Loe raamatut: «Chronik von Eden», lehekülg 3

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»Ja, ein Funkgerät gibt es hier. Aber ich bekomme es nicht ans Laufen. Es läuft über eine Batterie, am Strom kann es also nicht liegen. Es sei denn, die Batterie ist leer.«

»Zeig es mir mal. Vielleicht kann der Herr Dippel-Inch ja mehr, als nur Autos frisieren. Immerhin hätte ich dann was Sinnvolleres zu tun, als aus dem Fenster zu schauen und …«

Er schluckte. Draußen huschten immer mehr Schatten über die Straßen. Sandra nickte ihm zu. Sie wusste auch so, was er meinte.

*

Zwanzig Minuten später saß Frank im Klassenzimmer nebenan. Er hatte das Problem sehr schnell erkannt. Das Funkgerät, das die Einsatzkräfte hier zurückgelassen hatten, war ein tragbares Modell für den Feldeinsatz mit einer hybriden Energieversorgung. Es war auf Solarbetrieb geschaltet. Die dazugehörigen Solarpanele fehlten zwar, aber Frank hatte nur auf Batteriebetrieb umschalten müssen, um das Funkgerät zum Leben zu erwecken. Sandra hatte eine Propangasleuchte besorgt, damit sie besser sehen konnten. Langsam fuhr Frank alle Frequenzen ab. Sandra stand neben ihm. Aufgeregt hatte sie sich vorgebeugt und sah über seine Schulter. Ihr langes Haar kitzelte ihn an der Wange und er spürte ihren Atem an seinem Ohr.

Ein sehr angenehmes Gefühl.

»Hallo? Kann mich jemand hören? Ist da draußen jemand?«

Schweigen.

Rauschen im Äther.

Die nächste Frequenz, der nächste Versuch.

»Hallo? Kann mich jemand hören? Ist da draußen jemand? Wir sind in Köln-Deutz. Ist da jemand?«

»Bist du sicher, dass das Gerät auch funktioniert?«

»Ja. Ich kann keine technischen Probleme erkennen. Ich glaube, wir würden noch nicht einmal Rauschen hören wenn …«

»Hallo? Ist da jemand?«, schnitt ihm eine kindliche Stimme aus dem Lautsprecher das Wort ab. Sandra fuhr erschrocken zurück.

»Hallo«, rief Frank in das Mikrofon. »Wir sind zwei Überlebende, die sich in einer Schule in Deutz verschanzt haben. Wo sind Sie?«

Rauschen.

»Hallo?«

Leise Stimmen im Rauschen.

»Oh Gott, Frank! Sind das etwa Kinder?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hallo? Wir sind in der Kirche. Wir haben uns im Keller versteckt! Kann uns bitte jemand helfen?«, meldete sich wieder die Kinderstimme.

»Hört ihr mich?«, rief Frank in das Mikrofon.

»Ja?«

»Wo seid ihr?«

Rauschen und Kinderstimmen.

»In der Kirche Groß Sankt Martin. Wir haben uns im Keller versteckt. Der Soldat, der uns aus dem Notlager hergebracht hat, ist gebissen worden. Jetzt ist er da oben und hat noch mehr von denen geholt! Bitte helfen sie uns! Wir sind ganz alleine!«

Die Stimme gehörte eindeutig einem Kind. Einem Jungen vermutlich. Frank hatte das Gefühl, als würde ihm jemand Eiswasser den Rücken entlang gießen. Was er bisher für ein dümmliches Klischee fauler Autoren gehalten hatte, zeigte seinen wahren Kern.

»Verdammt! Frank, wir müssen etwas tun«, flüsterte Sandra neben ihm. Er nickte.

»Hör zu. Gibt es eine Tür zu dem Keller?«

»Ja«, antwortete die ängstliche Kinderstimme. »Eine dicke Holztür. Und auf unserer Seite ist ein dickes Eisengitter.«

»Okay. Ich bin Frank. Wer bist du?«

»Jonas.«

Der Junge klang, als würde er gleich losheulen.

»Du machst das sehr gut, Jonas. Wer ist noch alles bei dir?«

»Rosi, Peter, Michael und Gerhard.«

»Sind auch Erwachsene bei dir?«

»Nein. Ich bin der Älteste von uns. Ich bin dreizehn.«

»Seid ihr alle unverletzt?«

»Ja. Kommst du uns jetzt holen, Frank?«

Frank atmete tief durch und sah zu Sandra. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war so bleich, dass man sie ohne Weiteres für einen Zombie hätte halten können.

»Noch nicht, Jonas. Ihr müsst noch ein wenig aushalten. Aber vorher muss ich von euch wissen, ob die Tür abgeschlossen ist.«

»Das weiß ich nicht. Sie geht nach innen auf.«

»Sehr gut. Sind die … Anderen da draußen sehr nahe?«

»Ich weiß nicht. Hier sind zwei Keller untereinander. Wir sind ganz unten. Alle anderen Türen haben wir hinter uns zugemacht. Wir haben so eine Campingleuchte, aber die hält nicht mehr lange.«

»Das mit den Türen war sehr, sehr gut von euch, Jonas. Du musst mir jetzt ganz genau zuhören, okay?«

»Ja.«

»Habt ihr da unten Stühle oder Bänke, mit denen ihr die Tür versperren könnt?«

»Ja. Hier sind auch Regale mit alten Büchern.«

»Gut. Stapelt alles, was ihr könnt, vor der Tür. Aber seid leise, damit die da draußen euch nicht hören.«

»Und dann? Was sollen wir dann machen?«

»Seid leise. Versucht zu schlafen. Wir kommen euch holen. Dreht die Lampe soweit herunter, wie es geht, damit ihr Gas spart.«

»Wann?«

Frank rieb sich mit zitternden Fingern über das Gesicht.

»Morgen. Es geht nicht anders. Draußen ist es schon dunkel und zu gefährlich. Aber morgen werden wir euch holen kommen, okay?«

»Okay.«

Der Klang von Jonas Stimme zerriss Frank beinahe das Herz.

»Jonas?«

»Ja?«

»Hast du eine Uhr?«

»Ja.«

»Gut. Ich melde mich morgen früh um acht Uhr wieder bei dir. Bleib auf dieser Frequenz, mach das Funkgerät nicht aus. Suche den Knopf, auf dem Volume steht. Dreh den Ton leiser, damit nichts nach außen dringt.«

»Ich weiß, wie man ein Funkgerät leise stellt.«

Der trotzige Klang in Jonas Stimme ließ Frank lächeln.

»Okay. Entschuldige. Wir hören uns morgen früh, wenn wir kommen, um euch da rauszuholen.«

Die Stimme des Jungen klang fester, als er antwortete.

»Verstanden, Frank. Over und out bis morgen früh.«

»Ja. Over und out bis morgen früh.«

Frank ließ das Mikrofon sinken und sah Sandra an.

»Okay. Gehen wir davon aus, dass wir und diese Kinder wirklich die letzten lebenden Menschen in Köln sind. Ich weiß nicht, wie weit dieses Funkgerät reicht, aber bis nach Bonn auf keinen Fall. Hilfe holen ist also nicht drin.«

»Willst du wirklich da rüber?«, fragte Sandra.

»Ehrlich gesagt, nein. Aber wir können die Kids nicht ihrem Schicksal überlassen.«

»Wie willst du es machen?«

»Wir sollten zunächst die Zeit bis morgen früh nutzen, und alles zusammenpacken, was wir eventuell brauchen können. Ein paar Notrationen, etwas Wasser und deine Handgranaten. Es muss alles in zwei Rucksäcke passen, und es darf nicht zu viel sein. Wir werden nämlich zu Fuß gehen müssen.« Frank sah, wie Sandra schluckte.

»Wir haben hier keine Rucksäcke, also müssen wir uns welche basteln«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Die Kopfkissenbezüge sollten dafür reichen. Ein paar Streifen Laken als Gurte … « Sie stockte. Ihre Augen waren zu zwei glasigen Runds der Angst in ihrem bleichen Gesicht geworden. Von ihrem burschikosen Auftreten war nichts geblieben. Es war, als hätte ihr Jonas Stimme über den Äther alle Kraft geraubt. Frank stand auf und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.

»Wir können das nur gemeinsam schaffen.«

»Ich weiß. Aber ich habe eine Scheißangst.«

»Frag mich mal. Ich glaube kaum, dass du jetzt meine Unterhose sehen möchtest.«

*

Er lauerte.

So wie er es schon einmal getan hatte, nachdem er aus einem dunklen Schlaf erwacht war.

Doch diesmal war es anders.

Als er erwachte, hatte er nichts gewusst. Einzig das vage Gefühl einer Aufgabe war in ihm gewesen. Er musste wachen. Über was oder wen war zu abstrakt für ihn. Sein Kopf war zu schwer gewesen, um sich damit zu befassen, und in seinem Inneren hatte ein schrecklicher Hunger gewütet, was das Denken noch viel schwerer gemacht hatte. Aber da er nicht wusste, wie er den Hunger bezwingen sollte, war er dort geblieben wo er erwacht war, hatte beobachtet, gewacht und in das helle Leuchten geblickt, das so schön, und gleichzeitig so gefährlich war, weil es ihm alle Kraft aus dem Körper sog. Wenn das helle Leuchten verschwand, ging es ihm besser. Aber es kam immer wieder.

Dann war irgendwann in dem hellen Leuchten etwas Schnelles erschienen, das noch heller strahlte. Neugierig hatte er das glitzernde Ding beobachtet, als etwas geschah, das ihn vollkommen verwirrt hatte.

Etwas war aus dem glitzernden Ding heraus gekommen, etwas das warm und rot geleuchtet hatte! Etwas, das seinen Hunger ins schier Unermessliche steigen ließ. Er hatte das warme Rote beobachtet, das auf ihn zukam. Aber dann war es plötzlich verschwunden gewesen. Einfach unter ihm hinweg in dem verschwunden, dass er bewachen sollte?

Oh, das war ein guter Moment gewesen! Er würde seine Aufgabe erfüllen, und gleichzeitig seinen Hunger stillen können! Aber das helle Leuchten hatte ihm das Sehen schwer gemacht. Warum war das warme Rote nicht im Dunkeln gekommen?

Dann hatte er etwas gehört. Es war hinter ihm gewesen. Auf steifen Beinen hatte er sich umgewandt, war durch einen Irrgarten gewandert, der sich plötzlich vor ihm ausbreitete.

Das sollte er also bewachen?

Gut.

Das war sehr gut, denn in dem Irrgarten war es dunkler, und er konnte sich viel besser zurechtfinden, als im hellen Leuchten. Das warme Rote hatte einen unwiderstehlichen Duft verbreitet, dem er gefolgt war. Dann hatte er es gesehen. Es war so nah, sein Hunger war so groß … Aber das warme Rote hatte sich gewehrt, ihn in einen tiefen Abgrund gestoßen.

Und in diesem Moment war etwas Merkwürdiges geschehen.

Ein neues Gefühl war in ihm erwacht.

Etwas Heißes und Dunkles.

Angetrieben von diesem Gefühl hatte er sich an den Aufstieg aus dem Abgrund gemacht. Als er es geschafft hatte, war das warme Rote weg. Aber das dunkle, heiße Gefühl war noch da, verstärkte seinen Hunger, bohrte und nagte an ihm.

Also hatte er einen Ausweg aus dem Irrgarten gesucht. Es gab Wichtigeres, als zu wachen. Nach einer nicht messbaren Zeitspanne stellte er fest, dass der Irrgarten Wände hatte, die sich öffnen ließen. Es war kompliziert, denn seine Hände fühlten sich wie zwei Ballons an, aus denen geschwollene Würste ragten.

Ballons?

Würste?

Zwei merkwürdige Begriffe, die da durch sein Denken wehten. Sie erschienen ihm passend, weckten aber auch eine unbestimmbare Sehnsucht. Ein Gefühl, als wäre ihm durch den tiefen Schlaf etwas verloren gegangen. Sein Hunger wurde wilder, das Dunkle und Heiße in ihm verzehrte ihn beinahe, und so hatte er die abstrakte Frage nach diesen Begriffen und ihrer Bedeutung verdrängt.

Er musste raus!

Dann kam er an eine dieser Wände, die sich öffnen ließen, und er war in das helle Leuchten hinaus getreten. Dort hatte er andere gefunden, die so wie er waren.

Interessant!

Waren sie auch auf der Suche nach dem warmen Roten? Er war ihnen gefolgt. Wenn das helle Leuchten kam, versteckten er sich mit den anderen in den dunklen Eingängen der Häuser neben ihrem Weg.

Häuser? War er ein Häuserwächter? Die Worte waren wie verschwommene Bilder durch sein Denken geweht. Ohne echten Bezug oder Bedeutung. Sie waren gleichgültig, obwohl auch sie diese ferne Sehnsucht nach der Zeit vor dem Erwachen in ihm weckten. Wenn es dunkel wurde wanderten sie weiter.

Hell und Dunkel wechselten sich ab.

Immer und immer wieder.

Dann hatte er es gesehen!

Das glitzernde Ding!

Auto, war es durch sein Denken geschossen. Das glitzernde Ding war ein Auto.

Und wieder war das warme Rote aus dem Auto ausgestiegen. Er war den anderen gefolgt, die darauf zustürmten. Hatten sie auch so einen Hunger?

Plötzlich stieg das warme Rote wieder in das Auto, und dann war ein wundervolles Geräusch erklungen. Stimmen, die dem Gesang von Engeln glichen. Gesang und Engel waren auch wieder solche abstrakte Dinge, die er nicht fassen konnte. Aber das, was er da hörte, ließ ihn seinen Hunger vergessen. Die Sehnsucht nach der Zeit vor dem Erwachen war wieder da, viel schlimmer an ihm nagend als jemals zuvor, aber zugleich auch so schön und friedlich.

Dann verstummte der Gesang, der Hunger kam zurück … und er stand vor dem Auto. Würde das warme Rote zurückkehren?

Wahrscheinlich.

Eine diffuse Ahnung war da in ihm, dass man immer zu seinem Auto zurückkehrte. Also würde das warme Rote bestimmt wiederkommen. Aber er musste vorsichtig sein, denn sonst würde er es verscheuchen, wenn er endlich seinen schrecklichen Hunger stillen wollte! Also hatte er sich in das Dunkel eines Hauses zurückgezogen.

Und hier stand er jetzt.

Lauernd.

Wachend.

Hungernd.

Das warme Rote würde zurückkehren.

Und dann würde er endlich seinen Hunger stillen können.

Kapitel V - Der lange Weg

Frank legte nach dem Funkgespräch eine nahezu unmenschliche Aktivität an den Tag. Im Licht der Propangaslampe schrieb er auf die Tafel des ehemaligen Klassenzimmers eine Liste mit all den Dingen, die sie dringend benötigten. Zu jeder einzelnen Position ermittelte er das geschätzte Gewicht und den Platzbedarf. Danach teilten sie gemeinsam die Ausrüstungsstücke in zwei Haufen, um abschätzen zu können, wie groß und stabil ihre improvisierten Rucksäcke sein mussten. Zwei Kopfkissenbezüge reichten tatsächlich aus, um alles auf zwei Personen zu verteilen, und ihnen trotz der Belastung noch ausreichend Bewegungsfreiheit zu gewähren.

Frank und Sandra zogen gerade die Bezüge zweier Kopfkissen ab, als von unten ein dumpfes Pochen durch die Schule hallte. Starr vor Schreck hielten die beiden inne, lauschten auf den Lärm, warteten darauf, dass die Tür mit einem Knall zufallen und schlurfende Schritte die Treppen heraufkommen würden. Sandra schoss ein Bild aus ihrer Kindheit durch den Kopf. Nur mit Mühe konnte sie ein Zittern und Tränen zurückhalten.

Das Monster kommt! Er hat wieder seinen Lohnstreifen versoffen und eine Stinkwut auf alles und jeden. Ob Mama jetzt auch in ihrem Bett liegt und Angst hat?

Ihre Finger verkrampften sich um das lange Fleischmesser, das sie als einzige Waffe auf ihrer Flucht hatte retten können. Es war wie ein Anker, der sie in die Realität zurückholen konnte. Nicht, dass die besonders schön war, aber immerhin würde es nicht ihr Vater sein, der da unten versuchte einzudringen. An diesem Gedanken hielt sie sich fest.

Das da unten war nicht ihr Vater, konnte es nicht sein, denn er war kurz vor dem Ausbruch der Seuche mit einer Leber ins Krankenhaus gegangen, die fester und dichter gewesen war, als ein alter Wackerstein. Hoffentlich hatte ihm der Krebs große Schmerzen bereitet.

Sandra hasste sich für diesen boshaften Gedanken.

Das Pochen verstummte nach einer Weile. Sie sah Frank an, dessen Gesicht wie ein bleicher Ballon im schwachen Licht der Propangaslampe über seinem bunten Rennanzug schwebte. Sie warteten noch einen Moment, dann machten sie sich schweigend wieder an die Arbeit.

Sandra schnitt mit ihrem Messer ein Laken in lange Streifen, verwob jeweils zwei dieser Streifen zu einem Gurt und führte diese durch zwei Löcher in den Bezügen. Bequem waren die Rucksäcke nicht, aber sie erfüllten ihren Zweck. Vielleicht würden sie auf ihrem Weg ja die Möglichkeit bekommen, sie gegen echte auszutauschen.

Dann setzte sie sich auf eines der Betten, lehnte sich an die Wand am Kopfende, und sah Frank dabei zu, wie er auf der Tafel eine grobe Skizze ihres Weges zeichnete.

Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

*

Er wartete in der Dunkelheit.

Reglos.

Selbst als von irgendwoher ein dumpfes Geräusch durch das Dunkel hallte, blickte er nur mäßig interessiert in die ungefähre Richtung. Die anderen flüchteten sich in sinnlose Aktivität, huschten durch die Dunkelheit, klopften hier, stöhnten dort … sie nervten ihn.

Ein interessantes Gefühl.

Nerven.

Was war das?

Er lauschte in sich hinein, und begutachtete die abstrakten Begriffe wie Auto, Ballon, Würstchen und genervt sein. Das schienen Dinge zu sein, die für ihn vor dem großen Schlaf von einiger Bedeutung gewesen sein mussten. Dabei fielen die drei Begriffe genervt sein, Ballon und Würstchen immer in einen Zusammenhang mit einem Bild von einem kleineren, warmen Roten, das ihn umarmte.

Während er da stand und wartete, versuchte er, dieses Bild irgendwie besser zu verstehen. Immer wenn das kleine, warme Rote in seinem Bewusstsein auftauchte, glaubte er zudem eine Stimme zu hören, was ihn enorm verwirrte.

Nochmal, Papa. Bittebittebitte nochmal, Papa.

Das Gefühl genervt zu sein vermischte sich in diesen Momenten mit einem anderen Gefühl, das ihn den bohrenden Hunger in seinem Inneren vergessen ließ.

Liebe?

Was war Liebe?

Papa?

War das sein Name?

Mit diesem verwirrenden Gefühl kam zugleich auch Stolz in ihm hoch. Stolz und Trauer vermischten sich miteinander auf verwirrende Weise, und das diffuse Bild seines Autos schob sich immer wieder vor sein geistiges Auge.

Seines Autos?

Hatte er vor dem großen Schlaf auch ein Auto gehabt?

Wenn er das Bild seines Autos in sein Bewusstsein hervorholte, so wurde das Gefühl der Trauer in ihm so stark, dass er sogar laut aufstöhnte, was ihn aus seinen Gedanken wieder zurückholte. Sein Blick klärte sich. Einer der anderen war an das Auto gekommen und trommelte darauf herum. Das dunkle Heiße schoss mit aller Wucht in ihm hoch. Er ging auf den anderen zu, packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn zur Seite.

Niemand durfte das Auto anfassen!

*

Der Andere blickte ihm mit dumpfer Verständnislosigkeit ins Gesicht, bevor er aufstand und seines Weges ging. Zufrieden zog er sich zurück in sein Versteck.

Die angenehme Dunkelheit hüllte ihn und seine Gedanken wieder ein. Das dunkle Heiße in ihm zog sich zurück, loderte aber weiter im Untergrund seines Seins.

Wachsam, so wie er.

Und er dachte von sich selber ab jetzt als Papa.

Irgendwie ein gutes Gefühl, egal wie abstrakt es auch sein mochte.

*

Sandra erwachte aus einem kurzen und unruhigen Schlaf. Orientierungslos blickte sie sich um. Dann sah sie Frank an einem der Fenster stehen und in die Morgendämmerung hinausblicken. Die Sonne färbte einen breiten Streifen des Himmels in ein rötliches Glühen. Keine Wolke war zu sehen. Der Prolog des nahenden Tages versprach wunderbares Wetter.

Helles Wetter.

Sandra war froh darüber.

Die da draußen mochten es nicht, wenn es zu hell war.

Dieser Gedanke rief ihr ins Gedächtnis, was sie heute vor hatten. Ihr Blick fiel auf die improvisierten Rucksäcke und die Wegskizze an der Tafel. Sie hatten alles getan, um ihre kleine Rettungsexpedition so sicher wie möglich zu gestalten. Frank drehte sich um und lächelte sie an.

»Morgen. Kaffee? Ist aber leider nur löslicher, und warm ist er auch nicht mehr.«

»Danke, ja. Wie spät ist es?«

»Kurz vor acht.«

»Hast du schon was von den Kindern gehört?«

»Nein. Und auch sonst herrscht im Äther Funkstille. Wir scheinen wirklich die Letzten zu sein.«

Sandra sah etwas in Franks Augen. Etwas, dass sie beunruhigte.

»Was hast du?«

»Bitte?«

»Du wirkst plötzlich so … anders. Irgendwie gedämpfter als noch vor ein paar Stunden, wo du beinahe vor Aktivität explodiert bist.«

Frank wandte sich wieder um. Sein Blick glitt aus dem Fenster, wo sich die schattenhaften Umrisse Kölns scharf gegen den heller werdenden Horizont abhoben.

»Das Ganze ist Wahnsinn. Und das weißt du auch.«

»Willst du einen Rückzieher machen?«

»Nein. Das kann ich nicht. Frag mich nicht warum, aber es geht einfach nicht.«

»Du hast Angst.«

»Ja. Auch. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist. Es ist, als würde da draußen etwas auf mich warten.«

»Was meinst du?«

Frank seufzte. Langsam drehte er sich wieder um. Sandra zuckte erschrocken zusammen, denn in dem dämmerigen Licht glich er eher einem der Untoten, die draußen die Straßen bevölkerten. Nur dass aus seinen Augen Intelligenz blitzte.

Intelligenz und … Selbstaufgabe?

Sandra schluckte. Frank wirkte in diesem Moment, als sei er einer dieser Selbstmordattentäter, die sich mit einem Gürtel voller Sprengstoff um den Bauch in eine Menschenmenge stürzten. Schweigend zuckte Frank mit den Schultern. Er konnte sein Empfinden offenbar nicht in Worte fassen.

»Bist du sicher, dass wir das auch wirklich wagen sollen?«, fragte sie.

»Ja. Mach dich in Ruhe fertig und iss was. Es wird ein langer Weg.«

Sandra sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Das Wasser lief nicht mehr, weil es keinen Strom mehr für die Pumpen im Keller der Schule gab. Also hatte sie wieder nur eine Katzenwäsche mit einer kleinen Wasserflasche aus dem Trinkwasservorrat der abgezogenen Einsatzkräfte und einer Handvoll Seife aus dem Spender absolviert. Über den Flur hallte Franks Stimme, der mit Jonas wie vereinbart über Funk in Kontakt stand.

Sie sah furchtbar aus, fand sie, selbst in der dämmerigen Beleuchtung der Propangaslampe. Ungeschminkt, die Haare strähnig, und trotz aller Bemühungen roch sie wie ein Mufflon in der Brunftzeit.

Aber sie lebte.

Auch ohne all die angenehmen Dinge, die sie in einer immer schneller werdenden Konsumgesellschaft so dringend benötigt hatte, um sich selber gut und wichtig und funktionierend zu fühlen.

Keine Handys, keine Kriege, keine neuen Diäten, damit frau sich im kommenden Herbst auch weiterhin in das kleine Schwarze zwängen konnte. Lippenstifte, Haarpflegekuren und Deos waren in dieser neuen Welt ebenso unwichtig geworden, wie die aktuellsten Aktienkurse, hohle Politikerfloskeln über wachsende oder sinkende Arbeitslosenzahlen im Angesicht eines wirtschaftlichen Ab- oder Aufschwungs; und die Frage, ob sie sich lieber ein sündhaft teures Paar Schuhe kaufen sollte, wenn es ein anderes Paar zu einem wesentlich günstigeren Preis doch auch tat, hatte sich ebenfalls mit einem Schlag erledigt.

Erstaunt schüttelte sie den Kopf.

Das Leben war einfacher und komplizierter zugleich geworden. Die Katastrophe hatte die wirklich wichtigen Dinge des Lebens wieder in die richtige Perspektive gerückt, die Prioritätenliste einer von sich selbst und ihren Errungenschaften gelangweilten Menschheit einer brutalen Neustrukturierung unterzogen.

Wie hatte Frank letzte Nacht so launig angemerkt?

Die Menschheit hatte auf einem dahinrasenden Laufband gestanden und war im Begriff gewesen, sich selber zu überholen, als der alte Mann da oben das Band abrupt zum Stehen gebracht hatte.

Und das spürte man.

Die Luft über Köln hatte früher immer einer Käseglocke aus Abgasen geglichen. Die Stimmen der Vögel waren unter dem Lärm unzähliger Autos, Busse und Menschen nicht mehr zu hören gewesen, und das Tosen des Kreislaufs der Zivilisation war für sie zu einem alltäglichen Hintergrundrauschen geworden. Jetzt, nach … wie lange war es her, dass die Menschheit vor die Hunde gegangen war? Zwei oder drei Monate? Schon nach dieser kurzen Zeit sangen die Vögel wieder ihre morgendlichen Begrüßungen in den Sonnenaufgang, der Himmel war klarer, selbst wenn es regnete und die Stille, die sie anfangs noch teilweise wie ein wildes Tier angesprungen hatte, war zu einem willkommenen Freund geworden, den sie jeden Tag aufs Neue begrüßte.

Ja, das Leben war für Sandra einfacher geworden.

Lebenswerter trotz, oder gerade wegen, des täglichen Kampfes ums Überleben, den die Meisten nicht geschafft hatten. Sie begann wieder, die kleinen Dinge schätzen zu lernen, die ihr den Tag versüßten.

Schritte erklangen im Hausflur. Sandra drehte sich mit einem Lächeln um. Frank stand in der Tür. Sein Blick war wach und konzentriert, aber nicht mehr so schicksalsergeben, wie noch vor knapp einer Stunde.

»Bist du soweit?«

»Noch vor wenigen Wochen hätte ich dich entweder aus dem Bad geworfen, oder dir mit unmissverständlichen Worten klar gemacht, dass eine Frau erst dann fertig ist, wenn sie eben fertig ist.«

Frank lächelte, runzelte aber gleichzeitig die Stirn. Es sah lachhaft aus, wie er versuchte klug, und nicht allzu verwirrt auszusehen.

»Wie meinen?«

»Du wirst mich so zu unserem Ausflug ausführen müssen, wie ich jetzt hier vor dir stehe.«

Verstehen dämmerte in Franks Gesicht, und er grinste wie ein kleiner Junge.

»Sandra, du siehst umwerfend aus. Es erfüllt mich mit Stolz, eine so schöne Frau an meiner Seite wissen zu dürfen.«

»Schleimer.«

Frank zwinkerte ihr zu. Dann wurde er ernst. Der ungezwungene Moment ihrer Witzeleien verflog wie das Licht eines Sonnenstrahls, der hinter einer Wolke verschwand.

»Wir sollten uns beeilen. Jonas und die anderen Kinder halten nicht mehr lange aus. Wenn wir es schaffen, sollten wir auch eine Apotheke suchen. Wir brauchen dringend ein paar Aspirin, Antibiotika und Verbandszeug.«

Sandras Lächeln erstarb auf ihrem Gesicht. Sie spürte, wie die Notwendigkeiten ihres neuen Lebens dicken Hagelkörnern gleich auf sie einprasselten.

Medikamente.

Ja.

Ärzte gab es wohl keine mehr. Sie mussten sich ab sofort selber versorgen können. Ein Kratzer konnte schon zu einer Blutvergiftung führen, die wiederum zum Tod … der anschließend zu noch viel Schlimmerem führte. Sie nickte.

»Dann lass es uns hinter uns bringen.«

Er, der sich selber jetzt als Papa empfand, wartete immer noch. Das helle Leuchten kehrte allmählich wieder zurück, aber von dem warmen Roten war nichts zu sehen. Hatte er es verpasst? Hatten ihn seine Instinkte getäuscht? Einer von den anderen wankte durch das helle Leuchten. Papa spürte, wie der bohrende Hunger in ihm immer stärker wurde. In dem hellen Leuchten versickerte allmählich seine Kraft.

Ein lautes Pochen holte ihn zurück aus der Starre, die ihn befallen wollte. Einer von den anderen klopfte schon wieder auf seinem Auto herum. Es war derselbe, den er schon im Dunkeln vertrieben hatte? So würde das warme Rote niemals zurückkehren!

Mit einem tiefen Knurren trat Papa aus dem Schatten. Das heiße Dunkle brannte fast genauso stark wie der Hunger in seinem Inneren. Er packte den anderen, riss ihn so schnell herum, dass ihn eine Hand des Anderen am Kopf traf … und das heiße Dunkle in ihm brach sich endgültig Bahn! Mit ungeschickten Händen schlug Papa zu, trieb den anderen vor sich her, der überrascht über diese Attacke rückwärts taumelte. Die anderen blickten mit stumpfer Neugier auf die beiden, aber Papa bemerkte es kaum, so tief war der Rausch, in den ihn das heiße Dunkle trieb. Immer und immer wieder hieb er mit seinen tumben Händen auf den anderen ein, der einfach nicht stillhalten wollte. Dann bekam er ihn zu fassen. Aus einem Reflex biss Papa zu, trieb mit aller Gewalt seine Zähne in den Hals des anderen, riss voll dunkler Wut ein Stück heraus … und erstarrte.

Er konnte es essen?

Verblüfft über diese Erkenntnis schluckte er den Bissen herunter. Der Hunger wurde stiller. Nicht viel, aber doch spürbar, und seine Kräfte kehrten zurück, wenn auch nicht so stark und schnell, wie es das warme Rote versprach. Der andere blickte immer noch verständnislos auf Papa.

Kraft! Papa brauchte Kraft, wenn er das warme Rote erlegen wollte. Und der andere würde sie ihm geben. Mit gefletschten Zähnen beugte Papa sich vor und biss erneut zu.

Frank und Sandra standen am Haupteingang der Schule. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Frank die Maschinenpistole und Sandra die Dienstwaffe des toten Polizisten nehmen sollte, die er vor einer gefühlten Ewigkeit erbeutet hatte. Die Handgranaten hatte Frank ebenfalls in einer kleineren Version ihrer behelfsmäßigen Rucksäcke dabei. Frank zögerte an der Tür. Irgendetwas hatte er bei seiner schnellen Planung gestern Nacht übersehen.

Aber was?

Notrationen, Wasser, Waffen … sie waren den Umständen entsprechend gut ausgerüstet, auf alle Eventualitäten vorbereitet … Oder doch nicht?

Hatte er etwas übersehen?

Er schüttelte den Kopf, sah noch einmal durch die Glastür so gut es ging die Straße entlang, dann drückte er sie vorsichtig auf und trat einen halben Schritt ins Freie. Die Straße sah verlassen aus. Kein Zombie ließ sich blicken. Er sah seinen Wagen. Den würden sie stehen lassen müssen, denn es gab keinen freien Weg über die Severinsbrücke. Es war fraglich, ob sie bei einer anderen Rheinbrücke mehr Glück hätten. Eine entsprechende Suche würde Zeit kosten. Mehr, als sie zur Verfügung hatten, wenn sie Jonas und die anderen Kinder wirklich retten wollten. Hinter ihm drückte Sandra die Tür auf und Frank trat vollends auf den Bürgersteig.

Verwundert runzelte er die Stirn.

Am Ende der leicht gebogen verlaufenden Straße, dort wo die Kreuzung die Auffahrt zur Severinsbrücke bildete und ziemlich nah an seinem Wagen, herrschte ein Tumult unter den Zombies. Es sah aus, als würden sie über jemanden herfallen. Sandra trat neben ihn.

»Was ist da los?«, flüsterte sie. »Haben die etwa einen Überlebenden erwischt?«

»Ich weiß es nicht. Und wenn, dann können wir sowieso nicht mehr helfen.« Frank kniff die Augen zusammen und beugte sich leicht vor. »Lass uns abhauen bevor …«

Frank wich erschrocken zurück und rempelte beinahe Sandra an. Aus der tobenden Menge der Zombies war ein Kopf erschienen, den er erkannte. Ein Kopf mit einem Hausmeisterhut, ein Oberkörper in einem blaugrauen Kittel.

»Scheiße!«, fiel es ihm wie ein Stück verdorbenes Obst aus dem Mund. »Den kenne ich.«

»Bitte?«

Frank drehte sich zu Sandra um. Er sah Erschrecken in ihrem Blick, das viel tiefer ging, als er es für möglich gehalten hätte.

»Ich habe dieses Ding da vor mehr als einer Woche ein Treppenhaus hinuntergeworfen!«

Der Zombie im Hausmeisterkittel sah die Straße hinunter. Irgendwas hing aus seinem Mundwinkel. Er wirkte wie ein Scharfschütze, der gerade ein besonders lohnendes Ziel ins Visier nahm. Langsam trennte er sich von dem Knäuel der Ghoule und kam die Straße entlang auf Frank und Sandra zu. Aber wo er eigentlich hilflos wanken und torkeln sollte, zeigten seine Schritte eine ungewöhnliche Sicherheit. Sandra schüttelte den Kopf, hob die Pistole und legte an. Frank bemerkte statt Angst einen heißen Zorn in ihrem Blick und ihrer Haltung. Es war beinahe, als hätte sie mit diesem Untoten eine persönliche Rechnung zu begleichen.

»Jetzt bist du endlich fällig«, murmelte sie. Frank hob zu einer Frage an, Sandra drückte ab … Ein trockenes Klicken erklang anstelle des erwarteten Knalls!