Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch

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Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa


Barbara E. Stalder, Evi Schmid

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg – kein Widerspruch

Wege und Umwege zum Berufsabschluss

Mit Porträts betroffener Lernender, erstellt von Fabienne Lüthi

ISBN Print: 978-3-0355-0150-6

ISBN E-Book: 978-3-0355-0398-2

Umschlagbild: Sebastian Kobel, www.verschlusszeit.ch

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Vorwort

Der Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf der Sekundarstufe II ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg ins Berufsleben. Lehrvertragsauflösungen bergen das Risiko, dass Jugendliche erst mit erheblicher Verzögerung einen zertifizierenden Abschluss erwerben oder langfristig ohne Berufsabschluss bleiben. Dies hat nicht nur für die direkt betroffenen Personen, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft gravierende Konsequenzen. Bund, Organisationen der Arbeitswelt und Dachverbände der Lehrerschaft haben sich entsprechend zum Ziel gesetzt, die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II auf 95 % zu erhöhen. In Anbetracht der großen Zahl vorzeitiger Vertragsauflösungen steht vor allem die Prävention im Vordergrund und die Frage, mit welchen Maßnahmen vorzeitige Vertragsauflösungen vermieden werden können. Das vorliegende Buch knüpft an diese Diskussion an, geht aber einen Schritt weiter. Lehrvertragsauflösungen, so eine Kernaussage, bieten die Gelegenheit, die ursprüngliche Entscheidung für einen Lehrberuf und Lehrbetrieb zu überdenken und die Ausbildungslaufbahn in neue Bahnen zu lenken. In diesem Sinn können Lehrvertragsauflösungen langfristig auch positiv betrachtet werden – dann nämlich, wenn es Lernenden gelingt, ihre Ausbildung nach der Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschließen. Ins Zentrum rückt damit die Frage nach dem Wiedereinstieg und nach den Gelingensbedingungen für den erfolgreichen Abschluss einer zertifizierenden Sekundarstufe-II-Ausbildung. Mit der vorliegenden Arbeit steht erstmals eine Längsschnittstudie zur Verfügung, die sich dieser Frage annimmt und die langfristigen Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen untersucht. Das Buch richtet sich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum, sondern auch an Fachpersonen und Interessierte aus Politik und Praxis. Es bildet eine Grundlage für Maßnahmen, welche von Betroffenen und Beteiligten an Schulen und in Betrieben ergriffen werden können, um Jugendliche nach einer Lehrvertragsauflösung zu unterstützen, einen Abschluss auf der Sekundarstufe II zu erlangen.

An dieser Stelle danken wir allen Personen herzlich, die in den letzten zehn Jahren zum Gelingen des Projekts LEVA und zu dieser Publikation beigetragen haben. Ein großer Dank geht an Theo Ninck, Vorsteher des Mittelschul- und Berufsbildungsamts der Erziehungsdirektion des Kantons Bern. Er hat es uns ermöglicht, mehr als tausend Lernende und Berufsbildende nach der Vertragsauflösung zu befragen und den weiteren Bildungsverlauf der Jugendlichen gestützt auf bildungsstatistische Daten zu rekonstruieren. Unseren Kolleginnen und Kollegen an der Abteilung Bildungsplanung und Evaluation der Erziehungsdirektion, dem Institut für Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Neuchâtel und dem Institut Sekundarstufe II der PHBern danken wir für den wertvollen fachlichen und methodischen Austausch. Ein besonderer Dank gilt den Lehrpersonen, die uns unterstützt haben, Jugendliche für die Porträts zu finden, und Fabienne Lüthi, die die ehemaligen Lernenden interviewt und porträtiert hat. Barbara Coca Calderón danken wir für das Korrekturlesen und die kritischen Rückmeldungen zum Manuskript. Ganz besonders danken wir den inzwischen jungen Erwachsenen, die sich an der Studie und den Interviews beteiligt haben. Sie haben über eine Zeit in ihrem Leben berichtet, die für sie nicht einfach gewesen ist. Umso mehr hat uns gefreut, dass die meisten davon erzählt haben, dass es trotz – oder wegen? – einer Lehrvertragsauflösung möglich ist, in Ausbildung und Beruf erfolgreich zu sein.

Für die Autorinnen, Bern im Frühling 2016

Prof. Dr. Barbara E. Stalder

Inhalt

Vorwort


1Einleitung
1.1Berufsbildung und Lehrvertragsauflösungen in der Schweiz
1.2Lehrvertragsauflösung und Lehrabbruch: Begriffsklärung
Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg: Das Projekt LEVA
Passung, Sozialisation und Fluktuation
Passung
Ebenen von Passung
Wirkung von Passung im Vergleich
Stabilität und Veränderung von Passung
Organisationale Sozialisation
Proximale und distale Ergebnisse der organisationalen Sozialisation
Determinanten von Sozialisationsergebnissen
Fluktuation als Ergebnis misslungener Sozialisation
Lehrvertragsauflösung: Von fehlender Passung zum Ausbildungserfolg
Besonderheiten der beruflichen Grundbildung
Gründe für Lehrvertragsauflösungen
Lehrvertragsauflösung und Wiedereinstieg
Fragestellung und Daten
Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» und Fragestellungen
Projekthintergrund
Erhebungsdesign und Inhalte der Befragungen
Stichproben und Rücklauf
Ergebnisse
Entstehungsbedingungen für Lehrvertragsauflösungen
Gründe für die Lehrvertragsauflösung
Berufsorientierung, Selektion und Passung
Ausbildungsbedingungen und Ausbildungsqualität vor der Vertragsauflösung
Wichtige Ergebnisse
Entscheidung und Suche nach Anschlusslösung
Maßnahmen zur Vermeidung der Auflösung
Entscheidung für die Auflösung des Lehrvertrags
Unterstützung bei der Suche nach einer Anschlusslösung
Wichtige Ergebnisse
Wiedereinstieg in eine Sekundarstufe-II-Ausbildung
Deskriptive Ergebnisse zum Wiedereinstieg
Tätigkeiten nach der Lehrvertragsauflösung
Determinanten des Wiedereinstiegs
Wichtige Ergebnisse
Ausbildungserfolg
Deskriptive Ergebnisse zum Abschluss einer Sekundarstufe-II-Ausbildung
Determinanten des erfolgreichen Abschlusses
Ausbildungsbedingungen, Arbeitsbedingungen und Zufriedenheit
Wichtige Ergebnisse
Zusammenfassung und Diskussion
Lehrvertragsauflösung und unzureichende Passung vor Lehrantritt
Lehrvertragsauflösung und unzureichende Passung nach Lehrantritt
6.3Wiederanpassung und Ausbildungserfolg
6.4Folgerungen für die Praxis

Literaturverzeichnis

 

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Porträts

Daniel, 17-jährig

«Ich will jetzt einfach glücklich sein»

Simon, 19-jährig

«Ich bin immer tiefer gesunken, physisch wie psychisch»

Kevin, 19-jährig

«Ich habe mich zurückgezogen, wurde stiller, aggressiver, war mit mir selbst im Clinch»

Sergio, 21-jährig

«Es ist schon so, ich bin ein Versager»

Remo, 17-jährig

«Ich wollte doch nicht Koch werden, um immer nur Sandwiches zuzubereiten»

Sandra, 20-jährig

«Sie hat mich wie eine kopflose Niete behandelt. Ich kam mir vor wie ihre Sklavin»

Hanna, 31-jährig

«Ich war damals irgendwie selber total von der Rolle»

Antonia, 28-jährig

«Es war jedes Mal wieder eine so große Belastung und Enttäuschung, dass ich fast kaputtging»

Matthias, 27-jährig

«Ahnungslosigkeit oder Alternativlosigkeit»

1 Einleitung

In der Schweiz und in Deutschland werden zwischen 20 und 25 % aller Lehrverträge vorzeitig aufgelöst (Stalder & Schmid, 2006a, 2006b; Uhly, 2015). In einigen Lehrberufen wird jedes dritte oder sogar jedes zweite Lehrverhältnis vorzeitig beendet. Berücksichtigt man zudem, dass manche Lernende eine Klasse wiederholen oder die Abschlussprüfung nicht bestehen, ist der Anteil der Lernenden mit nichtlinearem Ausbildungsverlauf beträchtlich: In der Schweiz durchlaufen nur rund 70 % der Lernenden ihre berufliche Grundbildung gradlinig bis zum erfolgreichen Abschluss, d. h. ohne Unterbrechung, Klassenrepetition, Wechsel oder Misserfolg bei der Lehrabschlussprüfung (Stalder, 2012a).

Die vorzeitige Auflösung des Lehrvertrags ist für die betroffenen Lernenden häufig ein belastendes Ereignis (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schmid, 2010; Schmidt & Tippelt, 2011). Sie gehört nicht zu jeder Ausbildungsbiografie, ist weder von Lernenden noch von Berufsbildenden eingeplant und institutionell auch nicht vorgesehen (Neuenschwander, Gerber, Frank & Rottermann, 2012; Stamm, 2012). Für Betriebe ist die vorzeitige Vertragsauflösung mit personellen und finanziellen Einbußen verbunden, da getätigte Ausbildungsleistungen verloren gehen und neue Lernende gesucht und eingearbeitet werden müssen (Wenzelmann & Lemmermann, 2012). Lernende sind mit einem «Bruch» in ihrer Bildungslaufbahn konfrontiert und herausgefordert, sich neu zu orientieren (Hecker, 2000; Schöngen, 2003b). Die Hürden, die bei einem Wechsel von Lehrberuf und Lehrbetrieb zu überwinden sind, sind hoch und vor Lehreintritt getroffene berufliche Vorentscheidungen nicht einfach revidierbar (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schöngen, 2003b). Lernende, die das Berufsfeld wechseln möchten, müssen bis zum darauf folgenden Schuljahresbeginn warten und wieder im ersten Lehrjahr beginnen. Zudem zögern viele Betriebe, Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung eine Lehrstelle anzubieten (Höötmann, 2001; Stalder, 2000).

Vorzeitige Vertragsauflösungen sind auch in der Bildungspolitik seit Langem ein Thema. Sie werfen ein kritisches Licht auf die Funktionsfähigkeit und die Effizienz des Berufsbildungssystems und verweisen auf Probleme an der Schnittstelle zwischen der Volksschule und der beruflichen Grundbildung (Deuer, 2006; Galliker, 2011; SKBF, 2010). In diesem Kontext stellen sich Fragen zur Berufsorientierung und zur Anpassung der Lernenden an die schulischen und betrieblichen Anforderungen der beruflichen Grundbildung – aber auch zur Qualität der Volksschule und der Ausbildung in den Lehrbetrieben und Berufsfachschulen (Deuer, 2015; Stalder & Carigiet Reinhard, 2014; Uhly, 2015). In Anbetracht der Bedeutung vorzeitiger Lehrvertragsauflösungen und nichtlinearer Ausbildungsverläufe haben sich Bund und Kantone zum Ziel gesetzt, Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Übertritt in die Sekundarstufe II frühzeitig zu erfassen und Maßnahmen zu verstärken, um Ausbildungswechsel, Abbrüche und Wartejahre zu vermeiden (EDK, 2006; EDK et al., 2015; Schweizerische Eidgenossenschaft & EDK, 2011). Die politische Diskussion von Lehrvertragsauflösungen wird unter zwei Gesichtspunkten geführt: Erstens wird nach Gründen und Erklärungen für Lehrvertragsauflösungen gesucht und es werden Präventionsmaßnahmen gefordert, um die Auflösungsquote zur verringern (EDK et al., 2015). Zweitens richtet sich das Augenmerk auf die Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen und den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Jugendlichen. Es wird befürchtet, dass ein Teil der Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung keine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II findet, ohne Berufsabschluss bleibt und damit Gefahr läuft, sich langfristig nicht erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (Bertschy, Böni & Meyer, 2007; Häfeli & Schellenberg, 2009; Schmid, 2013). Jugendliche sollen entsprechend besser unterstützt und befähigt werden, ihre (berufliche) Ausbildung nach einer Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschließen (Schmid, 2010).

 

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg ist, so die Grundthese des vorliegenden Buches, kein Widerspruch. Lehrvertragsauflösungen sind nicht immer negativ zu bewerten. Sie bedeuten nicht immer, dass die Lernenden – oder die Betriebe – gescheitert sind (Hecker, 2000; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Uhly, 2013). Eine Vertragsauflösung bietet den betroffenen Lernenden die Chance, Ausbildungsproblemen wirkungsvoll zu begegnen und die berufliche Laufbahn unter Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten neu zu gestalten (Bohlinger, 2002b; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015). Gelingt es den Jugendlichen, eine Anschlusslösung zu finden und einen Berufsabschluss zu erlangen, kann eine Lehrvertragsauflösung zumindest langfristig als positiv beurteilt werden (Boockmann, Dengler, Nielen, Seidel & Verbeek, 2014).

1.1 Berufsbildung und Lehrvertragsauflösungen in der Schweiz

Das Thema «Lehrvertragsauflösung» findet in der Schweiz auch deshalb große Aufmerksamkeit, weil die (duale) Berufsbildung hierzulande stark verwurzelt ist und trotz zeitweiliger Kritik sowohl im Inland wie auch im Ausland als Erfolgsmodell gelobt wird (OECD, 2008; Schellenbauer, Walser, Lepori, Hotz-Hart & Gonon, 2011). Rund zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz durchlaufen eine berufliche Grundbildung (SBFI, 2015). Der Einstieg erfolgt mehrheitlich direkt nach der Volksschule oder einem Brückenangebot. Nur wenige Jugendliche treten nach Abschluss einer allgemeinbildenden Ausbildung (gymnasiale Maturitätsschule, Fachmittelschule) in eine berufliche Grundbildung ein (vgl. SKBF, 2014). Im Jahr 2012 traten 46 % der Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schule direkt in eine berufliche Grundbildung ein. 17 % der Schulaustretenden besuchten ein Brückenangebot, das auf den Eintritt in eine berufliche Grundbildung vorbereitet, d. h. ein Berufsvorbereitendes Schuljahr/oder eine Vorlehre (SBFI, 2015). 14 % nahmen an einer anderen Zwischenlösung teil (z. B. Praktikum, Sprachaufenthalt, Motivationssemester) oder waren nicht in Ausbildung. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nach der Volksschule eine allgemeinbildende Ausbildung besuchten, ist mit 27 % im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gering.

Berufliche Grundbildungen dauern zwei bis vier Jahre und werden in rund 240 Lehrberufen mit unterschiedlichen intellektuellen Anforderungen angeboten (Stalder, 2011b). Drei- und vierjährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch stärkere Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ). Ergänzend kann ein Berufsmaturitätsabschluss erworben werden, der einen prüfungsfreien Zugang zu Fachhochschulen gewährt. Zweijährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch schwächere, vorwiegend praktisch begabte Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Berufsattest (EBA). Die zweijährige berufliche Grundbildung löst die Anlehre ab, die wenig standardisiert war und bei Jugendlichen wie Eltern nur wenig Akzeptanz fand (Kammermann, Stalder & Hättich, 2011).

Berufliche Grundbildungen sind mehrheitlich dual organisiert, wobei die Ausbildung im Kleinbetrieb mit weniger als 50 Beschäftigten die häufigste Form ist (SBFI, 2015; Wettstein, Schmid & Gonon, 2014). Die Ausbildung ist auf drei Lernorte verteilt: den Betrieb, die Berufsfachschule und die Ausbildungszentren, in denen die überbetrieblichen Kurse stattfinden. Gemessen an der Ausbildungszeit liegt der Ausbildungsschwerpunkt im Lehrbetrieb. Lernende verbringen in der Regel drei bis vier Tage in der Woche im Betrieb und besuchen ein bis zwei Tage in der Woche die Berufsfachschule. Die überbetrieblichen Kurse werden von den Organisationen der Arbeitswelt durchgeführt und dauern zwei Wochen bis drei Monate verteilt auf die gesamte Lehrdauer. Wie andere duale Systeme ist das Schweizer Berufsbildungssystem eng mit dem Beschäftigungssystem verknüpft (Gonon, 2002; Stalder & Nägele, 2011; Stolz & Gonon, 2008). Die Bildungspläne und Qualifikationsverfahren1 sind berufsspezifisch ausformuliert und der Weg von der Berufsausbildung ins Erwerbsleben ist stark vorstrukturiert (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Die Organisationen der Arbeitswelt (Berufsverbände, Sozialpartner, Unternehmen) sind neben Bund und Kantonen zentrale Akteure in der Berufsbildung. Sie bestimmen über die Ausbildungsinhalte, die zu erreichenden Kompetenzen bis zum Abschluss der beruflichen Grundbildung sowie die Qualifikationsverfahren (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Betriebe, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Ausbildung von Lernenden erfüllen, entscheiden frei, ob sie sich an der Ausbildung beteiligen. Die Berufsbildenden wählen zudem aufgrund eigener Selektionskriterien, wen sie ausbilden möchten und wen nicht (Imdorf, 2014; Stalder, 2000).

Rechte und Pflichten von Lehrbetrieb und Lernenden werden in einem Lehrvertrag festgehalten, der vor Lehrantritt von den Berufsbildenden und den Lernenden bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung unterschrieben wird. Der Lehrvertrag ist eine besondere Art von Arbeitsvertrag, bei dem die Ausbildung der lernenden Person im Zentrum steht. Er richtet sich nach den Bestimmungen des schweizerischen Obligationenrechts über den Lehrvertrag (OR, 1911, Art. 344–346a). Gemäß Artikel 344a regelt der Lehrvertrag die Art und die Dauer der beruflichen Grundbildung, die Probezeit, die Arbeitszeit, die Ferien und den Lohn der Lernenden. Durch den Lehrvertrag verpflichten sich die Arbeitgebenden, die Lernenden für eine bestimmte Berufstätigkeit fachgemäß zu bilden und sie bei der Ausbildung zu unterstützen. Die Lernenden erklären sich damit einverstanden, im Rahmen dieser Ausbildung Arbeit im Dienst des Arbeitgebers zu leisten. Damit richtet sich das Augenmerk auf die besondere Rolle von Lernenden und Berufsbildenden. Lernende sind nicht nur Auszubildende, sondern Mitarbeitende mit besonderem Status (Lamamra & Masdonati, 2008a; Lohaus & Habermann, 2015). Sie sind in reale Arbeitsprozesse eingebunden (Wettstein et al., 2014) und müssen sich in eine Gruppe erwachsener Kolleginnen und Kollegen integrieren (Nägele & Neuenschwander, 2014). Sie leisten produktive Arbeit und erzielen in vielen Branchen Erträge, die die Ausbildungskosten übertreffen (Strupler & Wolter, 2012). Insbesondere in Kleinbetrieben übernehmen Lernende häufig Aufgaben, die sonst von an- oder ausgelernten Angestellten ausgeführt werden müssten (Stalder, 1999). Berufsbildende sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit besonderem Status, die primär den betrieblichen Erfolg sicherstellen müssen. Zusätzlich sollen sie für eine ausreichende Qualität der beruflichen Grundbildung am betrieblichen Lernort sorgen und sind dafür verantwortlich, dass Lernen bei der Arbeit möglich ist (Nägele, 2013). Gemäß Berufsbildungsverordnung verfügen Berufsbildende über ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis und zwei Jahre Berufspraxis im Lehrgebiet sowie über eine berufspädagogische Qualifikation im Umfang von 100 Lernstunden oder 40 Kursstunden (BBV, Art. 44).

Der Lehrvertrag ist zeitlich befristet und erstreckt sich über die gesamte Dauer der beruflichen Grundbildung. Das Lehrverhältnis endet nach Ablauf der festgelegten Ausbildungszeit. Als Vertrag mit fester Laufzeit kann ein Lehrvertrag während der Probezeit mit einer Frist von sieben Tagen aufgelöst werden. Danach ist er grundsätzlich nicht kündbar, es sei denn, es liegen wichtige Gründe vor (OR, 1911, Art. 346). Eine Kündigung ist dann zulässig, wenn den Berufsbildenden die zur Bildung der lernenden Person nötigen beruflichen Fähigkeiten oder persönlichen Eigenschaften fehlen. Sie kann aber auch dann vorgenommen werden, wenn die Lernenden nicht über die für die berufliche Grundbildung nötigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen verfügen oder wenn sie gesundheitlich oder sittlich gefährdet sind. Eine Vertragsauflösung ist zudem zulässig, wenn die berufliche Grundbildung nicht oder nur durch wesentliche Veränderungen beendet werden kann. Die Entscheidung für die Auflösung des Lehrverhältnisses kann vom Lehrbetrieb und den Lernenden in beidseitigem Einverständnis oder einseitig getroffen werden.

Lehrverträge – neue Abschlüsse und auch vorzeitige Auflösungen – werden in den Statistiken der kantonalen Ämter für Berufsbildung registriert. Im Falle einer Entscheidung vonseiten der Lehrvertragsparteien muss der Lehrbetrieb das zuständige kantonale Amt für Berufsbildung informieren (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 4). Dieses bestätigt die Auflösung beiden Parteien schriftlich. Die kantonale Aufsichtsbehörde kann dem Berufsbildungsgesetz unterstehende Lehrverhältnisse aber auch von sich aus auflösen (BBG, 2002, Art. 24, Abs. 5 Bst. b), wenn gesetzliche Vorschriften nicht eingehalten werden oder der Erfolg der beruflichen Grundbildung infrage gestellt ist. Dies kommt allerdings nur in Ausnahmefällen vor. In Bezug auf das weitere Vorgehen nach einer Lehrvertragsauflösung gibt es kaum gesetzliche Vorgaben. Einzig für den Fall einer Betriebsschließung schreibt das Berufsbildungsgesetz den Behörden vor, dafür zu sorgen, dass die Lernenden die berufliche Grundbildung ordnungsgemäß beenden können (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 5).

1.2 Lehrvertragsauflösung und Lehrabbruch: Begriffsklärung

Im öffentlichen Diskurs werden die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Ausbildungsabbruch» bzw. «Lehrabbruch» häufig synonym verwendet. Oft wird auch dann von Lehrabbruch gesprochen, wenn es eigentlich um eine Lehrvertragsauflösung geht, was wohl auf die Medienpopularität des Begriffs zurückzuführen sein dürfte (Bohlinger, 2002b). Mit Schlagzeilen wie «Lehrlinge im Stress – Tausende brechen ab» (Schweizer Fernsehen, 4. November 2015)2 oder «Lehrabbruch: Ein Schritt ins Leere» (Beobachter, 17. Januar 2007)3 wird unmissverständlich deutlich gemacht, wer die Auflösung verschuldet hat und welche gravierenden Konsequenzen mit diesem ‹Fehltritt› verbunden sind. Tatsächlich geben solche Medienberichte das Phänomen von Lehrvertragsauflösungen nur unzutreffend wieder. Die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Lehrabbruch» bedeuten nicht dasselbe. Die synonyme Begriffsverwendung ist unangebracht und führt vor allem im Zusammenhang mit der quantitativen Bewertung des Phänomens zu Missverständnissen und Unklarheiten (vgl. dazu auch Bohlinger, 2002b; Uhly, 2015).

Aus juristischer Sicht bezeichnet der Begriff «Lehrvertragsauflösung» die vorzeitige Auflösung, das heißt Kündigung des Lehrvertrags seitens einer der beiden Vertragsparteien oder im gegenseitigen Einvernehmen (OR, 1911, Art. 346). Von «Lehrvertragsauflösung» wird dann gesprochen, wenn ein Lehrverhältnis vor Ablauf der im Lehrvertrag festgehaltenen Ausbildungszeit beendet wird – unabhängig davon, aus welchen Gründen dies geschehen ist und wer die Entscheidung getroffen hat. Der Begriff «Lehrvertragsauflösung» lässt auch keinerlei Rückschlüsse auf den weiteren Ausbildungsverlauf der Jugendlichen zu. Ein Lehrvertrag wird auch dann aufgelöst, wenn unmittelbar danach ein neuer Lehrvertrag ausgestellt wird und Lernende die Ausbildung fortsetzen.

Auch in wissenschaftlichen Arbeiten werden «Lehrvertragsauflösung» und «Abbruch» zuweilen synonym verwendet (Baumeler, Ertelt & Frey, 2012; Faßmann, 1998; Fess, 1995). Faßmann (1998) präzisiert zwar, dass vor allem «Abbrüche nach unten» (ersatzloser Ausstieg aus der beruflichen Qualifizierung) problematisch sind, während «Abbrüche nach oben» (weiterführende Ausbildung außerhalb des dualen Systems) und «horizontale Abbrüche» (berufliche Umorientierung im dualen System oder Rückkehr in ein Brückenangebot) in vielen Fällen zu begrüßen seien. Trotzdem ist die Begriffsverwendung unangemessen, da jegliche Vertragsauflösung als «Abbruch» bezeichnet wird. In der Regel wird der Begriff «Abbruch» enger gefasst. Damit soll ausgedrückt werden, dass Vertragsauflösungen nicht immer dazu führen, dass Jugendliche die berufliche Grundbildung gänzlich abbrechen und ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II bleiben (Mischler, 2014; Uhly, 2015). Neuenschwander (1999) sowie Süss, Neuenschwander und Dumont (1996) definieren «Lehrabbruch» als denjenigen Typ von Lehrvertragsauflösung, nach dem Lernende gar keine neue Ausbildung beginnen oder eine nicht-zertifizierende Ausbildung aufnehmen. Noch enger ist die Definition von Ernst und Spevacek (2012), die nur Lehrvertragsauflösungen, die zu Arbeitslosigkeit führen, als «echte Abbrüche» bezeichnen. Uhly (2015) fasst den Begriff «Abbruch» hingegen breiter und beschreibt damit diejenigen Lernenden, die eine Ausbildung im dualen System beginnen, aber keinen Berufsbildungsabschluss erwerben. Dies ist auch möglich, wenn keine vorzeitige Vertragsauflösung vorliegt, zum Beispiel wenn Lernende die Lehrabschlussprüfung nicht bestehen oder nicht zur Prüfung antreten. Auf europäischer Ebene wird der Begriff des Ausbildungsabbruchs nur noch zurückhaltend verwendet. Stattdessen wird von frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgängerinnen und -abgängern gesprochen. Damit werden Jugendliche im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bezeichnet, die höchstens einen Abschluss der Sekundarstufe I erreicht haben und nicht in Aus- oder Weiterbildung sind (vgl. z. B. Glossar Eurostat, 2015)4. Dazu gehören auch Jugendliche, die nie eine berufliche Grundbildung begonnen haben.

In verschiedenen Studien werden Abbrüche von Wechseln unterschieden. Nach Bernath, Wirthensohn und Löhrer (1989) findet ein Wechsel dann statt, wenn Jugendliche eine neue Ausbildung ergreifen, unabhängig davon, ob diese nahtlos an die vorzeitig beendete anschließt oder nicht. Um einen Ausbildungswechsel handelt es sich auch dann, wenn das ursprüngliche Ausbildungsziel an einem neuen Ort weiterverfolgt wird (Betriebswechsel). Süss et al. (1996) fassen unter dem Begriff «Wechsel» nur Vertragsauflösungen mit nahtloser Fortsetzung in einer «gleichwertigen» Ausbildung. Mischler (2014) berücksichtigt nicht nur realisierte, sondern auch geplante Wechsel. Er unterscheidet zwischen Vertragsauflösungen mit und ohne Perspektive, wobei bei Vertragsauflösungen mit Perspektive ein Wechsel (Folgevertrag, weiterer Schulbesuch) bereits erfolgt oder zumindest geplant ist. Eine engere Definition von Wechsel findet sich hingegen bei Uhly (2013), die von Vertragswechseln spricht, wenn der Folgevertrag mit oder ohne Berufswechsel ohne längere Unterbrechung abgeschlossen wird.

Insgesamt zeigt sich, dass die Begriffe «Abbruch» und «Wechsel» sehr unterschiedlich verwendet werden. Eine Differenzierung nach Verbleib der Jugendlichen nach der Vertragsauflösung, d. h. der Art der Anschlusslösung, scheint zwar sinnvoll und nötig. Die aufgeführten Typologien sind aber kritisch zu betrachten, da realisierte Anschlusslösungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben, unterschiedlich gruppiert und teilweise mit subjektiven Einschätzungen wie einem Ausbildungsverzicht vermischt werden. Dies erschwert die Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen und deren Schlussfolgerungen für die Praxis. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Verwendung des Begriffs «Abbruch» zwiespältig. Er ist nicht nur unpräzis, sondern irreführend. Er suggeriert, dass die Jugendlichen «endgültig» aus dem Bildungssystem aussteigen und ohne Berufsabschluss bleiben. Diese Schlussfolgerung wäre allenfalls zulässig, wenn der Ausbildungsverlauf der Jugendlichen über mehrere Jahre beobachtet wird. Das trifft für die meisten Studien nicht zu. Ebenso problematisch ist die Verwendung des Begriffs «echter Abbruch», da er sich auf Arbeitslosigkeit beschränkt und Übergänge in Brückenangebote oder unqualifizierte Erwerbstätigkeiten nicht berücksichtigt. Die Konsequenzen einer Lehrvertragsauflösung für den Ausbildungs- und Erwerbsverlauf der betroffenen Lernenden werden damit beschönigt oder zumindest nur unzureichend abgebildet. Jugendliche ohne Sekundarstufe-II-Abschluss finden sich häufiger als andere in prekären Erwerbslagen, sind häufiger und länger arbeitslos und in befristeten Anstellungen tätig. Mit Blick auf den Verbleib nach der Vertragsauflösung ist entscheidend zu wissen, ob Jugendliche wieder in eine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II einsteigen und diese erfolgreich abschließen.

Diese Kritik aufnehmend wird im vorliegenden Buch zwischen «zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» und «keine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» unterschieden (Stalder & Schmid, 2006a). Dabei wird ausschließlich die effektive Ausbildungssituation der Jugendlichen berücksichtigt, wobei sich diese je nach Beobachtungszeitpunkt stark verändern kann. Es werden keine Rückschlüsse auf den zukünftigen Ausbildungsverlauf (Ausbildungsverzicht, endgültiger Abbruch o.Ä.) gezogen. Dementsprechend wird auf die Verwendung des Begriffs Abbruch verzichtet. Für eine differenzierte Betrachtung des Verbleibs nach der Vertragsauflösung werden bei den zertifizierenden Ausbildungen vier Anschlusslösungen unterschieden: die Fortsetzung der Ausbildung in demselben Beruf, aber in einem anderen Betrieb (Betriebswechsel), der Wechsel in eine berufliche Grundbildung im bisherigen Berufsfeld mit einem höheren (Aufstieg) oder tieferen (Abstieg) Anforderungsniveau sowie die Aufnahme einer Ausbildung in einem anderen Berufsfeld oder einer schulischen Ausbildung (Ausbildungswechsel). Bei Jugendlichen, die (vorerst) keine zertifizierende Ausbildung absolvieren, wird danach unterschieden, ob sie in einem Brückenangebot oder einer arbeitsmarktlichen Maßnahme, erwerbstätig, arbeitslos oder inaktiv sind.

1.3 Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg: Das Projekt LEVA

Die Frage, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden, findet in der Forschung seit den 1950er-Jahren Beachtung (Schmid, 2010). Während frühe Studien Lehrvertragsauflösungen vor allem auf individuelle Merkmale der Lernenden und ihr familiäres Umfeld zurückführten, werden seit Mitte der 1990er-Jahre auch institutionelle und strukturelle Determinanten von Lehrvertragsauflösungen berücksichtigt (z. B. Bessey & Backes-Gellner, 2008; Forsblom, 2015; Lamamra & Masdonati, 2008a; Negrini, 2015; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015). Zunehmend wird auch untersucht, welche kurz- und mittelfristigen Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den weiteren Ausbildungsverlauf der Lernenden hat (z. B. Beicht & Walden, 2013; Lovric & Lamamra, 2013; Mischler, 2014; Schmid, 2010; Süss et al., 1996). Es ist heute unbestritten, dass die Gründe für Lehrvertragsauflösungen vielschichtig sind und dass Vertragsauflösungen nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance für den weiteren Ausbildungsverlauf betrachtet werden können (Baumeler et al., 2012; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015).