Loe raamatut: «"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"»
Barbara Halstenberg
»Alles schaukelt,
der ganze Bunker schaukelt«
Die letzten Kriegskinder erzählen
Wie wir Eltern und Großeltern richtig zuhören
Erste Auflage 2021
© Osburg Verlag Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)
Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-258-6
eISBN 978-3-95510-268-5
Und die Geschichte? Sie ist auf der Straße … in der Menge … Ich glaube, dass in jedem von uns ein Stück Geschichte steckt. Bei dem einen eine halbe Seite, bei einem anderen zwei, drei Seiten. Alle zusammen schreiben wir am Buch der Zeit.
(Swetlana Alexijewitsch)
Inhalt
Wolf-Rüdiger Osburg: Zur Einführung
Vorwort
Bombenkrieg
»Ich höre Geräusche, das Knirschen der Trümmer über mir.«
Winfried L.
»Die Bomben, die euch treffen, die hört ihr nicht.«
Waldemar Klemm
»Alles ist aus, das Licht ist aus, alles aus …«
Dieter Hadel
»Alle waren ausgebombt, wir hatten nichts.«
Aenne Fiedler
»Wir sind die Generation, die praktisch alleine groß geworden ist.«
Elisabeth Krieg
»Kinder kann man auch entwürdigen.«
Joachim Artz
Von Kohlestückchen in der Backe, Splittern im Käsekuchen und einer schwarzen Wolke
Hintergrundinfos: Bombenkrieg
Flucht und Vertreibung
»Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu.«
Jürgen Fischer
»Mutti war meine Heimat. Eine andere Heimat hatte ich nicht.«
Berthild Erika Tourrenc
»Hat sich eine Frau aufgehängt, hat die beiden Kinder unterm Baum sitzen lassen!«
Hilde S.
»Ich kümmerte mich darum, dass meine Schwester beerdigt wurde.«
Margot Rickert
»Nimm mich mit, Mutti, Mutti, nimm mich mit!«
Dorothea L.
»Auf einmal erscheint in den toten Augen ein Aufblitzen, ein Licht …«
Roswitha Weiß
»Jetzt bin ich der Herr und du der Knecht!«
Edel S.
»Mir wurde auf einmal klar, wir werden vertrieben!«
Barbara Schubert-Felmy
Von wandelbaren Gerüchen, Hosenbeinen und dicken Kuchenblechen
Hintergrundinfos: Flucht und Vertreibung
Vergewaltigungen
»Nachdem wir vergewaltigt wurden, spielte ich krankes Kind …«
Christa Ronke
»Wir Kinder lagen daneben.«
Arno Planitzer
»Wenn er kam, ging ich runter in den Hof spielen …«
Ursula R.
»… du hast ja noch ’nen Halbbruder.«
Marließ Zuschke
»Meine Schwester und ich legten uns in ein Bett zwischen schwerkranke alte Frauen.«
Eva Grieve
Von roten Punkten im Gesicht, einem Fensterkreuz und kolossalem Glück
Hintergrundinfos: Vergewaltigungen
Hitlerjugend und nationalsozialistischer Alltag der Kinder
»Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie ein Windhund.«
Burkhard C.
»Die SS war die Super-Truppe, das war ein Anreiz für mich, ich wollte das Vaterland verteidigen.«
Jochen Lindner
»Ich wischte das Neugeborene mit Heu ab …«
Hans-Joachim Fritz
»Wir flirteten mit den verwundeten Soldaten.«
Brunhilde K.
»Zu Hause denken sie so, und draußen denken sie ganz anders.«
Inge Pietschker
Von mehreren Wahrheiten, Begeisterung und Zweifeln
Hintergrundinfos: Hitlerjugend
Kindersoldaten
»Nach den Befehlen ›Stillgestanden!‹ und ›Drei Schritt vorwärts marsch!‹ waren wir Angehörige der deutschen Wehrmacht.«
Erich H.
»Da wurde ich Soldat, Kindersoldat.
Ich war vierzehn Jahre …«
Kurt Steininger
»Und kommt ja nicht auf die Idee, Werwolf zu spielen!«
Erhard M.
»Ich muss auf jeden Fall als Erster losballern.«
Gerhard G.
»Nicht mit dem Gewehr, sondern mit meiner Balalaika …«
Waldemar Klemm
Hintergrundinfos: Kindersoldaten
Nazi-Eltern
»Opa war bestimmt einer von den ganz Schlimmen.«
Joachim Artz
»Wenn wir Gas hätten, könnten wir uns das Leben nehmen.«
Christa Lentzsch
»Ich sagte nie guten Morgen, guten Tag oder auf Wiedersehen, sondern immer Heil Hitler.«
Günter Ahlberg
»Wir wollen ein großes Europa schaffen.«
Erhard M.
Hintergrundinfos: Nazi-Eltern
Judenverfolgung
»Musst ja nicht jedem erzählen, dass du Jude bist!«
Kurt Hillmann
»Ich wurde versteckt.«
Margit Siebner-Cohn
»Jesus Christus steigt vom Kreuz herunter und verlässt die Kirche …«
Walter Sylten
»Die Juden wurden von uns versorgt, so haben sie überlebt.«
Hans-Joachim Fritz
»Ich träumte jahrelang davon, wie ich als Soldat selbst Zeuge der Vernichtung in Babyn Jar bin.«
Erasmus Zöckler
Von Sträflingsanzügen, Lastwagen und Sternen
Hintergrundinfos: Judenverfolgung
Verfolgte Minderheiten
»Wir ziehen mit dem Spaten durchs Moor.«
Alfred D.
»Sie machten Experimente mit ihr.«
Dorothea W.
Von Hinrichtungen, Arbeitslagern und dem Roten Wedding
Hintergrundinfos: Verfolgte Minderheiten
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
Von Essen in der Jackentasche, der ersten Liebe und einem Glas Eingewecktem
Hintergrundinfos: Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
Russlanddeutsche, Donauschwaben
»Sie wollten mich zu einem Russen machen.«
Adam Bruner
»In Kruševlje gab es keine Hunde und Katzen mehr, die waren schon alle in den Topf gewandert.«
Anton Bergmann
Hintergrundinfos: Donauschwaben und Russlanddeutsche
Kriegsende
»Im Krieg zählt ein Mensch ja gar nicht.«
Siegrid S. und Gerhard V.
»Danach war nur Stille …«
Ronald Potzies
»Jetzt lieber ein Ende mit Schrecken als den Schrecken der Nazis ohne Ende.«
Inge Pietschke
»Ein wunderschöner Gesang!«
Alfred D.
Von pfeifenden Granaten, Klettern in Ruinen und Radiergummis aus Panzerteilen
Hintergrundinfos: Kriegsende
Besatzung Deutschlands
»Die großen Fische nahm sich der Russe, ich bekam die kleinen.«
Alfred Stollbach
»Dann trug der General meinen Opa ins Bett.«
Marianne M.
»Seitdem liebe ich Swing-Musik!«
Jochen Lindner
Von Kaugummi-Ballons, Panjewagen und anständigen Frisuren
Hintergrundinfos: Besatzung Deutschlands
Väter
»Mutti, ich kenn Papa nicht, sag mir, wo der ist!«
Karin D.
»… wir wollen den Papa für tot erklären lassen«
Dieter Hadel
»Ich hab mir immer einen Vati gewünscht …«
Marianne M.
»Ich kannte das Wort Vater gar nicht.«
Marließ Zuschke
Von fremden Männern, störenden Vätern und dicken Freunden
Hintergrundinfos: Väter
Nachkriegszeit
»Wir aßen Unkraut.«
Karin D.
»Wir organisierten.«
Ronald Potzies
Von Sauerampfersuppe, abgeschnittenen Schuhspitzen und Kohlenklau
Hintergrundinfos: Nachkriegszeit
Kriegstrauma
»Mein Bruder guckt mich mit großen klaren Augen an, fast als wenn er lächelt. Aber er ist tot …«
Ingrid Heinze
»Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt.«
Karin D.
»Lauter rote Perlen flogen durch die Dunkelheit auf mich zu.«
Bodo G.
Von verlorenem Lebensmut, der dunklen Zeit und einer emotionalen Katastrophe
Hintergrundinfos: Kriegstrauma
Kriegskinder und Kriegsenkel
»Mit diesen Bruchstücken vom Krieg sind wir aufgewachsen.«
Helga Werner
»Immer deine Vergangenheit!«
Dorothea W.
»… allein auf dieser vom Krieg zerstörten Welt«
Lothar M.
Von hinterlassenen Spuren, einem großen Bogen und fehlenden Fragen
Hintergrundinfos: Kriegskinder und Kriegsenkel
Erinnerungen wecken – eine Anleitung
Udo Baer: Nachwort Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Literatur
Bildnachweis
Dank
Zur Einführung
Wolf Rüdiger Osburg
Am 1. Mai 1989 stand mir das erste Interview mit einem über neunzigjährigen Teilnehmer des Ersten Weltkriegs bevor. Ich war aufgeregt, konnte mir überhaupt nicht vorstellen, einige Minuten später mit einem mir vollkommen fremden Mann ein Interview über seine höchstpersönlichen Erlebnisse in diesem Krieg zu führen. Es war dies das erste von 150 Interviews, die in den nächsten Jahren bis 1992 folgen sollten. Diese Interviews entwickelten sich bei mir beinahe zu einer Sucht, bis ich nach drei Jahren das Gefühl hatte, nun mir und den Lesern des Buches, das sich Schritt für Schritt entwickelt hatte, einen vollständigen Überblick über die Erlebnisse dieser jungen Männer in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs liefern zu können.
Überraschenderweise stellte sich heraus, dass derartig umfassende Augenzeugensammlungen, die sich nicht auf schriftliche Quellen, sondern auf das Gespräch gründen, in Deutschland keine solche Tradition haben, wie sie sie eigentlich haben sollten. Wer hätte damals schon gedacht, dass mein Buch Hineingeworfen in seiner Art das einzige zum Ersten Weltkrieg war und zu einem Grundlagenwerk werden sollte.
Und es überraschte mich und hätte ganz bestimmt auch meine Gesprächspartner überrascht, dass ihre beispielsweise an einem sonntäglichen Kaffeetisch mir gegenüber geäußerten Erinnerungen später von Historikern in deren Untersuchungen als wissenschaftliche Quellen zitiert wurden.
Dabei gibt es kaum etwas Spannenderes als Oral History. Selbstverständlich fühlte ich mich angesprochen, als ich dreißig Jahre später als Verleger darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Barbara Halstenberg mit ihrem Buch Alles schaukelt einen ähnlichen Ansatz verfolgt hatte, um dem Erleben des Zweiten Weltkriegs, in diesem Fall durch Kinder und Jugendliche, nachzugehen.
Geschichte ist für die allermeisten Menschen ein komplett abgeschlossenes System. Sie wird geprägt von Geschichtszahlen aus vergangenen Epochen, von Listen mit Angaben zu verstorbenen, vertriebenen oder misshandelten Menschen. Wir wissen davon, es ist aber die Geschichte der anderen, nicht unsere. Dabei gibt es durchaus Menschen, die noch unter uns leben und ihre Erinnerungen im Alter jeden Tag und mehr denn je mit sich herumtragen. Für die Generation der Babyboomer sind diese Zeitzeugen die Eltern, für die Nachfolgegeneration die Großeltern. Viele von ihnen schweigen, und wenn sie einmal reden, fällt es uns schwer, in ihnen die jungen Menschen von einst zu erkennen.
Es ist unfair, verschiedene Zeitepochen auf ihre Bedeutsamkeit hin zu vergleichen. Es gibt aber historische Phasen, die so unfassbar sind, dass man an ihnen nicht vorbeikommt. Das sind Epochen, zu denen auch wir Jüngeren Fragen stellen. Im vergangenen Jahrhundert sind dies zweifelsfrei die beiden Weltkriege, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, ihre Vor- und ihre Nachgeschichte. Gerade mit dem Zweiten Weltkrieg werden so viele Episoden verbunden, dass sie uns Nachkommen am ehesten aus der Reserve locken und wir bereit sind, uns auf diese Themen einzulassen.
Barbara Halstenberg hat sich der Frage verschrieben, wie die jüngsten und jungen Menschen den Zweiten Weltkrieg durchlebt haben. Sie hat sich auf die Suche nach hundert Zeitzeugen gemacht, die von ihrer Kindheit erzählen konnten, die vom Nationalsozialismus sowie von Krieg, Flucht und Vertreibung geprägt war. Gemeinsam ist ihren Interviewpartnern, dass sie den Krieg auf deutschem Boden erlebten und im hohen Alter dazu bereit waren, von ihren teils traumatischen Erlebnissen zu berichten. Barbara Halstenberg hat diesen Menschen aufmerksam zugehört und schafft es mit den Geschichten in Alles schaukelt, ihre Leserinnen und Leser die Welt von damals durch Kinderaugen sehen zu lassen.
Herausgekommen ist eine ganz einzigartige Sammlung von Stimmen, die die Vielfalt menschlicher Erlebnisse in so einer außerordentlich dramatischen Phase widerspiegelt. Es sind Kinder, deren meist unbeschwerte Kindheit mit einem Mal durch den Krieg unterbrochen wurde. Sowohl Mädchen als auch Jungen, aus der Stadt oder vom Land. Junge Menschen, die von den Ereignissen niedergeworfen wurden, Zeugen waren von Grausamkeiten vor ihren Augen oder gar in ihren Familien, die aber, wie das in diesem Alter ist, schnell einen Weg fanden, diese Erlebnisse zu überstehen. Diese Vielfalt, von der Autorin um historische Fakten ergänzt, macht die Besonderheit dieses Buches aus.
Barbara Halstenbergs Arbeit macht den Leserinnen und Lesern klar, dass diese Generation wahrlich keine normale Kindheit und Jugend hatte. Diese Menschen wurden von dem, was sie erlebt haben, für ihr ganzes Leben gezeichnet. Das ist eine wichtige Erkenntnis für das Zusammenleben der Generationen.
Dem Anspruch der Autorin entspricht es, dass sie am Ende ihrer Arbeit Anregungen für diejenigen ihrer Leserinnen und Leser gibt, die sich nach der Lektüre ermutigt fühlen, sich ihrerseits auf den Weg zu machen, um Menschen Fragen zu ihren persönlichen Erinnerungen zu stellen. Mit diesem Werkzeug in der Hand kann verhindert werden, dass dieser so wichtige und gerade noch mögliche Dialog verpasst wird, wie es auch in meinem Fall mit den Interviews von fast Hundertjährigen beinahe der Fall gewesen wäre.
Mai 2021
Vorwort
»Es kann ja nur ein Antikriegsbuch werden.«
Mit den Erzählungen über die Vertreibung meiner Großmutter aus Schlesien bin ich als Kind aufgewachsen. Als junge Erwachsene glaubte ich, schon alles darüber zu wissen. Als 2015 der Syrienkrieg in den Medien überall präsent war und viele Geflüchtete Deutschland erreichten, wurde mir bewusst, dass in unserer Gesellschaft eine weitere große Gruppe von Menschen lebt, die Krieg erfahren haben und vom Krieg geprägt wurden. Das sind die Alten, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Jeden Tag laufen wir auf der Straße an ihnen vorbei, sitzen neben ihnen im Bus oder stehen hinter ihnen an der Kasse. Damals waren es Kinder, heute sind es die letzten Zeugen, die uns von ihrer Vergangenheit erzählen können – die auch unsere Vergangenheit ist.
Als Journalistin interessieren mich die alltäglichen Geschichten der Menschen. Und so fragte ich mich 2015, was andere Kinder aus der Generation meiner Großmutter erlebt haben mussten und wie es ihnen heute damit geht. Wie leben Kinder im Krieg, was denken sie, was empfinden sie? Wie erlebten sie das Jungvolk, die Judenverfolgung, die Väter im Krieg? Und wie denken sie heute über ihre Kindheit? Was tragen sie von damals noch in sich? Welchen Einfluss haben die Kriegserfahrungen bis heute? Ich begann, in meinem Umfeld zu recherchieren.
In meinem Alltag hatte ich, wie viele andere, wenig Kontakt zu alten Menschen. Ein alltäglicher Austausch zwischen den Generationen ist heute leider selten. Ich bat meine Großmutter um Kontakte aus ihrem Bekanntenkreis – es waren wenige. Ihre Idee, mit Aushängen in Apotheken nach Kriegskindern zu suchen, brachte für meine Recherche den Durchbruch. In manchen Wochen klingelte täglich mein Telefon. Ich spürte, dass diese Generation ein großes Bedürfnis hat zu reden. Und viele von denen, die sich bei mir meldeten, waren erstaunt, dass sich jemand für ihre Geschichten interessierte. So führte ich in den folgenden zwei Jahren rund einhundert Interviews mit Menschen, die im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg Kinder gewesen waren.
Viele Kinder kannten damals keine andere Realität als die des Krieges. Eine Zeitzeugin sagte: »Wie sollte der Krieg vorbeigehen, wir sind ja mittendrin aufgewachsen.« Die Kinder waren ausgebombt, unter Trümmern verschüttet, waren durch den Feuersturm gerannt, über Leichen gestiegen und an Erhängten vorbeigelaufen. Sie erlebten die Vergewaltigungen ihrer eigenen Mütter oder wurden selbst misshandelt. Sie sahen ihre Geschwister und Eltern sterben und wie Kinder und Erwachsene neben ihnen erschossen wurden. Sie kämpften als Kindersoldaten, haben als Jungmädel Soldaten mitten im Kampfgebiet verbunden, und kamen selbst in Gefangenschaft. Sie versorgten die halb verhungerten Flüchtlinge aus dem Osten, gruben Verschüttete aus, löschten Bombenfeuer und besorgten Essen. Viele wurden Zeugen der Judenverfolgung, sie sahen, wie Menschen abgeholt wurden, dass Bekannte plötzlich nicht mehr wiederkamen, sahen die Häftlinge auf ihren Todesmärschen, hörten Gespräche über Massenerschießungen, brachten versteckten Juden Essen oder überlebten als versteckte Juden den Krieg. Auch erlebten sie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern mit.
Sie erzählen von den fehlenden Vätern, dem langen, teils vergeblichen Warten auf deren Rückkehr, den Todesnachrichten und den Rückkehrern aus der Gefangenschaft, die sie nicht wiedererkannten. Sie erzählen vom lebensbedrohlichen Hunger und von der Kälte, von Läusen, Wanzen und Flöhen und von Krankheiten, für die es keine Medikamente gab. Sie erzählen von Flucht und Vertreibung – dem Verlust der Heimat und der schlechten Behandlung der Flüchtlinge. Viele haben unter der NS-Erziehung gelitten – in der Familie, bei der Hitlerjugend oder in der Schule –, viele waren aber auch bis zum Ende begeistert, schließlich waren sie so erzogen worden und von der Propaganda geblendet. Sie erzählen von der Einsamkeit während der Kinderlandverschickung und vom Spielen in den Trümmern, vom Sammeln der Bombensplitter und von scharfer Munition.
In den Wohnzimmern der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen tauchte ich in gelebte Geschichte ein. Ich saß mit ihnen im schwach beleuchteten Keller, spürte die Detonationen, atmete den von der Decke herabrieselnden Steinstaub ein. Ich sah die Kinder von damals von der Landstraße in Gräben springen und sich unter einer grünen Decke vor den Tieffliegern verstecken oder inmitten der Trümmer nach bunten Bombensplittern suchen. Aus Daten, Zahlen und Fakten wurde plötzlich lebendige Geschichte. Es war ein großes Geschenk, das ich dem Mut und Vertrauen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu verdanken habe, die mir ihre Geschichten erzählten. Sie wollen, dass ihre Geschichten gehört werden, und ich verstehe mich als ihr Sprachrohr. Ich beschloss, die Geschichten aufzuschreiben, damit sie nicht verloren gehen und auch die Generationen nach mir die Möglichkeit haben, auf diesem direkten Weg von gelebter Geschichte zu erfahren. Sie werden nicht mehr die Möglichkeit haben, selber nachzufragen.
Ich wollte kein Buch über die Kriegskinder schreiben, in dem ich ihre Geschichten mit meinen Worten nacherzähle. Vielmehr kommen die Kriegskinder selbst zu Wort. Nur so ermöglichen die Erzählungen einen direkten persönlichen und emotionalen Zugang zu gelebter, lebendiger Geschichte.
Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählten ganz unterschiedlich. Einige durchlebten die Ereignisse ihrer Kindheit beim Erzählen erneut. Das waren bewegende Momente. Viele waren sehr emotional, manche blieben gefasst – einige waren reflektiert, andere erzählten sehr distanziert. In manchen Gesprächen war mir, als nähme das Ungesagte viel Raum ein. Als verberge sich darin das Unerklärte oder Unverarbeitete der eigenen Biografie.
Erinnerungen sind immer subjektiv und durch das weitere lange Leben gefärbt. Deswegen habe ich zur besseren Einordnung am Ende jedes Kapitels kurze Hintergrundinformationen mit geschichtlichen Fakten zusammengestellt. Meine Hoffnung ist es, dass die Fülle der gesammelten Erinnerungen sich zu einem Gesamtbild über das Vergangene zusammenfügt.
Die Themen kamen über die Menschen, die sich bei mir meldeten, zu mir. Das erklärt vielleicht, warum hier zu den Themen Verfolgung und Täterschaft vergleichsweise wenige Erzählungen versammelt sind. So fehlen bei den Verfolgten die Geschichten von Sinti- und Roma-Kindern, von Kindern der Zeugen Jehovas, von Kindern politisch verfolgter Eltern sowie von sogenannten Lebensborn-Kindern. Ebenso fehlen Geschichten von Besatzungskindern und Kindern von Zwangsarbeiterinnen. Auch konnte ich keine Kinder von Homosexuellen, den sogenannten Asozialen, »schwer erziehbare Kinder« und Kinder, die während des Krankenmordes in Heilanstalten gelandet sind, befragen.
Wenige Kinder von Nationalsozialisten haben sich in ihrem späteren Leben mit der Rolle ihrer Eltern im Regime intensiv auseinandergesetzt. Sicherlich gab es unter den Eltern der Kriegskinder noch viele, die großes Unrecht taten oder geschehen ließen. Aber die Kinder wussten es entweder nicht oder wollten es nicht wissen, haben sich später nicht getraut nachzufragen oder haben keine Antworten bekommen. Auch ich habe erst kurz nach dem Tod meines Großvaters erfahren, dass er mit achtzehn Jahren als Wehrmachtssoldat, während er mit seiner Panzerdivision in Weimar stationiert war, für vier Wochen die Außenanlage des KZs Buchenwald bewacht hat. Darüber hätte ich mit ihm reden wollen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Deswegen möchte ich die Leserinnen und Leser dazu ermutigen, in ihren Familien noch einmal genauer nachzufragen.
Kinder können nur Opfer sein. Wichtig ist, zu schauen, warum sie zu Opfern wurden: durch die Indoktrinierung und Manipulation des NS-Systems, dem viele der Eltern sicherlich auch ihre Stimme gegeben haben und in deren Unrecht sie vielfach verstrickt waren, und durch den Krieg, den das nationalsozialistische Regime begonnen hat. Auch für diese Hintergründe weiten die Geschichten den Blick.
Die Erzählungen der Kriegskinder können die deutsche Schuld in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nicht relativieren. Wir Deutschen können uns unserer Verantwortung für unsere Geschichte nicht entziehen. Allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, mit denen ich sprach, war bewusst, dass es den Krieg nur deshalb gegeben hat, weil die Deutschen ihn angefangen haben. Die Bomber kamen nur, weil die Wehrmacht diese Länder zuvor angegriffen hatte. Die damaligen »Feinde« benahmen sich nur so, weil sich die Deutschen vorher so schändlich in den besetzten Gebieten verhalten hatten. Was die Erzählungen auch zeigen: Fast alle Kinder haben die Verbrechen der Nationalsozialisten mit ihren eigenen Augen gesehen. Und was Kinderaugen gesehen haben, das konnten die Erwachsenen erst recht sehen.
Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben heute Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Darin, dass eine rechte Partei im Bundestag sitzt und rechte Tendenzen überall in Europa erstarken, erkennen sie eine Gefahr für die Demokratie und den Frieden. Ein Anliegen war allen Befragten gemeinsam: Sie wollen nie wieder Krieg, Flucht und Vertreibung. »Es kann ja nur ein Antikriegsbuch werden«, hat ein Zeitzeuge während unseres Interviews gesagt. Die Erinnerungen der Kinder bezeugen das in jeder Geschichte. Kein Kind, egal wo auf der Welt, sollte mit diesen Erlebnissen aufwachsen müssen.
Es schaukelt noch immer. Die Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg sind bis heute zu spüren. Der Krieg und seine Schrecken lebten auch nach dem Krieg in vielen Kindern weiter, auch wenn sie nach außen hin schwiegen. Die meisten konnten mit niemandem über ihre teils traumatischen Erlebnisse sprechen. Im Nachkriegsdeutschland ging es ums Überleben, Nachvorneschauen und Verdrängen des Nationalsozialismus und seiner Folgen. So konnten die Kinder das Erlebte nicht verarbeiten und haben es teilweise über Erziehung und Verhalten an ihre eigenen Kinder weitergegeben.
Deswegen will dieses Buch die ältere Generation bestärken und sie zum Erzählen ermutigen. Und meine Generation möchte ich dazu anregen, noch einmal genau nachzufragen und wirklich zuzuhören, sodass ein Dialog jenseits der bisher erzählten Anekdoten stattfinden kann. Noch ist die Geschichte direkt durch die Erinnerungen der Kriegskinder erfahrbar. Doch die Zeit dafür ist knapp. Sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, anstatt das Schweigen weiterzuführen, ist eine große Chance.
Berlin, März 2021
Barbara Halstenberg