Loe raamatut: «Vicky Victory»

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Barbara Sichtermann

Vicky Victory

Ein Berlin-Roman?

FUEGO

Über dieses Buch

Igor Marenge ist ein begabter, aber arbeitsloser Übersetzer, ein moderner Taugenichts und Verehrer schöner Frauen. Mit seiner Partnerin Sonja, einer Therapeutin und »professionellen Versteherin«, ist er glücklich, was ihn aber nicht von erotischen Streifzügen durch das wiedervereinigte Berlin abhält. Raffiniert fädelt er die Begegnungen mit Vicky ein, »der schönsten Kassiererin aller 672 Supermärkte Berlins«. Aber ausgerechnet sie hütet ein Geheimnis, das Igor in die größte Katastrophe seines Lebens stolpern lässt. Eine spannungsreiche, mit Erotik und Witz gespickte Geschichte.

Das Berlin der Wendezeit ist das zweite Thema des Romans - im ersten Kapitel reduziert auf ein erdachtes kontrollierbares Modell, in Wirklichkeit aber bevölkert von kurz angebundenen Natives, die auch gern einmal handgreiflich werden. Igors Freunde sind sympathische Loser, linkische Linke, mit allen Randgruppen solidarisch, die die kleinen unattraktiven Chancen auf Broterwerb durch Arbeit als solche erkennen und an sich vorüberziehen lassen. Es reicht ja, wenn man genial ist, Stütze bezieht und sich irgendwie schwarz ein paar Hunderter hinzuverdient.

Der arbeitslose Igor ist auf jeden Fall beschäftigt - mit seinen Träumereien und den Frauen.

Ein temporeich erzählter Schelmenroman über einen der jungen Männer, von denen erfolgreiche Frauen so träumen.

September 1991

1. Kapitel
Bei Gegenwind durch Pankow

Könnte ich die Stadt mit einem Blick ganz fassen, so wüsste ich den Namen des geheimnisvollen Fluidums, das ihre Adern heizt. Ein Hubschrauberflug ist mir schon vorge­schlagen worden, aber der dauert zu kurz für eine starke Intuition, auch würde mich der Lärm des Rotors fertigma­chen. Was mir vorschwebt, ist das hölzerne Totalmodell Berlins, mit jedem Haus, jedem Baum, jedem Kabelverteilerkasten, aufgebaut in einer Riesenwerkhalle, gut be­leuchtet, drehbar und mit Wasser in der Spree. Alle neuen Baustellen, Häuserabrisse und Straßenumbenennungen müssten mir sofort mitgeteilt werden, jeden Morgen brächte der Briefträger einen dicken Stapel solcher Mel­dungen. Und ich, noch im Pyjama - denn ich wohne in meinem Atelier und schlafe auf einer Matratze im Unter­grund Berlins - nehme mit dem Kaffee alle baulichen und sonstigen Veränderungen in mich auf, rufe dann Luigi, den Modellpfleger an, einen Künstler und Freund, der bald vorbeikommt und mit einem winzigen Pinsel den Fassadenanstrich der Nr. 82 in der Friedrichstraße ausbes­sert, einen Neubauklotz an die Ecke Baerwald-/Gneisenaustraße setzt und neben den Palast der Republik einen daumengroßen Kran mit einer Abrissbirne dran - während ich in meinem meterdicken Häuserverzeichnis die »Otto-Grotewohl-Straße« durch »Wilhelmstraße« ersetze und mit Luigi ein paar Sprüche über meine Mutter­stadt mache.

»So wie die Mieten schteigen«, seufzt Luigi, den Pinsel im Mund und die Friedrichstraße 82 einfühlsam schmir­gelnd, »schtrömt hier allesch ab, wasch nicht bei Kasche isch, wasch Schinn statt Knete schucht. Ich schage nur: Gomorrha! Der Bundestag hält keine Schaischon durch.« Dann pinselt er und knurrt: »Friedrichstraße 82 - meine Traumadresse!«

Was ich mir von so einem Totalmodell verspreche? Der Sache näherzukommen. Der Sache Stadt, Menschenmas­se, Lebenskessel. Im Grunde schwebt mir ein Modell vor, dass die Menschen einschließt, alle vier Millionen, jeden einzelnen. Ich weiß, so was ist nicht zu machen. Die Mo­dellmenschen wären so klein, dass man sie höchstens mit der Pinzette zu fassen kriegte, und Luigi würde sich wei­gern, täglich anzutraben, um neue Holzbabies in die Häu­ser reinzuzwängen und vom Tode aussortierte Alten­puppen zu entfernen; ich müsste den ganzen Tag mit dem Einwohnermeldeamt und der Verkehrspolizei telefonie­ren und käme vor lauter Arbeit nicht mehr zum Spielen. Ferner ließen sich Komplikationen mit dem Datenschutz nicht ausschließen, und ohne Rechenanlage wäre ich prak­tisch aufgeschmissen.

Ein Computer könnte mir dieses Wahnsinnsmodell simulieren, aber daran bin ich nicht interessiert. Denn es fehlte mir die dritte Dimension. Ohne die wird mir kein Einfall kommen; ohne Raum, in dem sie widerhallen könnte, wird keine Geisterstimme anheben, mir den Namen der Stadtenergie zu verheißen. Darum aber geht es.

Das Modell soll es mich wissen lassen: was könnte dieses millionenfache Leben in seiner Summe sein? Es soll mir seine Essenz vor Augen führen, seine letzte Potenz, seinen Inbegriff. Dafür brauche ich das hölzerne Modell mit grünen Bäumen, bunten Litfaßsäulen und roten Verkehrsschildern - und Luigi, der im September erscheint, um das Laub der Kastanien und Linden gelb und braun zu färben.

Leider besitze ich nichts dergleichen, und Luigi ist eine ausgedachte Figur. Ich lebe statt in einem tollen Atelier in einer Moabiter Kleinwohnung, deren Fenster völlig versypht sind und schlafe auf einem Vorkriegsausziehsofa. Mir bleibt nur das Modell eins zu eins, Berlin, wie es wirklich ist, und ich muss machen, dass ich mitten reinkomme. Los Igor, die Treppe runter, dawai, dawai, um sechs Uhr schließt der Supermarkt.

Nicht dass ich Joghurt kaufen wollte, Hackfleisch oder Tennis-Socken, nein, das Sonderangebot, auf das es mir im Minipreis-Markt ankommt, ist engelsblond, ungefähr einssiebzig groß, sitzt in dem Schuppen an der Kasse und heißt mit Vornamen hoffentlich Evelyn, Mary-Ann oder Jean. Vielleicht noch Nadja. Aber bitte nicht Petra! Oder Martina. Das wäre eine kleine Tragödie. Ich nenne sie für mich Loreley, ihres bedeutenden Blondhaars wegen. Mit Nachnamen heißt sie Rosinski, soviel hab ich schon spitz­gekriegt. Dieses Wissen gibt mir einen Vorteil, wenn ich heute Abend endlich das tue, was ich seit Wochen aus ver­ständlicher Bangigkeit aufschiebe: sie ansprechen, wenn sie von der Arbeit kommt, und zwar gleich richtig, mit Na­men, so dass sie stutzen muss und erstmal hinhört.

»Frau Rosinski, entschuldigen Sie, dass ich einfach so auf Sie zukomme, aber Sie haben mir gestern einen Zeh­ner zu viel rausgegeben, und da ich eine ehrliche Haut bin …«

»He, was reden Sie da, meine Kasse hat gestimmt.«

»Auch gut, dann lassen Sie uns von diesem Zehner da drüben ein Bier …«

»Sag mal, wat soll die Tour, junger Mann, halt an dich, ick habet eilich.«

»Sie haben doch jetzt Feierabend, Frau Rosinski, und nach so nem harten Tag ein Bierchen in netter Gesellschaft verdient … Hallo, warum rennen Sie weg? - Ich tu Ihnen doch nix - Frau Rosinski …!«

So wird es kommen, so oder so ähnlich. Ich werde da­stehen wie der erste Mensch, und der Wind wird mir den Zehner aus den Fingern zupfen. Aber in meinem Herzen werde ich jubeln: geschafft, geschafft, das erste Wort ist gesprochen! Da geht sie hin, die Frau Rosinski in ihrem knappen Rock, und wundert sich, woher ich ihren Namen weiß. Diese Blondine wird mit Strategie und Sturheit weichgekocht. Jeden Abend vor dem Supermarkt, bei Frost, Sturm und Hagel; der Winter kommt, und ich gebe nicht auf, da muss sie schmelzen wie der Schnee auf dem Schornstein. Ach Loreley! Warum zum Teufel kommst du jetzt nicht endlich raus?

Es ist zehn nach sechs, der Konsum-Bunker geht für einen späten Kunden von innen noch mal auf, ein Typ vom Lager macht sich wichtig als Zerberus, er reckt das Kinn beim heftigen Operieren mit dem Sicherheitsschlüs­sel. Das Licht im Laden wird auf halbe Kraft runterge­fahren, in ihren grauen Kitteln wuseln die Angestellten durch die Gänge zwischen den Regalen, Loreley ist nicht dabei, ist sicher schon hinten beim Chef, um abzurech­nen, ja, man muss noch ’ne Weile drangeben, sie zieht sich wohl noch um, vielleicht wäscht oder schminkt sie sich sogar und steckt das Haar mit Kämmen und Klemmen hinter den Ohren fest … Wie auch immer. Ich harre wie ein Fels.

Der letzte Kunde ist ein alter Herr, einer von der zierlichen Sorte mit flinkem Gang, aber der Kopf wackelt ihm schon ein bisschen: Er entfernt sich Richtung Rabenstraße, seine Minipreis-Tüte schwenkend, und kann nicht anders, der gute Mann, als mich an jenen Greis erinnern, der mir mal nahestand.

Nachdem die Mauer gefallen war und Ost und West die Schrecksekunde durchgestanden hatten und aufeinander losstürmten, da dachte ich daran, mit der S-Bahn nach Friedrichshain hinauszufahren und an seinem Grab einen Strauß Astern niederzulegen. Ich wartete, bis die Formalitäten beim Übergang ganz weggefallen waren, dann fuhr ich.

Es war ein weißlicher, rauchiger Wintertag und nicht besonders viel los um die Mittagszeit, außer dass ich das erste Mal nach sieben Jahren wieder in den Osten kam. Viel hatte sich nicht verändert, nur die ganz natürliche Verwitterung, welche die Jahre an Häusermauern, Straßenbahnen und Laternenpfählen hinterlassen, die konnte ich sehen. Und dass es gar nichts Neues gab, keine frischen Scheiben am Eckhaus neben meiner alten S-Bahn-Station, stattdessen Westklebeband entlang der Sprünge, keinen neuen Briefkasten vor dem Konsum gegenüber, stattdessen war der alte, schief hängende einfach abmontiert worden und den Pfosten hatte man stehen lassen wie ein Menetekel; kein buntes Pflaster auf den Bürgersteigen wie überall im Westen, nur Matsch oder Teer in den Löchern. So kannte ich sie, meine Hauptstadt: in ihren Hinterhöfen, ach, was sag ich, auch in ihren Vorderhäusern nie saniert, nicht mal richtig repariert, nur geflickt, gestückelt, notdürftig abgestützt, und wo man hätte mauern, schrauben und schweißen müssen, da klebte man: mit Eiweiß und Spucke.

Ich bin dort großgeworden, in der Cecilienstraße, unter der Obhut meines Opas. Er erzählte mir einst, wie sehr er gefürchtet habe, dass seine Straße, nach einer Heiligen getauft, das Schicksal so mancher Straßenschwester teilen müsste und nach einem sozialistischen Heros umbenannt würde. Aber in der zuständigen Behörde hatte man die Cecilienstraße wohl vergessen, und sie blieb, was sie war - ganz wie mein Großvater. Seine Ahnen waren einst aus Polen zugewandert, er selbst war der Urtyp des toleranten Katholiken, vor dem Krieg als Lehrer für alte Sprachen tätig und in jeder Beziehung untauglich für das sozialisti­sche Experiment an lebenden Menschen. Auch die Nazis hatten ihn nicht zu keilen vermocht, obwohl er damals ja noch jung genug gewesen wäre, um sich anzupassen. Doch nein, mein Opa blieb in seiner antiken Wunderwelt mit ihren polymorphen Göttern wohnen; es kostete ihn gerade genug Anstrengung, diese Treue mit seinem christlichen Glauben zu vereinbaren, was auch nie ganz gelang. In der DDR durfte er Lateinkurse für Archäologie-Studenten ge­ben, und wenn ich nicht selbst ein ferngelenkter Stasi-Spitzel war, so hat die »Firma« meinen antisozialistischen Großvater genauso übersehen wie der Bezirksrat die Cecilienstraße. Wahrscheinlich hat man den Dr. phil. Marenge unter »ungefährliche Sonderlinge« abgeheftet - was zu­mindest hinsichtlich des Einflusses, den der alte Herr auf seinen Enkel ausgeübt hat, ein Irrtum war.

Lange zögerte ich am Friedhofstor. An den feinen Strohduft der Winterastern erinnere ich mich noch immer. Endlich fasste ich mir ein Herz und ging auf mich selbst als ein gekrümmtes, schluchzendes Etwas zu - ich wusste, dass es mit mir dahin kommen würde, wenn ich erst mal am Grab von Joseph Marenge stand.

Dauert es über halb sieben hinaus, bis eine Supermarkt-Kassiererin ihren Arbeitsplatz verlassen hat? So'n Mäd­chen braucht doch seinen Feierabend. Was machen die mit ihr da drin? Ob der Lagerverwalter sie in der Damentoilet­te bumst? Nein, der wäre nicht ihr Typ, viel zu dusselig und aufgeblasen. Da! Dahinten geht sie doch, Mensch Igor, blinde Flasche; hinterher! Nee was, das war sie nicht, stop, Fehlanzeige. Aber dieses Trüppchen, das aus der Durchfahrt kommt, da müsste sie drunter sein, Guten Abend! - So was Blödes, wieder nichts. Die Kleine aber da, die könnte ’ne Kollegin sein, ob ich die einfach Frage? Oje, das Mädel steuert schon auf ’ne Karosse zu, steigt ein, surrt ab. Genaugenommen ist sie’s nicht gewesen, denn Loreleys Kollegin, die kleine Dunkle mit dem schiefen Rücken, die ist richtig winzig, und sie geht anders, trippelt wie ein Spatz. Mist. Entweder ist die gesamte Minipreis-Belegschaft an mir vorbeigeschoben, und ich hab’s nicht mitgekriegt, oder sie hat sich in Luft aufgelöst. Jetzt ist es zwanzig vor sieben, und der Minipreis sieht so finster und verlassen aus wie die geschlossene Tankstelle im amerikanischen Road-Movie. Brechen wir die Belagerung ab. Morgen ist auch noch ein Tag mit normalen Öffnungszeiten.

Und nun? Ohne ein Pfand, ein Wort, ein Lächeln von ihr, ohne den Funken einer Hoffnung, dass Loreley mit mir ausgehen wird, mag ich nicht heimwärts ziehen. Also gut, noch nicht in die Heinrichstraße, sondern in die Dämme­rung: in die Kögelstraße, die Sieglindenstraße, die Galvanistraße. Geschlossen stehen hier die Häuser Spalier und drohen den Unbefugten. Wie nah und unzugänglich sie sind, die schwarzen Verliese. Da leuchtet ein Fenster auf, es spreizt sich ein Schatten hinter’m Vorhang, und es er­lischt eine Treppenhausbeleuchtung - viermal synchron hinter Milchglasscheiben. Ja, da leben sie, meine Berliner, in ihren mit Ketten und Stangen gesicherten Burgen, da tun sie Dinge, von denen ich nichts wissen darf. Schon bald machen sie ihre Lampen aus und träumen Träume, die ich nie kennen werde, nicht mal, wenn das Totalmodell mit Menschen funktionieren würde. Sie zappeln als Opfer hässlicher Verstrickungen und würden staunend ihre dicken Köpfe schütteln, wenn sie wüssten, wie sehr sie mich herausfordern. Sie gähnen, kichern, trinken, telefonieren, planen Familienfeste, - Morde und andere Ausschweifun­gen, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen - und das millio­nenfach. Nicht auszudenken, und wenn ich’s bedenke, tritt mir der Schweiß auf die Stirn.

Hab schon überlegt, ob es nicht klug wäre, in eins der jetzt wieder erreichbaren brandenburgischen Weiler zu flüchten und unter Nachbarn zu leben, deren Zeitvertreib und Albträume mir bald so geläufig sein würden wie meine eigenen. Aber ich werd es nicht tun. Was käme schon dabei heraus, als die Erkenntnis, dass es sich nicht lohnt zu wis­sen, was hinter den Fenstern passiert und hinter den Stir­nen brütet. Der Reiz der großen Stadt, er ist die bloße Vorspiegelung eines Geheimnisses, das diesen Haufen Menschen und Material zusammenhält und von den trutzigen Fassaden des Häusermassivs gehütet wird wie der Schlüssel zum ewigen Leben. In Wahrheit ist gar nichts dahinter. Aber der Schein ist schön.

Auch ich falle drauf rein. Es nützt nichts, dass ich es bes­ser weiß. Ich verzehre mich nach dem Schatten dort im vier­ten Stock. Wer ist der Kerl, der hinter der Gardine auf und ab geht? Ein Sohn, der sich mit seiner Mutter zankt? Ein Vater, der sein Gör zusammenstaucht? Ein Angestellter, der in Gedanken mit seinem Chef anstößt? Oder eine Frau? Die Umrisse sind zu grob, es lässt sich nicht mehr sagen als: ein Mensch. Und diese Ungewissheit macht mich fertig.

Warum gehe ich nicht hinauf in den vierten Stock der Galvanistraße Nr. 22, klingele auf der linken Seite und stelle den Bewohner zur Rede:

»Ihre Papiere bitte. Ihren Lebenslauf, Ihre Lebenslage, Ihren Lebensplan. Glauben Sie, ich lasse mich mit Ihren Umrissen abspeisen? Ich weiß, dass Sie eine Infamie ver­bergen. Würden Sie sonst solche Schattenspiele mit mir treiben? Heraus mit der Sprache!«

Und wenn es eine Frau ist? Was werde ich ihr sagen?

»Gestatten Sie, Marenge ist meine Name, ich komme vom Statistischen Landesamt, wir machen eine Umfrage.«

»Was für eine Umfrage?«

»Uns interessiert Ihre Lebenslüge.«

»Wie bitte?«

»68 Prozent aller Stadtbewohner überwinden ihre Selbstwertkrisen nur dank einer an Größenwahn grenzen­den Selbstüberschätzung, einer riskanten Täuschung über ihre miserable Position im sozialen Wettbewerb, wobei der Alkohol …«

»Ach rutschen Sie mir doch den Buckel runter.«

Rrrums. So wird die Tür zufallen. Und wenn schon. Was ein echter Jäger ist, ein Schicksals-, Verstrickungs- und Verhängnisjäger, der lässt sich nicht aufhalten. Mit den Fäusten werde ich gegen ihre Tür trommeln, werde die Briefschlitzklappe hochdrücken und hindurchbrüllen: »Fliehen ist zwecklos! Mir entkommt keiner!«

Ob das Eindruck macht? Kaum. Die Frau geht zum Te­lefon und ruft die Polizei. Doch hab ich keine Angst vor der irdischen Gewalt. Wenn die mich schnappt, spiele ich den Idioten und sage die Wahrheit. Hauptsache, ich wirke harmlos.

»Wissen Sie, Herr Wachtmeister, ich kann nichts dage­gen tun. Ich gehe abends durch die Straßen, ich sehe, wie die Leute ihre Vorhänge zuziehen, das Licht oder den Fernseher einschalten und Schatten gegen die Gardinen werfen. Dann überkommt es mich. Ich ahne, dass sie alle von schwärzesten Kümmernissen niedergedrückt und von irrwitzigen Hoffnungen erfüllt sind, und sie tun mir leid, so leid, dass ich nicht anders kann, als hingehen und ihnen mein Mitgefühl …«

»Frau Rosinski meldet, Sie hätten sich unter dem Vor­wand, eine statistische Erhebung durchführen zu müssen, Eingang in ihre Wohnung und Informationen über ihr Pri­vatleben verschaffen wollen.«

»Würden Sie es denn nicht versuchen bei einem so at­traktiven Kind wie der Rosinski?«

»Jetzt reicht es aber, Herr Marenge, ich verhafte Sie im Namen …«

»He, was ist los, Mann, betest du im Gehen?« Teufel, die Stimme kenn ich und auch die Gestalt. Das ist doch Juni! Wo kommt der plötzlich her? Richtig, da vorne zweigt die Kögelstraße ab, wo er zuhause ist; er hat jetzt Feierabend, seine Augen funkeln. Er bleibt vor mir stehen, hakt die Daumen in den Gürtel und rollt die Schultern.

»Was treibst du hier? Hast du endlich die Kleine am Haken?« Und er streckt den Unterkiefer vor, als wolle er mich aus lauter Freude über dieses unverhoffte Treffen beißen.

»Eben nicht«, gestehe ich. »Das is det Elend.« Juni ist einer meiner besten Kumpels. Er ist Kfz-Mechaniker und Türke und heißt eigentlich anders, aber sein wahrer Name ist so schwer auszusprechen, dass sich Juni als eine Art Ber­liner Version durchgesetzt hat. Sogar seine Mutter nennt ihn so.

Ich hab nur wenige Geheimnisse vor Juni. Also weiß er auch, dass ich seit Längerem davon träume, die Kassiererin unseres Supermarkts anzusprechen und möglichst gleich danach auszuführen. Und er wünscht, über die Entwick­lung auf dem Laufenden gehalten zu werden.

»Was haste schon wieder vermasselt?« fragt er teilnahmsvoll.

»Nix. So um sechs ging ich zum ›Minipreis‹ runter und bezog Posten. Kurz nach Ladenschluss muss sie ja raus­kommen, dachte ich.«

»Logisch.«

»Schön wär’s. Sie ist gar nicht erst aufgetaucht.«

»Halt mal. Der ›Minipreis‹ Ecke Clausthaler Straße? Is doch so’n großer Klotz. Wahrscheinlich gibt’s ’n Hinteraus­gang.«

»Scheiße.«

Dabei liegt’s auf der Hand. Wenn man sich bis zur Fleischtheke vorgekämpft hat, steht man praktisch an der Darwinstraße. Und hinter der Fleischtheke gibt’s die gro­ßen Glastüren, die führen zu den Büros, und dahinter geht es raus zum Hof, wo die Waren geliefert werden. Völlig klar. Wer in diesem Laden arbeitet, betritt und verlässt ihn hinten rum. Und ich steh mir vorn am Kundeneingang die Beine in den Bauch!

Juni wiegt sein Haupt, wohlgelaunt, weil er es besser gemacht hätte, und fasst mich am Jackenknopf. Ich ärgere mich eine Spur und behaupte:

»Wenn du in die Rosinski verknallt wärst, hättest du auch vorne gewartet.«

»Was?«

»Ja, die Süße hätte dir den Kopf so verdreht, dass du gar nicht den Verstand zusammengebracht hättest, dir den La­den als Block vorzustellen … Wer auf solche Ideen kommt, ist noch nicht restlos geliefert.«

»Ach du Scheiße.«

»Wer verliebt ist, denkt nicht wie ein Häusermakler. Er hat den Kopf voller heißer Bilder …«

»So wie du, hm? Hör zu, Mann, wenn du nur halb soviel Hirnschmalz locker machen würdest, um Fehler zu ver­meiden, wie um dich rauszureden, wenn’s schiefgelaufen ist, dann würdeste nur halb so viele Fehler machen und ’n Haufen Kraft sparen, um vorher nachzudenken und noch weniger Fehler zu machen. Nettogewinn: satte zweihun­dert Prozent!«

»Spiel’n wir heute bei Bella?« frage ich versöhnlich. Er rollt die Schultern und fasst mich noch einmal am Jacken­knopf.

»Ich mach die Nacht ’ne Tour. Wie sieht’s aus - kommste mit? Wär’n Job für dich dabei.«

»Was liegt denn an?«

»Ich muss ’n Tschaika-Wrack bergen, drüben im Osten, in Niederschönhausen.«

»Tschaika?«

»’N Bonzenauto aus den Sechzigern.«

»Die gibt’s doch schon lange nicht mehr.«

»Ich sag doch: ’n Wrack.«

»Und wozu?«

»Ich renovier die Kutsche für’n Sammler. Is heiß ge­fragt.«

»Au warte.«

»Was is? Interessiert?«

»Okay.«

»Also: zehn Uhr? Ich hol dich ab.«

Er schnalzt mit der Zunge und macht mir ein Victory-Zeichen. Sein schwarzer Kopf rollt in den Nacken, als er davonschlendert. Es dämmert. Und Schwälle von Dunkel­heit stürzen manchmal nieder, als habe im Himmel je­mand den Hahn aufgedreht. So ein Schwall ergießt sich über Juni und schluckt ihn auf, noch bevor er die Ecke erreicht haben kann.

»Du musst beruflich Gestalt annehmen«, sagt Juni gern zu mir. »Das geht doch nicht so weiter.«

»Ich hab schon nen Beruf. Ich bin Jäger.«

»Du bist ein Penner, ein Niemand, du lebst auf Pump.«

»Ich jage Evelyn Rosinski, die schönste Kassiererin aller 672 Supermärkte Berlins.«

Mit Juni kann ich über alles reden, sogar über mein Berlin-Modell. Er ist ein erfinderischer Zeitgenosse mit erstaunlichen Eingebungen. Als ich ihm erklärt hatte, wozu

ich das Totalmodell brauche, stieß er einen Pfiff aus und sagte:

»Das Geheimnis von Berlin liegt nicht hinter Häuser­mauern, Igor, das liegt unterm Straßenpflaster.«

»Hä?«

»Den Baukasten kannste vergessen. Die Bausubstanz ist marode, die Leute sind beknackt. Aber der Untergrund hat’s in sich. Hätt ich ’n Wunsch frei, würd ich ’n Trichter bauen lassen in die Unterwelt … zwei, drei, fünf Meter … senkrecht in den Dreck!«

»Du würdest auf die Kanalisation stoßen, Junge, und auf die U-Bahn-Schächte.«

»Geheimgänge, Mann, unterirdische Agententunnel. Wo hatte der Senat von Berlin die Rationen für den Ernst­fall gebunkert, na? Geheime Keller, sag ich dir, Tresore mit Plänen, Gräber, Schätze. Der Kronschatz des Kaiser­reichs, der Kunstschatz des Dritten Reichs, der Gold­schatz von Troja, Millionen aus Bankeinbrüchen, Silber­barren, vergrabene Juwelen, von Juden auf der Flucht vor Hitler noch schnell unters Pflaster gedrückt oder von alten Mütterchen vor den Russen in Sicherheit gebracht - alles, alles, ist da unten angesammelt und will gehoben werden. Gib mir ’ne Schaufel, Mann, und ich mach uns beide reich!«

Juni ist ein Kumpel, der viel an andre denkt und nicht gern allein arbeitet. In seiner Werkstatt beschäftigt er ei­nen Schwager, einen Neffen und einen alten Schulfreund. Wenn ich abgebrannt bin, gehe ich zu Juni, und der kriecht unter einem silbergrauen Mercedes hervor, reckt sich, wetzt die Hände an seinem Overall und geht mit mir nach hinten ins Büro, wo die Kasse neben einem verlassenen Hundekorb in der Ecke wartet.

»Wann geht's los mit Graben, Igor?« fragte er mich gestern, und ich sagte: »Gib mir zweihundert.« Und: »Jetzt taufen sie den ganzen Osten um. Mit Otto-Grotewohl-Straße isses nix mehr, Ernst-Thälmann-Allee wird auch abgemeldet, und wie ­viele Karl-Marx-Straßen die Post verkraftet, bevor die Zustellung im Chaos versackt, das rechnen die Computer grade aus.«

Juni schlug vor, die abmontierten Straßenschilder einzusammeln, ein paar Jahre zu lagern und dann als Kunst- oder Kultgegenstände, ganz wie die Brocken der Mauer, auf Flohmärkten oder besser noch vor den Toren einer re­gulären Messe zu versilbern.

»Was kriegen wir in sieben Jahren für einmal Wilhelm-Pieck, was meinste?« fragte er. »Die Leute stecken sich so was hintern Spiegel, hier, die Fahrer von solchen Autos« - er zeigte mit dem Kopf auf den Mercedes - »sind Leute mit Humor, die nageln sich den Lenin-Platz über ihr Gästeklo.«

Während Juni sich drüber hinwegsetzt, nehme ich prak­tische Schwierigkeiten ernst. Diese Südländer und ihr Ver­trauen ins Glück!

»Wie willste das anstellen?« fragte ich. - »Warten, bis die Stadt Arbeiter schickt, die so’n Ding abschrauben und dann zugreifen?«

»Ach was, gleich jetzt im Blaumann hin und selbst den Arbeiter machen. Wir helfen mit, dass diese Stadt zusam­menwächst, wir tun ein gutes Werk. Man müsste die Stalin-Allee-Schilder ausgraben, von anno dazumal, die wür­den heute was bringen. Oder ›Walter-Ulbricht-Haus‹. Hat’s alles gegeben, lagert womöglich in irgendwelchen Kellern. Unterirdisch, das ganze Zeug. Ich sag dir, wir müs­sen diese Stadt von unten her aufrollen.«

In Junis Augen spielt das Leben auf einer Halde ver­senkter Kostbarkeiten, ob das nun Kisten mit antiken Du­blonen oder Tresore mit Formeln für des Führers Geheim­waffe sind. Seine Füße fühlen den Reichtum der Erde beim Gehen. Sie reagieren wie: Wünschelruten; dann springt der Kerl in die Höhe, stößt mich in die Seite und verlangt Kreide, um den Ort zu markieren.

Am Ende der Galvanistraße ragt ein mächtiges vierstöcki­ges Haus mit einem löwenkopfgeschmückten Portal und Balkonen samt bauchiger Brüstung aus Schmiedeeisen auf. Es atmet schwer, dieses Haus, unter schwärzlichem Rauputz, es gibt mir mit seinen glühenden Fenstern ver­stohlene Winke, Anspielungen auf das hinter ihnen sum­mende, Schatten werfende Leben, mir verborgen, aber nah und ahnbar, hiesig und jetzig. Wie komme ich dahinter, wie kriege ich es zu fassen? Ich muss hinein, muss mitten hinein.

Klingle ich im vierten Stock dieses Hauses, wo, wie ich hier auf dem Klingelschild lese, keine Rosinski wohnt, sondern ein gewisser Wille oder auch Witte, sagen wir eine Familie Witte, klingle ich also bei Wittes und erreiche es wider alle Wahrscheinlichkeit, zum Abendessen eingela­den zu werden, so bringt mich das nicht weiter. Herr Witte ist in der Verwaltung der Berliner Elektrizitäts-Werke be­schäftigt und momentan wegen eines Leberleidens zur Kur. Frau Witte ist ausgebildete Krankenschwester, länger schon als Hausfrau unterfordert, doch mit der Pflege eines Kleingartens an der Havel redlich in Anspruch genommen. Die elfjährigen Zwillinge gehen in die fünfte Klasse, spie­len Handball und züchten Lurche im Bassin. Soweit die Fassade. Dahinter die ganz normalen Geheimnisse. Vater Witte ist statt zur Kur mit der Schankhilfe seiner Stamm­kneipe auf Rügen; Mutter Witte zweigt vom Haushalts­geld seit Jahren satte Summen ab, um diese einer religiö­sen Sekte und insbesondere deren autoritativem Guru zukommen zu lassen, und die Zwillinge rauchen im Keller. Ist jemand beeindruckt? Na bitte. Das kann doch wohl die Aufregung nicht wert gewesen sein.

Ich suche etwas anderes. Das Leben hinter rauver­putzten Ziegeln, gelben Fenstern und lackschwarzen Bal­kongittern, die Schicksalsverschlingungen von Millionen, sie bilden, sublimiert zu Seufzern und Schluchzern, zu Furcht, Horror und Jubel, einen Niederschlag an Scheiben und Wänden, in den Hausfluren und auf den Treppenge­ländern, der an warmen Tagen zu einer dunklen, bröseligen Schicht trocknet, sodann durch Türen und Fenster hinaus geweht wird und, vermengt mit dem Staub der Straße, als graues Pulver durch die Luft stiebt. Das ist es: das Pulver des Lebens, des Treibens, des Wandels und Sehnens, Derivat der millionenfach hoffenden, irrenden, sich schämenden und sich vergessenden, ausspuckenden und wegguckenden Menschheit. Das möchte ich finden und untersuchen wie ein Chemiker, es als Prise zwischen zwei Fingern halten, daran riechen und es mit der Zunge kosten. Wie wird es schmecken? Salzig vermutlich oder hitzig-dumpf wie Großwäscherei. Können mir die Wittes so was bieten? Nein. Das banale Berliner Kleinbürgerleben ohne Konzentration, ohne kristalline Dichte und Härte, das ist nicht gemeint. Ich pfeife auf die Wittes, auf ihre Schatten, ihre Pelargonien und ihr vermaledeites Aquari­um. Was ich im Sinn und im Visier habe, ist nicht das Le­ben als Einzelfall, sondern als Quintessenz.

Meine Suche nach der pulverisierten Lebensfülle ist so alt wie ich selbst, Igor Marenge, ein begabter, aber arbeitsloser Übersetzer, ein junger Philosoph ohne Geld und Einfluss, doch mit einer Menge innerer Vermögenswerte. Ich ging auf diese Suche, als ich anfing zu atmen, ich glaubte, bald etwas zu finden, solange ich noch Gräser presste, Briefmar­ken sammelte, fremdländische Geldstücke in einer Keks­dose hortete und nicht wusste, was das Wort »prophylak­tisch« bedeutet. Später, als ich dieses und andere längere Wörter verstand, war ich enttäuscht, wie wenig mir das neue Wissen einbrachte, und ich arbeitete mit wachsender Skepsis an der Komplettierung meines Herbariums, mei­ner Briefmarkensammlung und meines Münzschatzes. War nicht, so schwante mir, am Ende alles umsonst, ein armse­liger Zeitvertreib ohne Hintertür in jenen Zustand der Gna­de hinein, der die Augen sehend macht für das graue Pulver und die Zunge empfindlich für sein Salz? Betrogen war ich, ein armer Idiot, der gesammelt und gepresst hatte ohne Sinn, ohne Aussicht auf die Offenbarung, die mir, ich erin­nere mich gut, bei meinem ersten Atemzug versprochen worden war. An normalen Werktagen vergesse ich das alles. Aber im September, wenn die Stadt zu früh eindunkelt, weil die Sommerzeit zu Ende ist und die Uhren eine Stun­de vorgestellt werden, kommen die Urwünsche wieder, und ich verstehe nicht, warum ich jemals einwilligen und den Anspruch auf die Quintessenz verloren geben konnte. Zugleich ist mir vollkommen bewusst, dass ich niemals an das Pulver herankommen werde, den Schnee der Stadt, das große Menschensalz. Ich werde es niemals als Prise zwischen zwei Fingern halten, es einatmen, schnupfen, auf meinem Handteller verreiben oder es mir auf die Zunge streuen. Das bleibt ein Traum, ein Irrwahn dieser Jahreszeit. Septembernächte sind dazu da, uns mensch­liche Kriechtiere mit Hybris zu vergiften, und wir halten die schütteren Platanen der Galvanistraße für Bäume der Erkenntnis, trauen ihnen alle Wunder zu und lauschen auf ihr Blätterspiel.

€5,99

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
322 lk 4 illustratsiooni
ISBN:
9783862870912
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:

Selle raamatuga loetakse