Loe raamatut: «Chronik von Eden», lehekülg 5

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Kapitel VII - Der dunkle Mann

In dem Keller der Kirche war es dunkel. Jonas hatte das Licht der Propangaslampe soweit wie möglich heruntergedreht und nur ein schwacher Schimmer, nicht mehr als ein Feuerzeug vielleicht hergeben mochte, erhellte ihren Zufluchtsort, ließ die Schatten in den Ecken tanzen. Sie brauchten nicht mehr Licht. Wo sollten sie auch hingehen, was sollten sie auch sehen? Der Kellerraum der Kirche war eine Rumpelkammer, in der alles Mögliche lagerte, was nicht unbedingt gebraucht wurde, aber auch zu schade zum Wegwerfen gewesen war.

Jonas stand in der Mitte des Raumes und sah sich um. Die anderen schliefen. Er sah in dem schwachen Licht Rosi und Peter, die beiden Geschwister. Sie lagen nahe der hintersten Ecke des Raumes, neben einem alten Holzregal. Eng umklammert schliefen sie. Michael und Gerhard schliefen im Sitzen. Sie hatten sich an die Seite der nach oben führenden Steintreppe gelehnt. Jonas lauschte in die Stille. So, wie es nur einer konnte, der so war wie er. Oder Rosi. Oder Gerhard. So wie sie alle waren.

SIE waren noch da.

SIE waren noch da oben.

Er hörte IHR Knirschen und wusste zugleich, dass es sonst niemand hören konnte, der nicht so wie er war.

SIE genossen das Dämmerlicht in der Kirche, weil ihnen das Tageslicht die Kraft nahm.

Jonas seufzte.

Hoffentlich kam Frank bald. Und hoffentlich würde er sich vorher nochmal bei ihm melden, damit er ihn warnen konnte.

Mit einem weiteren Seufzen setzte Jonas sich auf den Boden und hielt das Funkgerät umklammert.

Ein Anker in der Dunkelheit, der Angst und der Ungewissheit.

*

Stark fuhr mit Frank und Sandra durch Nebenstraßen in Richtung Poll. Aus einem tragbaren CD-Player, den Stark in die schmale Ablage für den Fahrer geklemmt hatte, erklang leise ein Song von Johnny Cash. When the man comes around.

»Könnten Sie bitte ein anderes Lied abspielen?«, fragte Frank.

»Warum?«

»Der Song war mal der Soundtrack zu einem Zombiefilm.«

»Ich weiß. Und selten gab es eine passendere musikalische Untermalung, als bei diesem Film. Ich mag den Man in Black. Und dieses Lied spielt mit den Worten der Bibel, mein Sohn.«

»Ich weiß. Es sind die Worte der Offenbarung.«

»Dann weißt du vielleicht auch, dass Johnny darin das Jüngste Gericht beschreibt?«

»Ja, und genau deswegen möchte ich es jetzt nicht hören.«

Der Pfarrer seufzte und drehte Cash mitten im Song die Luft ab. Stark sagte nichts mehr. Er musste sich auf das Fahren konzentrieren. Die Straßen wurden allmählich enger und immer schwerer zu passieren. Autowracks, aufgeplatzte Koffer, die das Hab und Gut von Flüchtlingen nicht mehr halten konnten, Glasscherben und Reste von Plünderung und Panik machten ihren Weg zu einem Hindernisparcours. Sie sahen ein paar Haustiere, die irgendwie ihren Weg in die Freiheit gefunden hatten, oder in der großen Panik einfach ausgesetzt worden waren. Ein Wellensittich pfiff von einem Baum herunter, der Papagei einen Ast tiefer beäugte sie misstrauisch. Ein abgemagerter Hund fraß aus einer Mülltonne, während sich ihm eine Katze mit gesträubtem Fell von hinten näherte, um selber auch etwas von dem Festschmaus zu ergattern.

Plötzlich fuhr ein Ruck durch das Fahrzeug. Stark hatte eine Vollbremsung hingelegt. Frank konnte nur mit Mühe verhindern, dass er gegen den Pfarrer prallte. Er entdeckte eine Schildkröte vor ihrem Wagen, die gemächlich ihren Weg kreuzte. Als sie vorbei war, fuhr der Pfarrer weiter. Sandra fragte Stark, warum er denn ausgerechnet in Richtung Poll fahren würde, anstatt den schnellsten Weg auf die andere Rheinseite zu nehmen. Stark brummelte etwas von starkem Verkehr, und dass sie auf Umwegen besser zu ihrem Ziel gelangen würden, als auf dem scheinbar einfachen und direkten. Sandra sah sich um und nickte. Dann holte sie ihre Pistole hervor. Mit geschickten Griffen begann sie, die Waffe zu zerlegen. Frank sah ihr erstaunt zu.

»Lernt man das durch die Rambofilme?«

»Nein. Von seinem Vater.«

Sandra fand das Problem mit der Waffe. Eine Patrone hatte sich auf dem Weg vom Magazin zum Lauf verkantet.

»War er Polizist?«

»Nein.«

»Gangster?«

Sandra blickte auf. Frank zuckte unmerklich zurück.

»Du nervst.«

»Entschuldige. Ich wollte nur ein wenig Small Talk halten und dich näher kennenlernen.«

Sandra senkte wortlos den Blick und fuhr fort, die Pistole wieder einsatzbereit zu bekommen. Frank sah sich um. Die Häuser glotzten aus blinden, zerbrochenen und dunklen Fenstern zurück. Er erschauerte und fragte sich, warum hier so wenige der Zombies waren. Er setzte gerade zu einer entsprechenden Frage an Stark an, als der das Fahrzeug nach rechts lenkte. Er hielt unter einer Brücke. Frank sah sich erstaunt um.

»Die Südbrücke?«

Stark stieg aus dem kleinen Gefährt und nickte.

»Richtig, mein Sohn.«

»Aber … das ist ganz am anderen Ende von Köln, quer durch die Stadt von unserem Ziel entfernt!«

»Auch richtig. Aber diese Brücke ist die Einzige, die wir passieren können. Die Deutzer Brücke ist meines Wissens nach vermint, die Severinsbrücke hast du vielleicht selber gesehen. Vollkommen verstopft. Alle anderen Brücken würden uns vielleicht unserem Ziel näher bringen, aber vorher müssten wir uns ebenso durch halb Köln durchschlagen. Wenn auch auf der falschen Seite. Und ich weiß nicht, wie es auf den anderen Brücken aussieht. Also ist das der Weg, den der Herr uns weist.«

Sandra stieg aus dem Wagen. Sie nickte Frank zu.

»Ja, er hat recht. Außerdem ist auf der anderen Seite unsere Chance größer, unsere Ausrüstung aufzubessern. Dort gibt es auf unserem Weg mehr Fachgeschäfte, Apotheken ...«

Frank nickte mit einer säuerlichen Miene.

»Ja. Und mehr von diesen Dingern, die uns als kleine Canapés betrachten.«

Stark lächelte.

»Fürchte dich nicht, mein Sohn. Der Herr ist unser Hirte, und es wird uns an nichts mangeln.«

Vor allem nicht an Gründen, die Beine in die Hand zu nehmen, dachte Frank, schwieg aber. Der Pfarrer war ihm einerseits willkommen, andererseits aber auch suspekt. Er war eine lebende Erinnerung an eine Zeit, als seine Eltern noch lebten, und als die Welt noch in Ordnung war. Die Sprüche des Pfaffen kannte er zur Genüge. Stark sah sich um. Gedankenverloren strich er sich über seinen Bart.

»Wartet hier«, sagte er unvermittelt. »Ich bin sofort wieder da.«

»Wo willst du hin?«, fragte Frank, ohne auf die persönlich gewordene Anrede zu achten, die ihm herausgerutscht war. Stark war schon halb auf der Straße. Er blieb stehen und drehte sich um.

»Wir werden zu Fuß weitergehen müssen, mein Sohn. Und damit wir unsere Ausrüstung auch vernünftig werden tragen können ...«

Er deutete ein Stück die Straße hinunter. Ein Schuhladen mit einer Scheibe, die noch intakt war. Stark war schon auf dem Weg dorthin.

»Willst du dir Wanderschuhe klauen?«

»Eine gute Idee, mein Sohn«, rief Stark über die Schulter zurück. »Nennt mir eure Größen, dann sehe ich nach.«

»Geht es auch etwas leiser?«, fauchte Sandra. »Mit eurem Gegröle lockt ihr noch alle Zombies aus ganz Köln her!«

Frank senkte seine Stimme.

»Ja, okay. Trotzdem frage ich mich, was der Herr Pfarrer da in dem Laden will?«

Sandra sah ihn erstaunt an. In ihrem Blick flackerte so etwas wie eine enttäuschte Erkenntnis auf. Das Gefühl der Nähe, das sich zart zwischen ihnen aufgebaut hatte, zerriss wie ein Spinnfaden.

»Du gehst nicht oft shoppen, oder?«

»Was hat das damit zu tun?«

»In diesem Schuhladen gibt es nicht nur vernünftiges Schuhwerk, es gibt dort auch Rucksäcke. Zwar keine besonders guten, aber immer noch besser als solche aus Kopfkissenbezügen. Willst du alles mit den bloßen Händen tragen, was wir brauchen? Ich dachte, du wärst so ein guter Planer, ein Typ, der zwar erst überlegt bevor er handelt, dann aber auch anpackt?«

»Ja schon, aber …«

»Kann es sein, dass dir das alles etwas zu spontan wird? Wir müssen improvisieren!«

Bevor Frank antworten konnte, hallte das klare Klirren und Scheppern von zerbrochenem Glas über die Straße. Sandra schüttelte den Kopf.

»Und der Herr Pfarrer ist in seinem Gottvertrauen auch ein wenig unvorsichtig. Welche Schuhgröße hast du?«

»Hä?«, machte Frank, durch den plötzlichen Themen- und Stimmungsumschwung total aus der Bahn gebracht.

»Deine Schuhgröße!«

»Vierundvierzig, eher breit.«

Sandra lief zum Schuhladen.

»Halte die Stellung und warne uns, falls wir Besuch bekommen.«

Frank sah ihr verdattert hinterher. Das ging ihm alles in der Tat ein wenig zu schnell. Mit einem mürrischen Knurren griff er nach seiner Maschinenpistole. Grimmig schaute er die Straße entlang, ob sich dort vielleicht Feindbewegung zeigte. Der Himmel verdunkelte sich langsam. Frank vermutete, dass bald ein Unwetter aufziehen würde. Das bedeutete Dunkelheit. Und das wiederum würde die Zombies schneller machen. Und sicher auch die, die schon jetzt viel zu schnell für normale Untote waren, sofern man überhaupt von normalen Zombies sprechen konnte. Er schluckte trocken und hielt seine Maschinenpistole fester.

Dann wurde ihm bewusst, dass er keine Munition mehr hatte.

Mit einem herzhaften »Scheiße!« drehte er sich auf dem Absatz um und lief Sandra hinterher.

*

Die schattenhafte Gestalt beobachtete die Gruppe Zombies, die sich um den versammelt hatte, der sich selber Papa nannte. Ihre Schritte waren fest, ja. Aber ihre Orientierung ließ zu wünschen übrig. Sie irrten durch Seitenstraßen, gingen in Hauseingänge, kamen wieder heraus … So würde das nichts werden.

ER würde eingreifen müssen.

Die Gestalt, bisher nur ein formloser, vager Schatten, bewegte sich langsam von hinten auf die Gruppe Zombies zu. Mit jedem Meter wurde sie greifbarer und nahm Formen an.

Teure Schuhe, die im Licht des Tages glänzten. Ein dunkler Anzug aus feinstem Stoff, der bei jedem Schritt leise raschelte. Lange, schlanke Hände mit feingliedrigen Fingern, ein blasses Gesicht, hager und asketisch, eigenwillig frisierte hellblonde Haare, die mit ihrem Scheitel an David Bowie erinnerten. Eisblaue Augen funkelten mit einem zeitlosen Blick in die Welt. Ein dunkles Leuchten ging von der Gestalt aus, eine Kälte, die aus dem unendlich leeren Raum zwischen den Sternen zu kommen schien. Je mehr die Gestalt des Mannes Form annahm, umso dunkler wurde es am Himmel.

Der dunkle Mann erreichte die Nachzügler der Gruppe.

Eine hochgewachsene Frau in einem engen Minirock aus beigefarbenem Wildleder und einer taillenbetonten Jacke aus dem gleichen Leder stöckelte unbeholfen auf ihren absurd hohen Pumps als Schlusslicht der Gruppe über die Straße. In ihrer Hand baumelte eine Lederhandtasche.

Der dunkle Mann verzog sein Gesicht zu einem anerkennenden Grinsen. Louis Vuitton-Täschchen, stramme Waden, griffiger Hintern, auf dessen oberem Ansatz die Ausläufer einer wasserstoffblonden Mähne wippten … Schade, dass sie jetzt wohl keine Lust mehr verspüren würde. Für Geld hätte er sie zu anderen Zeiten bestimmt überreden können, mit ihm ein paar vergnügliche Stunden zu verbringen, und hinterher sogar von ihr eine Entlohnung für seine Mühen angeboten bekommen. Mit einem verächtlichen Schnaufen berührte er sie beiläufig von hinten an der Schulter.

Die Untote brach auf der Stelle zusammen.

Besser so.

Ihr unbeholfenes Stöckeln war einfach nicht mit anzusehen gewesen. Davon abgesehen war Stille eine Waffe, die man nicht so ohne Weiteres hergeben sollte.

Als der Mann an ihrem auf dem Boden liegenden Körper vorbeiging, sah er aus dem Augenwinkel etwas, das ihn kurz innehalten ließ.

Er sah genauer hin und bemerkte einen Bartschatten im herben Gesicht der Sexbombe. Unter dem knappen Rock ihres Kostüms erkannte er einen prall gefüllten Stringtanga. Mit einem leisen Auflachen schüttelte er den Kopf.

»Typisch Köln. Ob wir uns morgens wohl um den Rasierer gestritten hätten?«

Mit einem breiten Lächeln drängte er sich weiter an die Spitze der Gruppe, hielt sein Ziel fest im Auge. Den Zombie mit dem Hausmeisterkittel und dem affigen Hütchen auf dem Kopf. Die Zombies, die er passierte, fielen zu Boden und wanden sich in stummer Agonie. Drei Schritte hinter dem Hausmeisterzombie, der sich selber Papa nannte, blieb der dunkle Mann stehen.

Papa drehte sich um.

Der dunkle Mann breitete die Arme aus, als wolle er einen alten Freund begrüßen. Eine unglaubliche Kälte ging von ihm aus und Papa stolperte ein paar Schritte rückwärts. Dann fiel er zu Boden, wand sich in Krämpfen, versuchte mit unbeholfenen Bewegungen sein Gesicht mit den Unterarmen zu schützen, das dunkle Leuchten des Mannes abzuwehren.

»Ja«, sinnierte der dunkle Mann. »So ist es recht. Winde dich voller Demut vor mir im Staub, mein Freund.« Der dunkle Mann schloss die Augen, griff mit seinem Geist nach dem kruden Bewusstsein Papas, und nickte versonnen vor sich hin.

»Du hast recht, mein Freund. Ich bin alt. Ich war schon alt, als das Universum noch jung war. Und ja, wenn du es gerne so siehst, bin ich ein Engel. Ein Engel des Todes. Ihr liebt ja solche Bilder, selbst nachdem ihr eure kümmerliche Existenz ausgehaucht habt. Ich atme ganze Welten ein, um sie anschließend leer und kalt wieder aus meinem Inneren zu entlassen. Ich bin die Nemesis des Lebens.« Er ließ die Arme sinken, und Papa beruhigte sich allmählich wieder. Der dunkle Mann blickte beinahe liebevoll auf den wehrlosen Zombie herunter.

»Ja. Wenn du es so möchtest, bin ich Gabriel, mein Freund.« Der dunkle Mann streckte Papa seine Hand entgegen.

»Steh auf. Ich glaube, wir zwei haben sehr viel zu besprechen.«

*

Im Keller der Kirche schreckte Jonas aus einem dämmerigen Halbschlaf hoch. Auch die anderen waren wach. Vorsichtig drehte Jonas das Licht der Lampe nur ein klein wenig heller.

Die Augen der anderen Kinder schwammen in bleichen Seen der Angst. Sie hatten es auch bemerkt. Trotzdem musste Jonas sein Unbehagen einfach in Worte fassen.

»Habt ihr auch …«

Peter nickte.

»Ja. Ich habe IHN auch gespürt.«

Rosi wimmerte leise und klammerte sich an Peters Arm. Gerhard holte tief Luft. Seine Stimme zitterte.

»Wir sollten Frank warnen.«

»Wovor?«

»Vor dem dunklen Mann. Wovor denn sonst?«

Jonas schüttelte den Kopf.

»Ob er uns das glauben oder uns überhaupt verstehen wird?«

Das war eine gute Frage. Nachdenklich blickten die Kinder vor sich hin. Für einen verrückten Moment sahen sie aus, wie die absurd junge Ausgabe eines militärischen Kommandostabs, der vor einer schwierigen Entscheidung stand.

Dann sah Jonas auf. Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich werde ihm nichts sagen. Je weniger Frank weiß, umso größer die Chance, dass ER ihn nicht wahrnimmt.«

Nacheinander nickten Gerhard, Peter, Michael und Rosi Jonas Entscheidung ab. Dann begann wieder das lange, schweigsame Warten.

Und das Knirschen der Anderen da draußen wurde immer stärker.

*

Der Schuhladen hatte vor dem Armageddon tatsächlich auch andere Lederwaren im Angebot gehabt. Schnell wurden Stark und Sandra fündig. Zwei große Rucksäcke, für längere Trekkingtouren geeignet, lagen schon an der zerbrochenen Schaufensterscheibe bereit, als Frank dazukam. Er hörte die Stimmen der beiden zwischen den Regalen in dem dunklen Laden.

»Ich kenne dich«, sagte Stark, »Bist du nicht die Kleine der Adamcyks?«

»Ja.«

Sandras Stimme klang merkwürdig belegt, fand Frank. Leise stieg er in den Laden ein, und belauschte die beiden, den Blick nach draußen gerichtet.

»Ich hätte dich eben beinahe nicht wiedererkannt.«

»Kein Wunder. Ich habe obenherum ein wenig zugelegt.«

Stark räusperte sich, und Frank musste sich ein Auflachen verkneifen, um sich nicht zu verraten.

»Wie geht es deinem Vater? Ich meine, wenn ich das in dieser Situation überhaupt fragen darf.«

»Er ist tot, und das ist gut so.«

»Hier, probier mal diese Schuhe.« Rascheln im Hintergrund. »Da ist viel Zorn in dir.«

»Was ja wohl kaum verwundert, oder?«

Ein tiefes Brummen, das sowohl Zustimmung, als auch Skepsis sein konnte.

»Findest du nicht, dass es an der Zeit wäre, ihm zu vergeben? Angesichts der herrschenden Umstände?«

»Er hat das bekommen, was er verdient.« Kurzes, dumpfes Aufstampfen. »Die passen.«

»Nun gut. Wenn du reden möchtest, ich bin ja bei euch.«

Seufzen. Eher genervt, als ergeben.

»Vater, ich bin jahrelang in die Kirche gekommen, habe immer und immer wieder darum gebetet, dass ER mir und meiner Mutter doch bitte helfen soll. Und was ist passiert? Nichts, nichts und nochmal nichts! Ihr großer Boss da oben hat wohl immer ausgerechnet dann seinen freien Tag genommen, wenn ich ihn gerade am dringendsten gebraucht hätte.«

»Sandra!«

»Nein! Es kommt ja alles noch viel besser, Herr Pfarrer! Ich hatte ihn schon im Visier, hatte endlich die Möglichkeit, ihm all das heimzuzahlen, was er mir und meiner Mutter all die Jahre angetan hat. Es wäre sogar eine Erlösung für ihn gewesen, wenn man die derzeitige Situation bedenkt, wie sie das da draußen so schön beschreiben. Und was passiert? Der da oben kommt aus seinem freien Tag zurück und hält seine Hand schon wieder schützend über diesen elenden Bastard!«

»Du hast deinen Vater gesehen?«

»Ja. Er ist jetzt einer von denen da draußen. Und ich schwöre bei allem, was Ihnen heilig ist, Herr Pfarrer, wenn er mir das nächste Mal vor die Flinte läuft, blase ich ihm das Hirn aus dem Schädel! Und wenn die wieder nicht ballert, trete ich ihm derartig in die Eier, dass eben seine kleinen vertrockneten Dinger quer durch seinen verdorrten Leib sausen und sein Gehirn zu Mus zerquetschen!«

»Aber mein Kind, du musst -«

»Finger weg! Als ich SIE brauchte, waren SIE auch nie da. Also brauchen wir jetzt erst gar nicht mit irgendwelchen Vertraulichkeiten anzufangen.«

Schritte im Dunkel zwischen den Regalen. Frank hüpfte über die Reste der zerbrochenen Scheibe nach draußen und tat so, als wäre er gerade erst angekommen. Sandra kam aus einer Regalreihe und blickte ihn finster an.

»Was machst du hier?«

»Es braut sich ein Unwetter zusammen. Ich wollte euch holen, bevor es losgeht. Du weißt ja, Dunkelheit und so.«

Sandra starrte ihn einen Moment misstrauisch an. Dann warf sie ihm ein Paar fest aussehende, knöchelhohe Wanderschuhe hin.

»Hier. Die müssten passen. Vierundvierzig, extra breit.«

Ohne ein weiteres Wort schnappte sie sich die Rucksäcke und ging zu Pfarrer Starks Papamobil. Frank atmete tief durch. Dann folgte er ihr.

Der dunkle Mann fand viele gute Anlagen in Papa. Zorn, Neid, Gier … Aber auch die Vergangenheit dieses Untoten war interessant.

Einst ein Soldat, war er unehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Alkohol und eine Prügelei mit einem Vorgesetzten, danach der Absturz im Privatleben. Arbeitslos, nur geringe Bezüge, schließlich Hilfsarbeiter in einer Zeitarbeitsfirma und zuletzt dann ein Ausweg aus diesem Teufelskreis, ein richtiger Job als Hausmeister. Ein Absprung jedoch, der für diesen Mann, der andere Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten gewohnt war, keinen Ausgleich darstellte. Als alternativlos hatte er damals seine Lage eingeschätzt, und die Tätigkeit letztendlich angenommen, die ihm zwar mehr Geld einbrachte, ihn aber noch weiter herunterzog in den Strudel aus Selbstmitleid und Selbsthass.

Und die Wut in Tomasz war immer größer geworden.

Zwischen all dem sah der dunkle Mann immer wieder den Alkohol, die Gier nach Macht und die heiße Wut auf die Welt der glücklichen Faulenzer um Tomasz herum aufblitzen. Wut, Neid und Gier auf die anderen, mit ihren schicken Autos, ihren teuren Klamotten und den heißen Bräuten, während daheim auf ihn nur ein farbloses Weib und ein plärrendes Gör warteten. Und immer wieder sah der dunkle Mann die Gewalt, die Tomasz gegen seine Frau und seine Tochter richtete, einen kleinen rothaarigen Teufel.

Das war nicht immer so gewesen. Es gab da in der Vergangenheit eine Zeit, in der er ein guter Vater gewesen war. Was hatte ihn so verändert?

Der dunkle Mann griff noch tiefer in das Bewusstsein des Untoten, und dann fand er die Antwort.

Krieg.

Tomasz Adamcyk war im Kosovo eingesetzt gewesen, hatte als Mitglied der Friedenstruppen so viel Leid und Gewalt gesehen, dass er sich in den Alkohol geflüchtet hatte.

Ja, fand der dunkle Mann. In dieser Kreatur hatte er tatsächlich ein beinahe perfektes Werkzeug gefunden. Vorsichtig flüsterte er dem Bewusstsein Geheimnisse zu. Nur einflüstern, nicht direkt eingreifen. So lauteten die Regeln. Aber ein wenig würde er sie schon beugen können, wenn er nur vorsichtig genug war.

Und so gab er Papa, der sich jetzt selbst als Tomasz verstand, ein klein wenig von der Fähigkeit zurück, welche die Menschen in ihrem Größenwahn Denken nannten.

Als der dunkle Mann fertig war, hingen schwere Wolken über dem verwüsteten und entvölkerten Köln. Ein schwacher Wind brachte die erste Ahnung von einem nahenden Sturm, trieb Papier und vergessene Kleidung über die Straße. Irgendwo in der Nähe heulte ein Hund. Der dunkle Mann lehnte sich zurück, tauchte aus den Tiefen des fremden Bewusstseins wieder auf. Sein Finger deutete auf eine schmale Brücke, die über den Rhein führte.

»Dort drüben.«

Tomasz öffnete die Augen. Dumpfes Verstehen glomm in ihnen auf, und der Zombie folgte mit seinem Blick der Geste des dunklen Mannes. Als er sich wieder umwandte, war Gabriel weg. Aber das war egal.

Tomasz hatte eine Aufgabe.

Tomasz würde wieder in den Krieg ziehen.

Ein letzter Blick auf seine Truppen, die sich langsam wieder aufrappelten, dann marschierte er los.

Die Wolken über Köln versprachen ein kräftiges Gewitter.