Loe raamatut: «Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17», lehekülg 3

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Ob fake news oder, fachlich gewendet, »Geschichtsklitterung«, ob gelingende Instruktion oder wirksamen Unterricht, ob historische Argumentation oder, ganz allgemein, historisches Denken – es gibt dies alles, und es wird darüber berichtet und geforscht. Aber es gibt es nur in dem Maße, wie wir mehrheitlich sagen, dass es es gibt, was wiederum bedingt, wie darüber geforscht und geschrieben wird. So bestätigte man sich um 1900 in vielerlei (meist medizinischen) Studien gegenseitig, dass Frauen zu politischem Denken nicht in der Lage seien (weshalb ihnen das Wahlrecht zu verwehren wäre), und in den bundesdeutschen 1960er-Jahren, dass »Ausländerkinder« mit Blick auf ihre »Eingliederung« (»Integration« war noch ein ziemlich unbekannter Fachbegriff) um Himmels Willen während ihrer Erziehung nichts anderes als Deutsch hören dürften.6

Reflexiv bleiben heißt daher für mich: In jeder Forschung, jeder Studie ist lieber fünf- als dreimal zu bedenken, was man jungen Lernenden mit einer »gefundenen« Forschungsfrage immer schon unterstellt; ist zu hinterfragen, was das angeblich Feste sei, von dem das Suchlicht der Erkenntnis zurückgeworfen (eben reflektiert) wird. Schränkt mich in meiner Forschungshaltung erst ein, dass es ein bestimmtes Verständnis eines Textes, z. B. in einem Schulbuch, geben muss? Oder ist es nicht doch schon, dass ich an das – durch alle Grundlagenforschung noch nie nachgewiesene – Konstrukt des »Verstehens« eines Textes an und für sich glaube? Textanalyse und Textinterpretation, Bildbeschreibung und Bildinterpretation, Sach- und Werturteil, im Übrigen ebenso historical reasoning sind, das ist bekannt, hochartifizielle szientifische Konstrukte, noch dazu mit starken, wiewohl oft genug verkannten historischen Dimensionen, die sehr wenig mit den Denkroutinen von jungen Menschen oder Menschen generell zu tun haben, wenn sie sich eine Welt um sie herum erschließen. Richten wir empirische Forschung an ihnen aus, sagen wir immer auch, dass die Verbiegung den Vorrang einnimmt gegenüber der Begradigung. Vielleicht ist es dies, was noch für alle Zeiten dafür sorgen wird, dass Erhebungen zu fachlichem Wissen und methodischen Kenntnissen im Fach Geschichte nach fünf bis acht Jahren Unterricht so erbarmungslos schlecht ausfallen wie seit Beginn ihrer Erfindung (vgl. dafür Hamann, 2017).

Zum veränderten, reflexiven Umgang mit dem Konstruktivismus in der Empirie gehört daneben die Sprache: Ein unbeteiligter Beobachter von außen könnte, hörte er Empirikerinnen und Empiriker nur reden, annehmen, er lausche einer militärischen Lagebesprechung, so wimmelt es von Ausdrücken aus dem Schlachten- und Kriegswesen, die offenbar in dieser Art von Forschung gute Dienste leisten: Da werden surveys – vom Feldherrenhügel – über Probandengruppen durchgeführt, denen in (wie Soldaten) »gezogenen« Stichproben zugesetzt wird; man geht »ins Feld«, um Schülerinnen und Schüler mit »(Frage-)Batterien« – also schnell feuernden Geschützen – zu beschießen; man geriert sich »explorativ« (also feindliches Gelände erkundend), man »interveniert«, gebraucht dazu »Instrumente« – ursprünglich die Ausrüstung der römischen Soldaten; Faktoren werden »geladen« – also schussbereit gemacht; »Quantität« und »Qualität« waren zuerst im Heerwesen gefragt (»Wie viele Kämpfer stehen zur Verfügung, und wie sind sie ausgebildet?«). Am Schluss wird, oft mit Bedauern, gesagt, die Ergebnisse (i. e. die Äußerungen, Performanzen, Leistungen der Probanden) ließen sich noch nicht »generalisieren«, also für den allumfassenden Klammerangriff (gewissermaßen mit »Generalfaktor«) anordnen. Ja, der Ausdruck »Empirie« selbst hat etwas mit dem altgriechischen Wort für das militärische »Auskundschaften« zu tun. Nun könnte man einwenden, das seien doch nur Wörter. Aber nicht nur Reinhart Koselleck, sondern viele andere gescheite Köpfe haben uns doch gelehrt: Gebrauchen wir Begriffe, schwingt in unserem dadurch stabilisierten Begreifen, wiewohl unterbewusst, immer deren Geschichte mit. Die alten Römer jedenfalls trauten ihrem Gott der Bewegung und des Wanderns, Merkur (der folgerichtig ebenso Gott der Reisenden, Migranten, Fahrenden wurde), auch das Befinden über den Wandel der Begriffe und des Gebrauchs von Wörtern zu. Sie hätten hier nicht an einen Zufall geglaubt: Empirie kann nur mit einem Denken und Methoden funktionieren, die aus Individuen Merkmalsträger machen und jene also vereinheitlichen, und man ärgert sich, wenn aus Messreihen einige Unfassbare, die sich nicht einfügen lassen, »heraushängen«, so wie Soldaten in der Nachhut einer Marschkolonne.

Sicher: Das verkennt ein wenig die qualitativen Designs, wo es in der Regel nicht um die Überprüfung von Hypothesen geht, sondern um ein Fallverstehen, eine Nachzeichnung individueller, eigensinniger, autonomer Perspektiven. Aber ehrlicherweise ist es mit solcher Autonomie nicht weit her. So wie es richtig heißt, dass Schule ist, wenn Schüler und Schülerinnen den ganzen Tag Probleme lösen, die sie, zumindest der eigenen Überzeugung nach, ohne die Lehrkräfte nicht hätten, konfrontiert auch jeder qualitativ-rekonstruierende Ansatz in der fachdidaktischen Lehr-Lern-Forschung die »Beforschten« eben mit Problemen und Fragestellungen, die nicht intrinsisch motiviert sind, von denen es jedoch zugleich heißt, sie seien für den Forschungspartner von Belang: »Du musst doch eine Haltung zum Nationalsozialismus haben«, »du musst dir eine Meinung zum transatlantischen Sklavenhandel bilden«, »du musst doch die Vorzüge der Demokratie als historisch erwiesen anerkennen«. Das ist es dann, was Wittgenstein meinte, als er sagte, wir wollten in der Untersuchung gar nichts Neues in Erfahrung bringen. Denn immer schon gehen wir davon aus, dass etwas Bekanntes und Beschreibbares da ist, wir benötigen zu dessen Erweis nur die richtigen Methoden der Spiegelung – der »Spekulation«, wie man es im Mittelalter auf Latein ausdrückte. Und im Übrigen ist ziemlich klar, was als zulässig anerkannt wird und was nicht. Oder wie viel Forschung gibt es tatsächlich darüber, was Schüler im Fach Geschichte denken oder tun, wenn sie mit der Zumutung von mit Gültigkeitsansprüchen imprägnierten Geschichten in Berührung kommen? Sind sie offensiv und draufgängerisch, oder ergeben sie sich, simulieren sie fintenreich Einverständnis oder sozial erwünschte Antworten, ducken sie sich weg oder schalten sie auf Konfrontation?

Ist empirische Lehr-Lern-Forschung also mal mehr, mal minder strenge Zurichtungsanstalt – auch wenn es einen Zweck geben mag, der manche Mittel heiligt? Das wäre nicht ganz das, weswegen wir Geisteswissenschaft, besonders Geschichte und hier vor allem historisches Lernen, veranstalten. Der Geist des Menschen lässt sich eben nicht vereinheitlichen, so wie daher auch die Wissenschaft nicht, weshalb Universitäten und eine forschende Fachdidaktik gut beraten sind, auf Diversität und Inklusion, Unabhängigkeit und Verbindlichkeit zu setzen. Und damit immer mehr und neue Reflexionsebenen einzubauen.

3Nützlich sein

Von der neuen Nützlichkeit der Geschichtsdidaktik im Konzert der Berufswissenschaften speziell, der Wissenschaften allgemein war zu Beginn bereits die Rede. Ein Aspekt, der dabei für die entscheidende Perspektivenerweiterung sorgt, kam indessen zu kurz, nämlich der, dass Fachdidaktikerinnen oder Fachdidaktiker schon de iure, meistens auch de facto von der Ausbildung her Lehrerinnen und Lehrer sind. Lehrerin und Lehrer wird oder sollte nur werden, wer von der besonderen Nützlichkeit ihres oder seines Tuns überzeugt ist (was beispielsweise nicht unbedingt für Versicherungsagenten oder Vermarkter von Fußballrechten gilt). Im Laufe der Berufsjahre wird der Nützlichkeitsgedanke gewiss Teil eines eigenen Berufsethos. Wenn daher (ehemalige) Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer geschichtsdidaktische Forschung betreiben, wird diese oft mit einer Coda geschlossen, einmal recht drastisch: Ein Befund sei »erschreckend«, »Besorgnis erregend«, »desillusionierend«, ein andermal eher dezent, nämlich dass die einen dieses oder jenes weniger tun als erwartet, dass Denken oder Handeln in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln sei, dass Ergebnisse der Forschung in die Sicherung der Unterrichtsqualität einfließen möchten.

Man kann das auch komplizierter zur Kenntnis geben:

»Das geschichtsdidaktisch profilierte Modell der Problemorientierung scheitert nicht an der Unterrichtspraxis, sondern wegen der Übersetzung in leere Bekenntnissprechakte, die durch den Erfüllungswunsch einer didaktischen Mode sinnlogisch motiviert sind.« (Mehr, 2016, 173)

Das klingt nun etwas geschraubt, zudem, was im Übereifer schnell passiert, tautologisch und widersprüchlich, denn Bekenntnisse sind immer Sprechakte und können nicht leer sein (sonst wären sie keine – gemeint sind wohl schlicht »Lippenbekenntnisse«), und Wünsche streben per definitionem nach Erfüllung; ob außerdem Moden »logisch« motiviert sein können, möchte man bezweifeln (denn sind sie nicht gerade flatterhaft bzw. unberechenbar?). Aber der hierbei korrekt zum Ausdruck gebrachte Punkt ist, dass in einer anwendungsorientierten, involvierten, »eingreifenden« (Pierre Bourdieu) Wissenschaft Einschätzungen und Evaluationen der Resultate durchaus zulässig sind. Denn sie fordern auf, über das Gute und Nützliche an der Forschung nachzudenken.

Das Nützlichkeitsparadigma ist in einer steuerfinanzierten Forschung, die sich noch dazu auf einen Anwendungsbereich bezieht, der ebenso weitgehend steuerfinanziert ist – die Bildung –, nicht ganz irrelevant. Ich bin der Meinung, sowohl die theoretische Ausrichtung des jeweiligen Fachs als auch die Lehr-Lern-Forschung in den Fachdidaktiken, mindestens den geisteswissenschaftlichen, unter das Dach der Kompetenzorientierung zu bringen, war seinerzeit und ist heute immer noch ein Programm der Nützlichwerdung. Ganz besonders galt das ab dem Augenblick, als auch die universitäre Lehre bei Studierenden Kompetenzen innerhalb von gezimmerten »Qualifikationsrahmen« fördern sollte, womit die Universität einige große Schritte von der Bildungs- zur Ausbildungsanstalt getan hat. Kompetenzorientierung und empirische Forschung passen deswegen gut zueinander, weil sich beide gegenseitig ihrer Hilfe bei der Entindividualisierung jener versichern können, zu deren Bestem die Forschung vorangetrieben wird. Probanden können, es wurde schon gesagt, instrumentell zu Merkmalsträgern verkürzt werden, auf die eingewirkt werden kann.

Der Erfolg dieses Einwirkens ist dann der letzte Nutzen der Forschung. Nicht ganz zufällig war in der unmittelbaren Nach-PISA-Zeit die Einladung der Allgemeinen Didaktik oder der Erziehungswissenschaften, die auf bisher ungekannte Art die Nähe zu den Fachdidaktiken suchten, obwohl sie doch ohne Zweifel die Avantgarde der empirischen Methodologie darstellten, mit dem geraunten Argument verbunden, so könnten die Fachdidaktiken endlich einmal ihre Brauchbarkeit unter Beweis stellen. Gleichzeitig wurden die Erziehungswissenschaften hart darauf gestoßen, dass sie mit ihrem ausgefeilten Instrumentarium (sofern sie sich freilich überhaupt dem Lehren und Lernen in der Schule zuwandten) generell etwas untersuchten, was es gar nicht gibt, nämlich »Unterricht«, denn spätestens ab der fünften Jahrgangsstufe gibt es nur noch Fachunterricht. Die damals erträumte Symbiose zwischen Erziehungswissenschaft und Fachdidaktiken hat sich, wie mir scheint, nur zum Teil realisieren lassen. Aber wir können aufgrund der nunmehr plausibel gewordenen disziplinären Aufgabenteilung (Bertram, 2016, 64) auch nicht mehr vor das Jahr 2000 zurück. Das lässt die pädagogische Forschung schon deswegen nicht zu, weil ihr dann auf ihrem ureigenen Feld nicht mehr viel zu tun bliebe: Die Daten dort sind ja alle erhoben, über ihre Deutung gibt es kaum Kontroversen, jede weitere große Feldstudie, ob durch OECD, Paritätischen Gesamtverband, Bertelsmann-Stiftung, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, kommt zu den immer selben Ergebnissen: Soziale bzw. vertikale Mobilität an deutschen Schulen gibt es kaum, Chancengleichheit für Kinder aus »bildungsfernen Elternhäusern« – was für ein monströses Wort – lässt auf sich warten. Als Errungenschaften des sozialen Aufstiegs dienen deutsche Schulen heute weniger denn je. Jugendliche aus benachteiligten Milieus liegen in ihren Lesefähigkeiten bis zu zwei Jahre hinter jenen aus privilegierten Milieus zurück. Nur noch 24 Prozent aller Heranwachsenden haben einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern, Tendenz fallend, gerade auch im Vergleich etwa zu Finnland mit 56, Frankreich mit 45, Polen mit 44 Prozent (Vitzthum, 2014). Gleichzeitig bleibt die Vorurteilsverhaftung der Lehrkräfte hartnäckig: Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird regelmäßig weniger zugetraut als solchen ohne.

Jedoch dies alles interessiert uns in der Geschichtsdidaktik nur ganz am Rande. Denn der Grund, auf dem wir stehen, ist das Fach, und aus berufsethischen Gründen müssen wir an die Lehrbarkeit der Sache unter quasi allen (schwierigen) Umständen glauben. Und zwar, weil wir in ihr, der Sache, den Nutzen von Bildung erkennen, nicht an Modellen von Unterricht, Problemlösungsschemata, Kommunikationsstrategien und auch nicht an Instrumentenentwicklung oder Methodologie.

Ich finde, die Geschichtsdidaktik hat längst den Beweis geführt, dass sie qualitative, hermeneutische ebenso wie quantifizierende Designs bzw. Erhebungs- und Auswertungsverfahren zum Nutzen der jeweils anderen – der Erziehungswissenschaften, der Pädagogischen Psychologie, der Soziologie – zu handhaben versteht. Auch deswegen kann sie sich nun wieder mehr ihrer eigenen Sache zuwenden. Was es mit dieser Sache von Narrativität und Konstruktivität der Geschichte auf sich hat, kann und will ich an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal erörtern. Aber einsichtig sollte sein, dass diese Sache werthaltig ist, und sie heißt natürlich: Sinnbildung über Zeiterfahrung. Merkwürdig, wie selten diese zentrale Bestimmung oder Zielmarkierung in Texten auftaucht, in denen das Design, der Zweck oder die Relevanz von geschichtsdidaktischen empirischen Studien erläutert werden, schon gar nicht in Titeln und Überschriften.

Dabei könnte der Rückverweis auf Sinnbildung eine erste Annäherung an den ja noch nicht formulierten dritten Schritt »zur Theorie zurück« sein. Denn dieses Zurück soll ja ganz und gar nicht heißen, dass wir zu einem Ausgangspunkt wiederkehren, sondern zu einer Idee, die durch weitere Theoriebildung und anschließende Empirie verändert wurde. Vielleicht kann man es sich so wie beim bildenden Lernen vorstellen: Im Gegensatz zum reaktiven Lernen, etwa in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, verändert das bildende Lernen nämlich nicht nur den Lernenden, sondern genauso seinen Lerngegenstand im Augenblick der lernenden Aneignung. Eine historische Erzählung, die ich gelernt habe, ist danach nicht mehr dieselbe wie zuvor, nicht für mich, nicht für die anderen Lernenden, auch nicht für den Geschichtenerzähler. Nach erfolgter empirischer Prüfung dessen, was die anderen – meist jüngeren – können, vermögen, wollen, vorschlagen, einbringen, ablehnen, belächeln, könnten wir also, uns auf die gut eingeführten Typologien verlassend, diskutieren, welchen Weg wir möglichst gemeinsam einschlagen wollen: Was und wie viel von dem, was die Alten vor uns eingerichtet haben, wollen wir traditional anerkennen, übernehmen, fortführen; woran aus der Vergangenheit nehmen wir uns in einer Gegenwart, die sich von jener meist fundamental unterscheidet, trotzdem ein Beispiel; wovon können wir uns absetzen, um es anders, möglichst besser zu machen; und wo gestehen wir uns ein, dass Geschichte in uns genetisch wirkt und wir noch viel reflexiver werden müssen, um unser Denken und darauf das Handeln zu emanzipieren? Unter diesem Dach vereinen sich eine philosophisch fundierte und empirisch erprobte historische Bildung.

Denn Theorieentwicklung nach erfolgter Empirie ist nicht reaktiv, sondern bildend. Sie reagiert nicht auf die Befunde, sondern entwirft sich selbst in einem neuen Licht der »Evidenz«, die nichts anderes ist als der Vorschlag, eine Sache, ein Problem so zu verstehen, wie man es für den Augenblick, im besten Wissen und Bewusstsein, nur vermag. Theorie in der Geschichtsdidaktik ist damit wertebildend. Werte beginnen dort, wo man seiner eigenen ideologischen Verhaftung gewahr wird. Deswegen soll der empirischen Forschung in allen Fachdidaktiken und überhaupt Wissenschaften auch nicht ihre Ideologieträchtigkeit ausgetrieben werden. Sondern Ideologien werden durch Aussprechen – das ist zugleich weniger und mehr als Kritik – in die Praxis anleitende Werte verwandelt. Wir können nicht immer nur deuten, wir müssen auch handeln! Dieses Leitbild hatte fraglos auch Hilke Günther-Arndt in einer früheren Tagungskritik im Blick, als sie mutmaßte oder bereits zu erkennen glaubte, dass sich empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik auf dem Weg zur »Traditionsbildung« befinde (Günther-Arndt, 2010). Das könnte gewiss Gutes und Schlechtes bedeuten. So lange der Diskurs aber noch nicht so »reif« ist, dass er nur noch das Ernten von Früchten erlaubt, während das Sprießen neuer Triebe nicht mehr zu erwarten ist, bleibt gedanklicher Fortschritt gewärtig. Dafür sollten wir uns jedoch von der Vorstellung lösen, dass historische Kompetenzen »die Grundlage« dafür seien, »zentrale gesellschaftliche Herausforderungen der Moderne zu meistern« (Trautwein et al., 2017, 116). Eine solche Aussage ist erstens selbst ja empirisch niemals seriös zu beweisen (oder wer wollte Kontrollgruppen dann ohne den Besitz »historischer Kompetenzen« konstruieren, die an den »zentralen Herausforderungen« unserer Zeit scheiterten?) und hängt zweitens vollkommen davon ab, was man unter »meistern« versteht: alle Ungleichheiten oder Lebensbedrohungen auf der Welt beseitigen? den einen zur Durchsetzung verhelfen und die anderen abfinden? Zukunft still stellen – da nach dem Meisterstück keine weitere Entwicklung denkbar bzw. notwendig ist? Aber was hätte das alles mit Geschichte und historischem Lernen zu tun? Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik besitzt ihren Grund wohl eher in der Annahme, dass es gut ist, zu erkunden, wie Menschen damit umgehen, wenn sie erfahren, dass sie selbst mehr sind als Gegenwärtige mit Problemen, nämlich Historische mit Antworten.

Literatur

Barricelli, Michele. (2014). Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Zum Jubiläum: Die Weisheit der Zahl und die Gründe des Erzählens. In Michael Sauer, Charlotte Bühl-Gramer, Marko Demantowsky, Anke John & Alfons Kenkmann (Hrsg.), Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit, Entwicklung, Generationendifferenz (S. 365–384). Göttingen: V&R unipress.

Barricelli, Michele & Sauer Michael. (2015). Empirische Lehr-Lern-Forschung im Fach Geschichte. In Georg Weißeno & Carla Schelle (Hrsg.), Empirische Forschung in gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken. Ergebnisse und Perspektiven (S. 185–200). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06191-3.

Bertram, Christiane. (2016). Entwicklung standardisierter Testinstrumente zur Erfassung der Wirksamkeit von Geschichtsunterricht. In Holger Thünemann & Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.), Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (S. 63–88). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Borries, Bodo von. (2004). Das Fach Geschichte im Spannungsfeld von Stoffkanon und Kompetenzentwicklung. In ders. (Hrsg.), Lebendiges Geschichtslernen (S. 138–168). Schwalbach/ Ts.: Wochenschau.

Borries, Bodo von. (2010). Beobachtungen zum Stand der empirischen Geschichtsdidaktik. In Jan Hodel & Béatrice Ziegler (Hrsg.), Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07« (S. 317–322). Bern: hep.

Günther-Arndt, Hilke. (2010). Auf dem Weg zur Traditionsbildung? Zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch« in Basel. Jan Hodel & Béatrice Ziegler (Hrsg.), Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07« (S. 317–322). Bern: hep.

Hamann, Christoph. (2017). Die »staubige Straße der Chronologie«. Ein Plädoyer für eine stärkere Subjekt- und Kompetenzorientierung des historischen Lernens. In Jens Hüttmann & Anna von Arnim-Rosenthal (Hrsg.), Diktatur und Demokratie im Unterricht. Der Fall DDR (S. 75–87). Berlin: Metropol.

Mehr, Christian. (2016). Objektive Hermeneutik und Geschichtsdidaktik. In Holger Thünemann & Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.), Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (S. 149–176). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Shemilt, Denis. (2000). The caliph’s coin. The currency of narrative framework in history teaching. In Peter N. Stearns, Peter Seixas & Sam Wineburg (Hrsg.), Knowing, teaching and learning history. National and international perspectives (S. 83–101). New York: NYU Press.

Thünemann, Holger & Zülsdorf-Kersting, Meik. (Hrsg.). (2016). Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Trautwein, Ulrich/Bertram, Christiane/Borries, Bodo von/Brauch, Nicola/Hirsch, Matthias/ Klausmeier, Kathrin/ … & Zuckowski, Andreas. (2017). Kompetenzen historischen Denkens erfassen: Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History« (HiTCH). Münster: Waxmann.

Vitzthum, Thomas. (2014, 9.9.). OECD: Deutsche Jugendliche geringer gebildet als Eltern. Die Welt. Abgerufen von www.welt.de/politik/deutschland/article132042821/Deutsche-Jugend-geringer-gebildet-als-die-Eltern.html.

Wrabel, Thomas (1998). Sprache als Grenze in Luthers theologischer Hermeneutik und Wittgensteins Sprachphilosophie. Berlin: de Gruyter.