänftigt.

Raphael unterbrach sein Schlürfen. „Meinen?“ Er presste den schwieligen Handballen auf den Becherrand. „Gleich kommen zwei Dutzend beschlagnahmte Handys rein. Da ist alles drauf.“

„Wie bitte?“

„Ich bin raus, Piet.“ Raphael fuhr sich über das Gesicht. Vielleicht war er schon ein Youtube-Star. The Walking Dead.

Resigniert nahm er eine Akte von dem mächtigen Stapel auf seinem Schreibtisch. Piet schonte ihn nicht. Auch der neue Korpschef traute ihm was zu. Sie sind ein Vorbild, Rozenblad. Es schien ihn nicht zu stören, dass Raphael seinen Vorgänger ins Gefängnis gebracht hatte. Raphael nahm einen Schluck Kaffee und öffnete die Akte. Piet schlug in die Tasten.

Anna räusperte sich. „Da waren Leute am Strand?“

„Es sind immer Leute am Strand.“

Anna lachte. Piet sagte: „Raphael. Anna. Bitte.“

„Und die haben gefilmt?“ Anna blieb hartnäckig.

„Ja, Mann. Ganz großes Kino.“

„Mit einer Leiche als Hauptdarsteller. Echt jetzt?“

„Ja. Nein. Auch.“ Raphael fegte wütend eine Seite um. „Lass mich, verdammt. Ich arbeite.“

Anna und Piet tauschten vielsagende Blicke.

„Was?“, schnauzte Raphael, als er es sah.

Anna schloss die Augen. Es gab Tage, an denen Kaffee nicht half. Sie machte die Augen wieder auf. „Zeig mal!“, behutsam zog sie die Akte zu sich hin. Freundlichkeit und Respekt. Raphael hatte sie das gelehrt.

„Kein Bericht, oder wie?“, sagte Piet, aber niemand reagierte.

 

„Ah, die Hotelsache!“ Anna lächelte Raphael zu. Wie blass er war. Sie schob ihm die Akte wieder hin. „Na dann, viel Spaß!“

Raphael nickte matt. „Wenn ich was tun kann“, sagte die Kollegin, und er war nicht sicher, was sie meinte, und senkte den Kopf wieder über das Papier.

„Azif“, sagte er plötzlich.

Das also. Anna setzte sich grade. „Was ist mit ihm?“

Er sah sie an. „Ich weiß es nicht, verdammt. Plötzlich wollte er weg. Sagte was von Stammesnarben. Aber da war nichts“, er hielt inne. „Anna, wenn ich ihn nicht so gut kennen würde …“

„Wie gut kennst du ihn denn?“ Piet, der es nicht lassen konnte.

„Verdammt gut, wir sind … wir haben zusammen …“, er presste die Handflächen gegeneinander. „Wir sind so, verdammt, Piet. Das weißt du.“ Die schwieligen Hände sanken herunter und umklammerten den kalten Plastikbecher.

„Rozenblad“, Piet hatte zu tippen aufgehört. Er kam mit seinem Bürostuhl angerollt und hielt sich an der Schreibtischkante fest. „Was ist passiert?“

Raphael machte die Akte zu. „Kann ich noch’n Kaffee? Bitte?“ Es war verdammt erniedrigend, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Er zog einen Euro raus.

Piet winkte ab und erhob sich. Als er mit dem Kaffee zurück war, begann Raphael seinen Bericht. „Lodewijk und Vandeputte waren als erste dort und hatten die Fundstelle gesichert. Eine Hand ragte aus dem Sand …“, sein Blick flirrte kurz weg und fing sich wieder „Es gab zirka zwei Dutzend Schaulustige. Viele haben gefilmt. Azif … Azif Ibrahim begann die Leiche mit den Händen freizulegen und rief mich hinzu. Während ich zu ihm rüberging …“, er stockte. „Während ich zu ihm rüberging, hielten sie mit den Handys auf mich … Wir haben sie einkassiert“, er schlürfte geräuschvoll. „Die Handys“, schob er nach.

Piet ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Manchmal spürte er so viel Mitleid, dass es weh tat. „Und weiter?“ raunzte er grob.

Raphael schaute ihn über den Becherrand an. „Plötzlich wollte er weg. Azif. Ibrahim. Er sagte, die Spusi sei dran und dass das nur so ein Schatten war, was er gesehen hatte. Und dass wir nichts mehr tun könnten. Dann sind wir weggefahren. Piet, ich …“, er leerte die lauwarme Plörre in einem Zug und schleuderte den Becher in den Papierkorb des jungen Kollegen in der andern Zimmerecke.

André zuckte zusammen. „Mann, Raphael.“ Er lachte. Raphael lachte auch. Dann wurde er wieder ernst. Manchmal erinnerte der Neue ihn an Jan. Nur manchmal. Zum Glück.

„Was?“, sagte Piet.

„Mit den Handys, das wird dauern“, sagte Raphael eilig. „Ich komm grad von der Technik. Morgen krieg ich die Filme. Frühestens.“ Er tauchte das Gesicht wieder in die Akte und beließ es dort.

Piet sah zu Anna rüber, die leise den Kopf schüttelte. Dann rollte er mit dem Bürostuhl an seinen Schreibtisch zurück.

Raphael blätterte unwirsch in den Unterlagen. Wohin er auch schaute, über allem schwebte das Bild einer schwammigen Wange, die keine Stammesnarben trug. Raphael schloss den Ordner und zog den nächsten vom Stapel. Die Messerstecherin von St. Andries. So hieß die Frau in den Zeitungen. Sie habe, so schrieben sie, dem Geliebten ein Messer in die Hand gerammt und ihn damit auf den Esstisch gepinnt, wo er noch feststeckte, als der Sanitäter ihn fand. Der Mann hatte selbst den Notruf getätigt, mit der anderen Hand. Zeugen Fehlanzeige. Die Frau bestritt alles.

Beziehungskram.

Was blieb ihm nicht alles erspart. Raphael kratzte sich am Bauch, da, wo mal ein Dolch gesteckt hatte. Die verdammte Narbe. Der Mann tat ihm leid. Aber vielleicht war alles ganz anders gewesen. Vielleicht war der Mann es selber gewesen. Um seine Freundin in den Knast zu bringen.

Die Frau tat ihm auch leid.

Raphael checkte sein Handy. Azif, melde dich. Melde dich, verdammt. Anna sah zu ihm rüber und er legte das Handy weg. Vielleicht hatte er laut gesprochen. Die Tabletten.

„Der Messerstecherfall von St. Andries“, sagte er, „ich lass die beiden vorladen.“ Piet grummelte was. „Wir befragen sie einzeln“, Raphael griff zum Hörer. „Jetzt.“ Nur nicht nachdenken. Keine Pause machen. Er fühlte nach den Kippen. Dann fiel es ihm wieder ein. Shit.

„Sie entscheiden: Leben oder Rauchen“, hatte der Arzt gesagt. Die Niere. Flors Armbrustpfeil hatte sie durchbohrt. Es war die gesunde Niere gewesen. Die, die der Zwanzigtonner damals verschont hatte. Raphael stoppte die Suche und rief die Bereitschaft an. „Jetzt. Gleich. Getrennt. Ja. JA!!!“, blaffte er in den Hörer. „Danke.“

„Pjotrow?“, fragte Anna, als er aufgelegt hatte. „Der Pianist?“

„Stimmt. Steht in der Akte. Du kennst ihn?“.

„Jeder kennt ihn. Er ist toll. Er war toll. Lange nichts mehr von ihm gehört.“

Raphael blätterte. „Er ist sechsunddreißig.“ Wahrscheinlich hatte der Kerl durch das Geklimper genügend Kohle für den Rest seines Lebens gescheffelt und spielte jetzt mit seinen Groupies Flaschendrehen. „Du kannst ihn haben“, grinste er.

Anna angelte sich die Akte. „Ich klopf ihn dir weich. Und sie?“

„Übernehm ich. Danach tauschen wir.“

Good cop, bad cop. Darin waren sie unschlagbar. Raphael fegte Chipsbrösel vom Tisch. Keine Nachrichten auf dem Handy. Die verdammte Spusi ließ auch nichts von sich hören. Er saugte Stirnschweiß in den Hemdenärmel.

Natürlich nicht. Raphael, es ist grade mal eine Stunde her, dass du da weg bist. Er schwitzte weiter. Hatte Azif die Spusi überhaupt benachrichtigt? Die Spurensicherung ist informiert, die Kollegen kümmern sich um alles. Raphael fasste nach dem Hörer und ließ die Hand wieder sinken. Wenn er das nicht mehr glauben könnte, wäre das das Ende.

Fahrig tastete er nach dem Aktenstapel, die Augen auf dem Handydisplay. Er spürte Annas Blick und breitete den Ordner über das Smartphone und begann zu lesen.

Die Raubüberfallserie war eine andere Nummer. Das waren Profis. Immer im Morgengrauen, wenn schlaftrunkene Studenten hinterm Tresen standen, und immer die besten Häuser. Prinsenhof, Tuileries, Grand Hotel Casselbergh. Ein paar fehlten noch auf der Liste. Raphael streckte den Rücken durch. Es war sein Job, dafür zu sorgen, dass es so blieb.

Und dass auch weiterhin niemand zu Schaden kam. Die Gangster mussten Magier sein; die Überfallenen hatten kaum etwas Verdächtiges gesehen und nicht die geringste Bedrohung erlebt. Da waren Spukgestalten gekommen und gegangen und dann war die Kasse leer. Zack. Raphael schloss die Augen. Er dachte an Bice, wie sie die Hand vor die rot geschminkten Lippen geschlagen hatte bei der albernen Magier-Show, in die sie ihn geschleppt hatte, an ihr helles Lachen und daran, was sie mit ihm danach …

„… RAPHAEL! Sie sind da-a!!!“ Anna.

Raphael sah auf und räusperte sich. Anna hatte Bice auch gemocht.

„Ich komme … Danke.“ Raphael klappte den Ordner zu und hob sich in den Rollstuhl.

Er nahm sein Handy und folgte der Kollegin auf den Gang. „Sie ist in der Drei“, sagte Anna und berührte ihn sanft am Arm. Sie durfte das. „Lass mir was übrig“, flachste sie und ging zu Maksim Pjotrow in den Nachbarraum hinüber.

Raphael sah ihr hinterher. Nichts erklären müssen. Einfach da sein. Mit Anna konnte er das. Er straffte die Schultern und ging hinein.