Loe raamatut: «Augen, die im Dunkeln leuchten»
Ingo Rose / Barbara Sichtermann
AUGEN, DIE IM DUNKELN LEUCHTEN
Helena Rubinstein: Eine Biografie
ISBN 978-3-218-01225-6
eISBN 978-3-218-01243-0
Copyright © 2020 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung (unter Verwendung eines Fotos von akg-images/Mandadori Portfolio), typografische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus, Wien
Lektorat: Paul Maercker
Inhalt
1.Von Kazimierz zum Fünften Kontinent
2.Ein Verehrer mit ernsten Absichten
3.Die Eroberung der Alten Welt
4.Schönheitsbeauftragte für die Neue Welt
5.Weltmarke Rubinstein
6.Princess Gourielli
7.Der dritte Mann
8.Arbeit bis zum Schluss
Literatur
1.
Von Kazimierz zum Fünften Kontinent
In Melbourne gab es eigentlich alles: jede Menge Geschäfte, Clubs, Restaurants, Sporthallen, Postämter, Theater, das Rathaus und die Börse. Und wer modebewusst auftreten wollte, fand Frisiersalons, Maßschneidereien und Boutiquen für jeden Geschmack. Und dennoch geschah es im Jahre 1902, dass in der Collins Street ein Etablissement eröffnete, das sofort zum talk of the town wurde. Denn so etwas hatte es bislang in dieser aufregenden Stadt nicht gegeben. Es handelte sich um die Valaze Maison de Beauté, geführt von einer geheimnisvollen jungen Frau, von der man nicht so genau wusste, woher sie kam. Aber das wusste man in Melbourne von den wenigsten. Immerhin kannte man ihren Namen, denn der stand in handgemalten Lettern groß über der Tür: Helena Rubinstein.
Melbourne war eine Metropole mit kurzer Geschichte, erst in den 1830er Jahren war diese Hauptstadt der australischen Provinz Victoria gegründet worden. Der Name stammte vom seinerzeit als Premierminister im englischen Mutterland amtierenden Lord Melbourne. Anders als die meisten urbanen Brennpunkte Australiens war Melbourne nie eine Strafkolonie gewesen; die Stadt besaß breite Boulevards und große Parks und rühmte sich reizvoller moderner Quartiere sowie einer aufstiegswilligen, innovationsfreudigen Bevölkerung. Nördlich der Kapitale hatte man Gold gefunden – das zog Glücksritter an, die das soziale Klima spannungsvoll aufluden. In Melbourne konnten Abenteurer und Parvenüs neu beginnen – das galt auch für Frauen. Vieles war möglich in dieser Stadt. 1902 war auch das Jahr, in dem Frauen das Wahlrecht errangen. Und sie machten sich in weit größerer Zahl als im traditionsbewussten Europa auf, ihre eigenen Wege zu gehen. Hier gab es außergewöhnlich viele arbeitende Frauen, und die Bürger der Stadt hegten keine Vorurteile gegen sie. Man war gewöhnt an Fräuleins, die morgens in Büros verschwanden und abends in Bars verkehrten. Sie hatten Jobs als Sekretärinnen, Telefonistinnen, Kontoristinnen, Verkaufsleiterinnen. Und das Geld, das sie verdienten, gaben sie gern für persönliche Belange aus. Warum nicht mal die Maison Valaze besuchen? Eine Behandlung dort war nicht billig, aber womöglich ihr Geld wert. Die Inhaberin dieses neuartigen Salons konnte jedenfalls über einen Mangel an Kundschaft nicht klagen. Sie hatte aber auch etwas Außerordentliches zu bieten. Hautpflege war damals eine Angelegenheit, die mit Wasser und Seife erledigt wurde. Und das konnte man sehen. Die australische Sonne und die stete Brise gerbten regelrecht die Haut der Ladies in Stadt und Land. Und jetzt kam da eine junge Frau aus Europa, deren Teint von purem, seidigem Weiß war und die behauptete, dank ihrer Produkte könne jede Frau mit einer vergleichbar schönen Haut durchs Leben gehen. Das musste ausprobiert werden.
Neben den Ladenmädchen und Kellnerinnen fanden auch die müßigen Ladies der britisch geprägten Oberschicht ihren Weg in den Schönheitssalon. Selbst Prominente schauten vorbei – manchmal ein wenig verschämt, denn welche Frau wollte schon zugeben, dass sie in Fragen der Körperpflege Nachhilfe brauchte?
Als die in Australien sehr prominente Schauspielerin Nellie Stewart in der Collins Street auftauchte, war das eine Notiz in der Lokalzeitung wert. Die Inhaberin kam persönlich auf die Berühmtheit zu, ergriff deren Hand und erläuterte ihr die Valaze-Produktpalette. Nellie staunte. Sie erfuhr, dass jede Frau einen anderen Hauttyp habe, dass jede ihre individuelle Pflege brauche und dass Reinigung, Erfrischung und Nahrung der Haut mit ganz verschiedenen Essenzen, Lotionen und Cremes zu bewerkstelligen seien. Helena selbst war der beste Beweis dafür, dass Valaze-Creme etwas taugte. Wer konnte eine schönere Haut haben? Auch sonst war die klein gewachsene Person ziemlich reizvoll. Dunkle, weit auseinanderstehende Augen leuchteten in einem ebenmäßigen Antlitz; dichtes, pechschwarzes Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen.
„Ich habe mir die nötigen Kenntnisse während meines Medizinstudiums angeeignet“, sagte Helena Rubinstein, „die Zusammensetzung meiner Cremes und Lotionen wird von mir selbst ständig verbessert.“
„Werden Sie mir mitteilen, was alles in so einer Creme drin ist?“, fragte Nellie neugierig.
„O nein, das kann ich nicht tun“, lächelte Helena. „Die Formel ist geheim.“
„Ich verstehe.“ Nellie klappte ihren Fächer zu. „Bitte packen Sie mir drei Tiegel dieser vielversprechenden Creme ein. – Aber über Ihren Werdegang erzählen Sie mir doch noch ein wenig …?“
Während Helena die Creme in drei Näpfchen füllte, gab sie der berühmten Kundin einen kurzen Einblick in ihr Leben. Sie sei sechsundzwanzig Jahre alt, aus Krakau in Polen gebürtig, wo ihr Vater Horaz Rubinstein ein weitläufiges Landgut besitze. Während ihres Medizinstudiums habe sie sich in ihren Kommilitonen Stanislaw verliebt und ihn heiraten wollen, aber der Papa habe Nein gesagt und sie zu Verwandten nach Wien geschickt, damit sie dort auf andere Gedanken komme und womöglich einen passenderen Mann finde.
„Ich stellte dann fest: Ich wollte überhaupt nicht heiraten, stattdessen mein eigenes Geschäft eröffnen. Kosmetik hat mich immer schon fasziniert. Hier in Australien leben zwei meiner Onkel. Hierher wollte ich auswandern und ein Unternehmen gründen. Wie Sie sehen, habe ich es geschafft.“
Nellie schaute sich um und nickte begeistert. Der Salon war mit weißen Vorhängen, leichten Korbmöbeln und viel Blumenschmuck wirklich hübsch eingerichtet, kein Wunder, dass die Damen sich gerne hier aufhielten und die wohlriechenden Salben erwarben. „Ich werde meine Kolleginnen zu Ihnen schicken“, sagte Miss Stewart zum Abschied. „Machen Sie sich auf eine kleine Invasion gefasst. Allein unser Ballett besteht aus zwanzig Mädchen, die alle schön sein wollen.“ Bevor sie ging, schrieb sich Nellie die Adresse der Maison de Beauté auf einen Zettel und dachte bei sich: Unglaublich, was diese kleine Frau auf die Beine gestellt hat.
Das war es in der Tat. Aber noch in einem anderen Sinn als in dem der wohlmeinenden Nellie Stewart, denn nur wenig von dem, was Helena Rubinstein erzählt hatte, entsprach der Wahrheit. Es stimmte, dass sie etwas von Kosmetik verstand und ständig darum bemüht war, mehr zu erfahren. Ihre Erzeugnisse waren wirklich hilfreich bei den Bemühungen der Frauen, ihren Teint frisch zu halten, und Helenas Ehrgeiz, ein eigenes Geschäft zu führen, war echt und ungewöhnlich. Aber sie hatte niemals Medizin studiert, und ihr Vater Horaz, Hertzel genannt, besaß auch kein Landgut. Er handelte mit Kerosin und war Eierverkäufer auf dem Wochenmarkt von Krakau, Helena war im Judenviertel Kazimierz zur Welt gekommen. Sie war die älteste von acht Töchtern und wuchs in Armut auf. Aber die Familien Rubinstein und die ihrer Mutter Augusta Silberfeld waren groß und weitverzweigt, sie lebten außer in Krakau in Wien und Antwerpen und sogar in Australien. Beide Familienzweige brachten etliche Rabbis und Gelehrte hervor, die Rubinsteins konnten ihre Verwandtschaft gar bis zu Raschi von Troyes ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen, einem berühmten Kommentator der Bibel und des Talmud. Man unterstützte einander und brachte es zu einer kleinbürgerlichen Solidität. Dennoch musste Gitel, wie Mutter Augusta genannt wurde, überall sparen, bei Brot, Butter, Seifen und Kerzen. Der Vater war kein geborener Geschäftsmann. Er war ein Büchernarr und sorgte dafür, dass seine Töchter zur Schule gingen; die Mutter hielt auf gute Manieren, saubere Kleider und gepflegtes Haar. Helena besuchte die Jüdische Schule im Viertel, mit sechzehn Jahren ging sie ab, so war es für Mädchen üblich. Der Vater nahm seine Erstgeborene in die Pflicht: „Weil er keinen Sohn hatte, wurde es ihm zur Gewohnheit, seine Pläne und Projekte mit mir zu besprechen.“
In Wien hatte sie tatsächlich bei Verwandten gelebt und gearbeitet, aber ein Medizinstudent mit Namen Stanislaw hatte ihr nie einen Antrag gemacht. Es stimmte, dass sie in Australien zunächst bei ihrem Onkel Bernhard untergekommen war. Bei ihrer Ankunft in Coleraine vor sechs Jahren war sie sechsundzwanzig gewesen, mithin jetzt zweiunddreißig. Sie sah aber, nicht zuletzt wegen ihrer gepflegten Haut, deutlich jünger aus. Eines indessen war wirklich wahr, und das war das Wichtigste: Sie hatte alles allein geschafft, als junge Frau ganz auf sich gestellt, als Zuwanderin aus dem fernen Polen, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld, ohne nennenswerte Unterstützung, ja sogar gegen die Pläne und Wünsche ihrer Familie. Und sie hieß nicht einmal Helena. Die Eltern Rubinstein hatten ihre älteste Tochter Chaja genannt. Den Namen Helena hatte sie sich selbst gegeben.
Krakau gehört zur Zeit von Chajas Geburt im Jahr 1870 zur kaiserlichen und königlichen Monarchie Österreich-Ungarn; die südpolnische Stadt nahe der russischen Grenze mit einer der ältesten Universitäten Europas und der tausend Jahre alten Wawel-Kathedrale auf dem Hügel war immer schon ein Zentrum der Wissenschaft, der Industrie und der Kultur. Die heimliche Hauptstadt Polens, wie sie nach der dritten Teilung des Landes bis heute genannt wird und die sie bis 1596 in der Tat gewesen ist, besteht zu dieser Zeit mit ihren rund 50.000 Einwohnern zu einem Drittel aus Juden – die bilden damit eine der größten jüdischen Gemeinden Europas. Unter den Habsburgern hat das Viertel Kazimierz, in dem die meisten Juden wohnen, seinen Ghetto-Charakter verloren, die Mauer ist gefallen, aber wegziehen möchten die meisten dann doch nicht, sie fühlen sich hier zu Hause. Chajas Geburtshaus steht in der Szerokastraße, dem Herzstück von Kazimierz. In dieser Straße mit dem charakteristischen Kopfsteinpflaster gibt es vier Synagogen, so viele wie sonst nirgends auf so engem Raum. Auch an Läden und Wochenmärkten ist kein Mangel. Die Menschen hier leben dicht an dicht, ob wohlhabend oder ärmlich, den verschiedenen Gerüchen und Geräuschen, den Gebeten und Gesängen kann niemand entkommen. Die Kazimiersker sprechen Polnisch oder Jiddisch, oft eine Mischung aus beidem, wie auch bei den Rubinsteins. Man kennt, grüßt und hilft einander, aber es gibt auch Missgunst. Und Geheimnisse. Nirgendwo existieren so viele klandestine Widerstandsnester gegen die Fremdherrschaft über Polen wie in Kazimierz. Die Familie Rubinstein zieht oft um, bleibt aber immer im Ghetto. Das also ist der Schauplatz von Chajas Jugend: ein lebendiges Viertel, in dem die Juden unter sich sind, von wo sie es aber auch nicht weit haben zum großen Marktplatz Rynek, zur Universität und zum Schloss.
Als Erste in der Geschwisterreihe ist Chaja früh schon die Stellvertreterin der Mutter, sie schlichtet Streit unter den Mädchen, bittet beim Vater um kleine Vergünstigungen und nimmt der Mutter Arbeit mit der Wäsche und in der Küche ab. „Schon als sehr junges Mädchen musste ich meiner Mutter zur Hand gehen und die lebhafte Kinderschar beaufsichtigen. Wenn du das älteste von acht Geschwistern bist, gewöhnst du dich daran, alles allein hinzukriegen, frühzeitig Verantwortung zu tragen und Tatkraft zu entwickeln.“
Sie hilft auch im Laden aus, kommt mit der Buchführung besser zurecht als der immer ein wenig zerstreute Vater. Mit einem Wort: Sie hat eine kurze Kindheit. Einmal, Chaja ist noch nicht mal fünfzehn, ist der Vater durch einen Hexenschuss ans Bett gefesselt und kann nicht nach Lemberg fahren, wo er einen wichtigen Vertrag aushandeln muss. Die Älteste bringt dem Vater das Essen ins Schlafzimmer und findet die Mutter in Tränen aufgelöst. Diese Verhandlungen in Lemberg sind unumgänglich, wenn der Vater sie nicht führen kann, wird die Familie erneut Schulden machen müssen. „Kannst du dich nicht doch aufraffen?“, bittet Gitel ihren Mann. Der stöhnt nur. Da sagt Chaja:
„Ich fahre!“
„Unmöglich.“
„Niemals!“
„Was denkst du dir bloß!“
Aber die Tochter besteht darauf, dass sie nach Lemberg fahren und den Vertrag abschließen wird. Die Eltern sehen einander an. Die Mutter seufzt. Der Vater stellt eine Vollmacht aus.
„Hör genau zu und rede nur das Nötigste“, sagt Gitel. Der Junge, der manchmal im Laden mitarbeitet, soll sie begleiten. Und so vertritt das blutjunge Fräulein Rubinstein ihren Vater in Lemberg bei einem wichtigen Termin. Sie sitzt mit den verdutzten Partnern ganz ernst und aufrecht am Tisch und erreicht all die Konditionen, die ihrem Vater wichtig sind. Dann unterschreibt sie. „Danke, meine Herren.“ Auf der Rückfahrt nach Krakau ist sie so froh wie nie. „Ich hatte einen Vorgeschmack darauf erlebt, was geschäftlicher Erfolg bedeuten kann.“
Trotz dieser frühen Verantwortung ist Chaja kein Kind von Traurigkeit. Sie nimmt gern und oft an Tanzveranstaltungen teil, geht mit Freundinnen in der Nähe der Universität spazieren und verguckt sich dort in einen gut aussehenden Studenten, der, so hört sie, Stanislaw heißt. Leider nimmt der junge Mann keine Notiz von ihr. Auf dem Tanzboden hat sie mehr Erfolg. Denn sie versteht es, sich schick anzuziehen und ihr volles schwarzes Haar so aufzutürmen, dass es sich beim Tanzen löst und effektvoll über die Schultern fällt. Die Freundinnen und die Schwestern bewundern ihren Geschmack und ihren Schönheitssinn. Die Mutter allerdings fürchtet manchmal, ihre Erstgeborene könnte aus der Art schlagen und mehr wollen als das, was in Reichweite liegt. Und zwar mit Recht. Irgendwann fühlt sich Chaja zu Hause nicht mehr wohl. Die elterliche Wohnung ist vollgestopft mit seit Generationen vererbten Möbeln, auch mit zugekauften vom Flohmarkt, viele Stile sind eklektisch miteinander vermischt. Und dann stehen und liegen auch überall antiquarische Bücher herum, die der Vater leidenschaftlich sammelt. Das gefällt Chaja immer weniger. Zu eng ist es zu Hause, zu überladen und überhaupt zu altmodisch. Sie hat ganz andere Vorstellungen davon, wie eine zeitgemäße Einrichtung aussehen müsste. Mit ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester Pauline teilt sie sich ein Zimmer und ein mächtiges Bett aus Rosenholz. Das erinnert sie an einen Katafalk, der ihr Albträume beschert; so manches Mal muss Pauline ihr die Hand halten und sie beruhigen, wenn sie nachts schweißgebadet aufschreckt. Chaja will das holzwurmverseuchte Monstrum loswerden, bevor sie darin erstickt. Und sie weiß auch schon, wie. Und was stattdessen besser passen würde.
In den Seitenstraßen rund um den Rynek hat sie in einigen Schaufenstern bereits gesehen, was ihr gefällt. Der Rynek Glowny ist der zentrale Marktplatz der Stadt. In vielen polnischen Großstädten gibt es diese rechteckigen barocken Plätze, der in Krakau gehört mit seinen vier Hektar zu den größten. Als in der Stradomstraße ein Gebrauchtmöbelladen seine Pforten öffnet, entschließt sich Chaja nach ausgedehntem Schaufensterbummel, den Laden zu betreten.
„Das sind feinste Stilmöbel. Sie brauchen gar nicht weiter zu suchen, etwas Besseres werden Sie auch in Wien nicht finden“, ist der Inhaber überzeugt.
Chaja gefallen die Sessel, die Nachttische und die Betten sehr, doch sie hat nicht das Geld dafür.
„Sie scheinen sich ja auszukennen“, schmeichelt der Händler, „wenn Sie mir Ihre alten Möbel in Zahlung geben, gewähre ich Ihnen einen Ratenkredit. Ich gebe Ihnen diesen Armsessel hier zum halben Preis und den Standspiegel noch gratis obendrauf. Was sagen Sie?“
Chaja will die Möbel unbedingt haben. Eigentlich ist sie ihrem Wesen nach eher zurückhaltend, fast scheu, sie hört lieber zu und beobachtet. Doch wenn es um Geschäfte geht, ums Kaufen und Verkaufen, ums Verhandeln, dann kommt ihr anderer Wesenszug zum Vorschein, dann ist sie stark und selbstbewusst, zielorientiert und zäh in der Sache. Wer mit ihr verhandelt, bekommt bald Respekt vor diesem nur 1,45 Meter großen Energiebündel, davon können Vaters Lemberger Geschäftsfreunde schon ein Lied singen. Jetzt steht sie da im Möbelladen und schaut dem Inhaber ernst ins Gesicht.
„Naja, schön sind die Sachen ja, aber wenn ich demnächst in Wien bin, werde ich weitere Angebote prüfen. Sollten Sie sich aber bereits jetzt für einen Preisnachlass entscheiden, könnten wir einig werden.“
Und so kommt es. Sie wird schon einen Weg finden, die Raten zu begleichen. Nun muss sie nur noch dafür sorgen, dass ihre Eltern nichts merken, wenn die neue Einrichtung geliefert und der alte Plunder entsorgt wird. Sie werden sich schon freuen, wenn die neuen Möbel erst einmal im Haus stehen und ihre Wirkung entfalten, denkt Chaja. Als Zeitpunkt für die Lieferung kommt ihr der Sabbat gerade recht. Salomon und Rebecca, Mutters Eltern, haben die ganze Familie in ihr altes Haus außerhalb von Kazimierz eingeladen. Um nicht mitgehen zu müssen, schützt Chaja eine Migräne vor. Gitel ist erstaunt, dass ihre Älteste nicht dabei sein will, immerhin ist das Kind Rebeccas Lieblingsenkelin. Gerne macht die Großmutter dem Mädchen Geschenke wie bestickte Taschentücher oder Spitzenkrägen. Da werden die Geschwister jedes Mal neidisch. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hat ihr Rebecca gar eine Perlenkette überreicht, die Chaja ein Leben lang in Ehren halten wird. Außerdem würde sie ja noch Stass verpassen, den Hausmeister der Großeltern, der täuschend echte Puppenhäuser und Miniaturmöbel baut. Chaja ist ganz vernarrt in solche Sachen, bislang hat sie noch keinen Besuch bei der Großmutter versäumt.
„Bist du sicher?“, fragt Gitel ein letztes Mal.
„Ja, ich muss mich ausruhen, ich kann nicht mit.“
„Kommt, wir sind schon spät dran, wir müssen los“, ruft der Vater dazwischen. „Wenn unsere Große unbedingt an der Matratze horchen will, soll sie doch.“
Und los geht’s, endlich ist Chaja allein.
Sie ist schon mehrmals ungeduldig ans Fenster getreten, denn jede Minute kann der Lieferwagen um die Ecke biegen. Gerade als die Kutsche mit der Mischpoke abgefahren ist, kommen die Möbel. Chaja verbringt den ganzen Tag damit, ihr Zimmer neu einzurichten. Auf das neue Bett legt sie eine Tagesdecke, die sie eigens dafür bestickt hat – wie ihre Mutter ist sie sehr geschickt in feinen Handarbeiten. Entzückt von dem Ergebnis wartet sie gespannt auf die Rückkehr der Familie. Ganz sicher werden die Eltern beeindruckt sein. Als sie am frühen Abend schließlich eintreffen und der Vater die neue Einrichtung zu Gesicht bekommt, erstarrt er.
„Das kann nicht wahr sein, meine Erstgeborene ist meschugge“, ruft er. „Vollkommen plemplem. Ein Dibbuk muss ihr den Kopf verdreht haben. Was bildest du dir ein? Unsere Möbel gegen das hier einzutauschen?! Wo hast du das her? Was denkst du dir bloß?“ Erbost läuft Hertzel zu dem Möbelhändler in der Stradomstraße und macht das Geschäft rückgängig. Für teures Geld muss er seinen Besitz zurückkaufen. Chaja versteht die Welt nicht mehr. „Niemals werde ich den Ausdruck unbändigen Zorns in seinem Gesicht vergessen, als er den Raum sah. Es war offensichtlich, dass sein Herz zu zerspringen drohte. Bis zum heutigen Tag habe ich mich nie mehr von etwas getrennt, ohne ausgiebig darüber nachzudenken und mir Rat zu holen“, erinnert sie sich später.
Gitel Rubinstein war eine elegante Dame. Sie trug eine Perücke, wie es sich für eine Frau unter orthodoxen Juden geziemte, das künstliche schwarze Haar war im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden. Peinlich genau beachtete sie Gebräuche und Traditionen, das hinderte sie jedoch nicht daran, großen Wert auf ihr Äußeres zu legen. Schönheit war ebenso wichtig wie die Reinheit der Seele, fand sie. Das war die Botschaft, die sie an ihren Nachwuchs weitergeben wollte. Abend für Abend salbte sie die Gesichter ihrer Kinder mit der Schönheitscreme ihres ungarischen Bekannten Jakob Lykusky, der sein Produkt in Apotheken und auch im Laden der Rubinsteins in Kommission gab. Es enthielt angeblich eine Mischung aus Walrat, Kräutern, Mandelmilch und der Rinde einer Konifere aus den Karpaten, niemand kannte die genaue Zusammensetzung – außer natürlich Lykusky selbst. Gitel schwor auf seine Creme. Aber auch für die Haarpflege tat sie manches. Vorm Schlafengehen wurde der dunkle Schopf jedes Mädchens mit hundert Bürstenstrichen gepflegt, wobei alle mitzählten – ein Ritual, das sehr beliebt war bei der Mutter, den Töchtern und dem Vater, der ab und an zusah. Gitel war öfter zornig auf ihren Mann, der so wenige praktische Qualitäten besaß und nie so viel verdiente, dass man ein Sümmchen hätte zurücklegen können – etwa für die Aussteuer der Mädchen. Aber sie fühlte sich gut als Mutter so vieler hübscher Sprösslinge, wenn sie auch manchmal mit Schmerzen daran denken musste, dass sie außerdem noch vier Söhne geboren hatte, die ihr aber bald wieder weggestorben waren. Nun wuchsen die Töchter heran. Sie waren lebhaft, aber brav und machten ihr wenig Sorgen. Mit einer Ausnahme: der Ältesten. Seit dem Vorfall mit den Möbeln war eine Spannung zwischen Chaja und Hertzel entstanden, die sich nicht wieder lösen wollte. Der Vater war in eine Art Alarmzustand geraten, er kannte sich mit seiner Ältesten nicht mehr aus und kontrollierte jeden ihrer Schritte. Sie würde ihm, das verlangte er, von nun an bedingungslos gehorchen. Die Stimmung im Elternhaus war getrübt und besserte sich nicht wieder. Chaja war ganz deprimiert.
„Wie lange soll das noch so gehen?“, fragte sie ihre Mutter.
„So lange, bis du verheiratet bist. Und dann wirst du deinem Mann gehorchen.“
Die Jahre verstrichen. Chaja arbeitete gern im Geschäft und half wie gewohnt ihrer Mutter, aber sie wusste auch, dass ihre Tage im Elternhaus gezählt waren. Die vorwurfsvollen Blicke der Mutter, wenn sie mal wieder einen Verehrer entmutigt hatte, die knarrende Stimme des Vaters, wenn er ihr im Laden Anweisungen gab – sie konnte all das kaum noch ertragen. Ihr war klar, wie die Eltern redeten, wenn sie miteinander allein waren. Denn sie horchte an der Tür.
„Welcher Mann will sie schon haben?“, hörte sie Gitel klagen. „Jeder weiß doch, wie aufmüpfig sie ist. Fünf Anträge hat sie schon abgelehnt, dabei ist sie über zwanzig!“
„Ohne eine großzügige Mitgift wird niemand sie nehmen wollen“, ergänzte Hertzel. „In ihrem Alter wird sie nur noch Männer finden, die von anderen Frauen abgelehnt worden sind. Fallobst. Restposten.“
Den Eltern blieb nichts übrig, als für Chaja einen Schadchen, einen gewerbsmäßigen Heiratsvermittler zu engagieren und weiterhin im Bekannten- und Verwandtenkreis nach einem Bräutigam Ausschau zu halten. Denn bevor die älteste Tochter nicht verheiratet war, konnten ihre Schwestern Pauline, Rosa, Regina, Stella, Ceska, Manka und Erna ebenfalls nicht heiraten, so wollte es der Brauch.
Chaja litt darunter, dass sie ihre Eltern enttäuschte, aber sie war nicht bereit, ihr Leben unter der Fuchtel eines Ehemannes zu verbringen, der womöglich ein Mensch wäre wie Schmuel, vom Schadchen jüngst vorbeigeschickt. Schmuel war doppelt so alt wie Chaja, dick und kahl, wie sollte sie sich zu einem zweiten Blick auf ihn durchringen – von einem Jawort ganz zu schweigen. Der einzige junge Mann, der schön genug gewesen war, um für Chaja als Ehemann in Frage zu kommen, hieß Stanislaw – und der war unerreichbar für sie. Ach, ihr war das Haus in der Szerokastraße, war Kazimierz, ja ganz Krakau schon längst zu eng geworden, und wann immer sie sich im alten Rosenholzbett vorm Einschlafen in Gedanken verlor, sah sie sich – woanders. Weit weg. Vielleicht in Wien. Oder auf einem Ozeandampfer, unterwegs zu einem fernen Kontinent. Sie wusste, die Mutter hatte Verständnis. Ihr würde sie sich anvertrauen.
Als Gitel vernahm, dass ihre Große das Haus verlassen wollte, ohne zu heiraten, war sie einerseits erleichtert, das Mädchen sein Geschick in die eigenen Hände nehmen zu sehen, andrerseits besorgt, denn sie hätte sich für Chaja nichts so innig gewünscht wie einen Gatten. Es gab aber für ehescheue Mädchen immer den Ausweg, als Haushaltshilfe oder Kinderfrau in anderen Familien unterzukommen, und wenn das nun Chajas Wunsch war, sollte es so sein. Hertzel würde sein Einverständnis verweigern, dachte sie, aber sie würde ihm zureden. Tante Rosa, die in der Nähe wohnte, hätte wohl nichts dagegen, ihre Nichte bei sich aufzunehmen. Und dann könnte sie, Gitel, endlich darangehen, sich nach einem Heiratskandidaten für Pauline umzusehen.
„Nein, Mutter, zu Tante Rosa möchte ich auf keinen Fall“, sagte Chaja. „Ich will ja gerade raus aus Krakau. Wie wäre es mit Tante Chaja Silberfeld, die in Wien lebt? Der könnte ich behilflich sein – und ich könnte Deutsch lernen! Magst du ihr nicht einen Brief schicken und sie fragen, ob sie eine Hilfe braucht?“
Gitel überlegte. „Deine Namenspatronin heißt inzwischen Splitter“, sagte sie, „Schwager Liebisch betreibt ein gut gehendes Pelzgeschäft. Ja, das wäre eine Möglichkeit. Hilfe im Geschäft ist immer willkommen. Und du, meine Große, verstehst dich ja sogar auf Buchführung. Ich setze mich gleich hin und schreibe ihr.“
Die Familiensolidarität bewährte sich. Gitels Schwester fand sich bereit, die Nichte bei sich aufzunehmen. Chaja jubelte. Mutter freute sich, und Vater musste es hinnehmen.
Das junge Fräulein Rubinstein reiste mit großem Gepäck, denn was sie da vorhatte, war keine Spritztour, sondern ein Auszug. In Wien sollte ein neues Leben für die Vierundzwanzigjährige beginnen. Sie verstaute all ihre feinen, selbst genähten Kleider in großen Reisekisten, dazu ihre Wäsche, Hüte, Stiefeletten, die Spitzenkrägen der Großmutter Rebecca und den Sonnenschirm. Insgeheim hoffte Gitel, ihre Älteste würde in der Residenzstadt endlich den richtigen Mann finden. Der Vater brummelte zum Lebewohl ein paar Worte, ohne seine Tochter anzusehen.
Der war es gleichwohl leicht ums Herz. „Ich zählte die Tage bis zu meiner Abreise“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Sie sehnte sich danach, es den Ihren und sich selbst zu beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und vorangehen konnte. Und die Tante und der Onkel waren sehr freundlich zu ihr. Sie zeigten ihr Wien, das mit seinen barocken Palästen, verwunschenen Parks und vornehmen Cafés eine so ganz andere Ausstrahlung besaß als das provinzielle Krakau. Chaja machte große Augen angesichts all dieser Pracht, aber sie hatte nicht die Absicht, sich selbst in den Cafés und Tanzbars umzutun. Die Eltern waren für ihre Reisekosten aufgekommen und hatten ihr etwas Zehrgeld für die erste Zeit mitgegeben, das hielt sie zusammen. Zuerst wollte sie Geld verdienen, dann konnte auch etwas ausgegeben werden. Und sie bat schon bald nach ihrer Ankunft, im Pelzgeschäft arbeiten zu dürfen.
Tante und Onkel staunten nicht schlecht, als sie sahen, wie sich Chaja im Laden machte. Sie wusste die Ware zu drapieren, die Kunden zu empfangen und die Kasse im Auge zu behalten. Schon bald überließ ihr der Onkel die Kundenberatung ganz, denn darin war die kleine Nichte richtig professionell. So zurückhaltend sie sonst war und so unsicher in der deutschen Sprache – wenn es darum ging, einer Dame, die sich für einen Pelz interessierte, die Ware zu erklären, sie über Herkunft und Verarbeitung zu informieren und ihr dann vielleicht einen ganz anderen Mantel als passenderen zu empfehlen, war Chaja so einfallsreich und beredt, dass einem die Ohren klingen konnten. Sie vermied es, Kundinnen etwas aufzuschwatzen, sie versuchte immer, den richtigen Pelz für die jeweilige Dame herauszufinden, sie erzeugte eine Atmosphäre der Freude an schönen Dingen, die es den Damen – aber auch Herren kauften bei Splitter Geschenke ein – erleichterte, ihre Wahl zu treffen. „Die Kleine ist eine geborene Verkäuferin“, sagte Liebisch zu seiner Frau. „Wir können Gott danken, dass sie zu uns gekommen ist.“ Chaja schrieb nach Hause, dass sie sich im Geschäft unentbehrlich gemacht habe – was der Wahrheit entsprach.
Nach zwei Jahren allerdings ging die ersprießliche Zusammenarbeit der Splitters mit ihrer Nichte zu Ende. Die Splitters entschieden sich für eine Verlegung des Geschäfts nach Antwerpen, und im dortigen Laden, auch in der vorläufigen Unterkunft, war für ihre Verwandte kein Platz. Dennoch wollten die Splitters sie gerne mitnehmen, sie überlegten hin und her, ob es wohl möglich sein könnte, sie bei der Buchführung einzusetzen, bis Chaja sagte:
„Ich danke euch für alles. Ich habe viel gelernt. Ich möchte in Antwerpen keine Last für euch sein. Tante Chaja, deine Brüder Bernhard und Louis leben in Australien. Ich habe schon oft daran gedacht, die Onkel zu besuchen und vielleicht auch – dort zu bleiben. Es heißt, dass es drüben Arbeit für alle gibt. Was meint ihr?“
Tante Chaja und Onkel Liebisch sahen einander an und dann der Nichte ins Gesicht, um rauszufinden, ob sie das ernst meinte. Sie meinte es ernst. Sie hatte schon länger darüber nachgedacht. Ihre Wanderlust hatte sich wieder geregt. Mit Macht.
„Wir werden deine Eltern fragen müssen“, sagte die Tante. „Wenn du wirklich entschlossen bist … Aber bedenke, mein Kind: Onkel Bernhard züchtet Schafe!“
„Ich weiß. Er ist Witwer und braucht bestimmt Hilfe im Haushalt. Was ich suche, versteht mich, ist das Unbekannte und die Herausforderung. So bin ich nun mal. Australien!“