Loe raamatut: «Coltrane»

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Ben Ratliff

Coltrane

Siegeszug eines Sounds

Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind


www.hannibal-verlag.de

Impressum

Titel der englischen Originalausgabe:

„Coltrane – The Story of A Sound“

Copyright © 2007 Ben Ratliff

First published in the United States of America by Farrar, Straus and Giroux

Erstausgabe erschienen 2007 bei Farrar, Straus and Giroux

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe:

Koch International GmbH/Hannibal, A-6600 Höfen

www.hannibal-verlag.de

Lektorat: Hollow Skai

Korrektur und Schlussredaktion: Manfred Gillig-Degrave

Umschlagfoto: © Michael Ochs Archives/Corbis (John Coltrane live in Deutschland, 1959)

ISBN 978-3-85445-638-4

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne schriftliche Genehmigung nicht verwendet oder reproduziert werden. Dies gilt besonders für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Widmung

Für Kate und Henry und Toby

Inhalt

Einleitung

Teil 1

Wer ist Willie Mays?

Es passiert nicht viel

Prestige

Theoriebesessen

Vanguard

Zwei Konzepte

Teil 2

Coltranes Stil

Seelenleben

Du musst sterben

Dunkle Zeiten

Coltrane auf dem Lehrplan

Anmerkungen

Quellen und Danksagung

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Einleitung

Die gängige Meinung über den Saxofonisten John Coltrane ist, dass er die letzte bedeutende Musikerpersönlichkeit in der Geschichte des Jazz war, und dass der Jazz nach seinem plötzlichen Tod im Alter von vierzig Jahren 1967 an Schwung verloren hat, wenn nicht gar zum Stillstand gekommen ist.

Was war so herausragend an Coltranes Werk, dass man ihn auch vierzig Jahre nach seinem Tod noch so schätzt? Woher kommt diese ungeheure Anziehungskraft, die er auf so viele Musiker und Hörer ausgeübt hat? Was war das Besondere an seiner Improvisationstechnik, seinen Bands, seinen Kompositionen, seinem Platz in der damaligen Jazzära? Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass Coltrane zu dem wurde, der er war? Und wie würde ein John Coltrane heute aussehen – oder ist es falsch, nach einer solchen Persönlichkeit Ausschau zu halten?

Als Außenstehender fragt man sich immer wieder, welcher Musiker wohl den nächsten wirklich bedeutenden Schritt in der Entwicklung des Jazz tun wird. All jene, die als Kandidaten in Frage kommen, wiederholen sich, kreisen um sich selbst und bieten nichts Neues mehr; sie bringen keine überzeugenden Kompositionen zustande, verkaufen sich in irgendeiner Form oder beginnen ihr Publikum zu langweilen. Dann wieder fragt man sich, ob es überhaupt sinnvoll ist, evolutionäre Modelle auf den Jazz anzuwenden. Es scheint vielmehr der Fall zu sein, dass der Jazz Kurven dreht, sich zurückzieht und winzige Anpassungen vornimmt, die seine Sprache nicht wesentlich verändern. Das Problem ist jedoch, dass es zumindest bei Coltrane den Anschein hatte, als würde sich der Jazz immer weiter entwickeln. Er preschte voran, und andere folgten ihm. Manche folgen ihm noch immer.

Seine Karriere, besonders in den letzten zehn Jahren seines Lebens, war beispiellos. In dem Moment, als man in ihm den prototypischen Jazzmusiker zu sehen begann, änderte sich auch das allgemeine Verständnis davon, wie und warum Jazz funktioniert. Dieses Wissen wurde nun lückenhaft, und gefährliche Halbwahrheiten schlichen sich ein. Jede halbe Wahrheit bedarf einer ganzen Erklärung.

Dies ist kein Buch über Coltranes Leben, sondern die Geschichte seines Werks. Der erste Teil handelt davon, wie seine Musik entstand, von den ersten Aufnahmen als namenloses Mitglied einer Militärkapelle 1946 bis zu seinem Tod als Fast-Heiliger des Jazz im Jahr 1967. Der zweite Teil erzählt vom Einfluss, den er schon zu Lebzeiten hatte und bis zum heutigen Tage hat. Diese beiden Geschichten werden getrennt voneinander erzählt – auch wenn sie sich hin und wieder überschneiden. Grund dafür ist, dass Coltranes Werk und seine Rezeption zwei vollkommen verschiedene, in sich logische Eigenleben besitzen.

Dieses Buch ist ein Buch über den Jazz als Sound. Ich meine damit „Sound“ in seiner Funktion, wie er lange unter Jazzmusikern gebräuchlich war, als einen mystischen Kunstbegriff: Irgendwann braucht jeder Musiker einen eigenen Sound, in dem sich seine künstlerische Persönlichkeit so ausdrücken und entfalten kann, dass man ihn im Idealfall schon beim ersten Ton erkennt. Der Sound von Miles Davis war zerbrechlich und punktiert. Der von Coleman Hawkins war reif, weich und großzügig. Der Sound von John Coltrane war mächtig und trocken, vielleicht ein bisschen halbgar – und sehr eindringlich.

Ich meine aber auch Sound im Sinne eines ausgewogenen Klangs, der von einer kompletten Band ausgeht. Wie wichtig ist das? Für Coltrane ging der Sound über alles andere. Schließlich lief er sogar der Komposition den Rang ab: Die Stücke auf seinen späteren Platten sind sich zunehmend ähnlicher, da die Suche nach dem Sound längst Soli und Struktur verdrängt hat. Sein Respekt einflößender Sound, vor allem wie er ihn in Balladen einsetzen konnte, war der Grund dafür, dass ihn ältere Musiker so hoch schätzten – zum Beispiel sein Sound in den oberen Tonlagen in „Say It Over And Over Again“. Das war aber auch der Grund, warum sich jüngere und weniger formell geschulte Musiker für ihn begeisterten und manchmal sogar einen Platz auf seinem Konzertpodium fanden.

Coltrane liebte musikalische Strukturen und die wissenschaftliche Harmonielehre. Daher blieb er auch als Klassenprimus des Jazz in Erinnerung. Wenn es jedoch um die außergewöhnlichen Eigenschaften von Coltranes Musik geht (etwa um die Macht, das Bewusstsein des Hörers ein klein wenig zu verändern), müssen wir den Fokus auf ein Gebiet jenseits der Konstrukte seiner Musik, seiner Kompositionen und seiner intellektuellen Selbstverliebtheit ausdehnen. So können wir schließlich zum Gesamtsound der Musik vorstoßen: wie sie sich erst im Ohr und später dann in der Erinnerung anfühlt, als Masse und als Metapher. Musikalische Strukturen beispielsweise können keine Botschaft enthalten. Der Sound hingegen kann es irgendwie. Coltranes ausladender, direkter, vibratoloser Sound übermittelte seinen grundlegendsten Wunsch – „dass es mir gelingen möge, so gut wie nur irgend möglich zu werden.“

Was Coltrane bewirkte und wie er rund um die Welt ein jazzbegeistertes Publikum ansprach, das scheint jeden denkbaren Karriereplan zu übersteigen und unterscheidet sich auf bemerkenswerte Weise von unserer Vorstellung eines im Wesentlichen europäisch geprägten künstlerischen Bewusstseins westlicher Kulturen. Dieses Buch unternimmt den Versuch, seine Arbeit nachzuzeichnen – wie und warum er sich von A nach B und weiter bis nach Z entwickelte – und schließlich eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Coltrane im letzten halben Jahrhundert einen so bedeutenden Einfluss auf das Selbstverständnis des Jazz gehabt hat.

Coltrane, dessen Musik sich auszeichnet durch eine bemerkenswerte Technik, durch Kraft in allen Registern des Tenor- und Sopransaxofons, eine etwas scharfe Intonation, wahrhafte Intensität und die rasche, bewegliche Erkundung von Akkorden, nicht nur von Melodien – dieser Coltrane spielte einen Jazz, der abwechselnd verführerisch, kommerziell und antagonistisch war. Unter seinen Aufnahmen finden sich die schnelle, harmonische Etüde „Giant Steps“ (1959); die exotischen, modalen Versionen von „My Favourite Things“ (1960) und „Greensleeves“ (1961); der kopflastige, manchmal dissonante fünfzehnminütige Blues in F, „Chasin’ The Trane“ (1961); die hingebungsvolle Suite „A Love Supreme“ (1964); die wehmütigen Balladen „Soul Eyes“ (1962) und „After The Rain“ (1963) und sein feuriges Freejazzduell mit dem Schlagzeug, „Interstellar Space“ (1967).

Seine Arbeit wurde inoffiziell mit der Bürgerrechtsbewegung in Zusammenhang gebracht: Allein schon sein Sound ist zu einer Metapher für Würde und Beharrlichkeit geworden. Seine Kunst war fast bis zum Ende nicht isoliert, sondern zeigte unterschiedlichsten Menschen verschiedener Kulturen und Rassen immer wieder verschiedene Dinge. Hinter seiner (nach einem bestimmten Denkschema) hässlichsten Musik wird gemeinhin eine Schönheit jenseits des Hörerverständnisses vermutet, und dasselbe gilt umgekehrt für seine gefälligste Musik, die wiederum oft als Ausdruck tiefer Ernsthaftigkeit gedeutet wird. Meiner Einschätzung nach wurde über ihn mehr Poesie verfasst als über jeden anderen Jazzmusiker. Seine religiöse Selbstfindungsreise durch Christentum, Buddhismus, Kabbala und Sufismus wird nun im Nachhinein in seine Musik hineingedeutet. Im pluralistischen Amerika ist es heute schwierig geworden, Coltranes modale Musik – in der sich ein improvisierender Musiker, befreit von den Fesseln der Harmoniefolge, auf eine Forschungsreise begibt – nicht als Metapher für eine persönliche religiöse Suche zu verstehen.

Coltrane, besonders der von 1961 bis 1964, klingt genau so, wie wir uns modernen Jazz vorstellen; ebenso wie Strawinsky genau so klingt, wie wir uns zeitgenössische Klassik vorstellen. Junge Bandleader, besonders die Saxofonisten, kennen ihn als sicheren Hafen, ja, als den sicheren Hafen schlechthin. Einige Musiker mögen mir aufgrund eigener Erfahrungen widersprechen, der Jazz besteht schließlich aus Hunderten von Mikroklimas, doch ich muss hier festhalten: Der Sound unzähliger Jazzkonzerte, die ich als Jazzkritiker in den vergangenen fünfzehn Jahren in New York besucht habe, ist der Sound von Alben wie Coltrane’s Sound oder Coltrane Plays The Blues, der Sound des Coltrane-Quartetts kurz vor oder während seiner ersten Schritte in Richtung eines modalen Jazzstils, als sich die Musik gerade straffte, noch vor „A Love Supreme“ und jener späteren Musik, die so persönlich ist, dass man von ihr nicht borgen kann, ohne damit aufzufallen (was nicht heißt, dass man nicht zuweilen davon borgen würde, was in seiner Dreistigkeit meist die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet). Coltrane ist im Verlauf der letzten fünfzig Jahre weitaus öfter imitiert worden als jede andere Jazzgröße.

Einige Musiker haben mir erzählt, dass sie ihn nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit seinem Werk nicht mehr hören konnten. Auch einigen Hörern ging es so. Ich habe in verschiedenen Bands eine andere Art von Musik gespielt und bei einem Jazzpianisten Unterricht genommen, aber ich bin ein Schreiber, kein Jazzmusiker. Als ich, noch ein Teenager, in den Achtzigerjahren Coltranes Platten – die Prestige-Sessions mit dem Miles Davis Quintett aus dem Jahr 1956, vor allem „Tune Up“ und „If I Were A Bell“ – zum ersten Mal hörte, klang er für mich wie ein großer See, dessen Dimensionen ich nachspüren wollte. Das nächste Album war Giant Steps mit seiner Klarheit, seiner Collagentechnik, seiner harmonischen Schärfe und seinen zwingenden Melodien. Das machte mir nichts aus – zumindest solange ich noch nicht diese routinemäßige mathematische Steifheit in seinem Spiel zu hören begann, auf die ich negativ reagierte. Anfang der Sechziger war ich noch nicht auf der Welt, und vielleicht war das auch der Grund, warum mir The European Tour, eine Doppel-LP mit Livemitschnitten von 1962 und 1963, zunächst wie eine Stilisierung modaler Musik erschien – als sanfte, hypnotisierende Geste für das progressive, selbstgefällige Publikum, das Coltrane im Gefolge seines Radiohits „My Favorite Things“ um sich geschart hatte. Die Platte gefiel mir nicht besonders gut.

Als ich dann aber zu Live At The Village Vanguard vordrang, vor allem zum Stück „Spiritual“, sperrte ich mich dagegen. Denn diese Musik war keine halbherzige Angelegenheit; sie war tiefgründig und korrekt und ernsthaft, härter und in ihrem Swing gewaltsamer und klang dabei leicht altertümlich. Es war die Andeutung von Coltranes modalem Stil, bevor er zu einer Geste erstarrte. Diese Band war das oberste Konsortium des Livejazz, diejenige, die den deutlichsten Bezug zum zeitgenössischen Jazz hatte. Es schien, als könne man diese Welt betreten und womöglich nicht wieder hinausfinden.

Ich hatte damals eine Skala für die Ernsthaftigkeit im Jazz. In New York hörte ich viel Musik, die versuchte, gehaltvoll zu sein, und es bisweilen auch war. Den Gitarristen Sonny Sharrock und seine laute Band mit zwei Schlagzeugern fand ich ziemlich gut, da sie auf ganz natürliche Weise Rock’n’Roll-Elemente mit dem Free Jazz der Post-Coltrane-Ära verbanden – vor allem mit den Platten von Pharoah Sanders aus den späten Sechzigern. Der Tenorsaxofonist Charles Gayle und seine Trios spielten eine äußerst expressionistische kollektive Improvisation, deren Hauptqualitäten der Umgang mit dem rhythmischen Chaos sowie das launenhafte Charisma von Gayle selbst waren. Ein anderer Tenorspieler, David S. Ware, hob das Vorbild Coltrane ungefähr 1965 auf die nächsthöhere Ebene von Lautstärke und Düsternis; diese Musik war ungeheuer dicht. Auf der anderen Seite gab es Bands wie David Murrays Trio mit Wilber Morris und Andrew Cyrille, die ausgedünnter, verspielter und hübscher klangen und nette, eigenständige Melodielinien hatten. Das war eine ganz andere Geschichte als Coltrane – Murray pflegte in seinem Spiel mehr die melodische Improvisation in der Art eines Sonny Rollins, im Gegensatz zu Coltrane, der in seinen Melodiebögen oft ganze Akkorde andeutete.

Jene Coltrane-Platten jedoch, die mich abschreckten, stellten sich dem Gedanken von Dichte und Lärm, ohne diese zum Fetisch zu machen, und blieben auch dort nicht stehen. Coltrane verband seine eigenen, gelernten harmonischen Muster mit vielen fremden Ansätzen, die er von anderen Jazzmusikern und aus verschiedenen Volkskulturen zusammenklaubte – eine fast bis zum Wahnsinn ehrgeizige Methode der musikalischen Verschmelzung. Gemeinsam mit seinem Bassisten Jimmy Garrison und dem Schlagzeuger Elvin Jones zimmerte er zudem ein rhythmisches Gerüst, das selbst dann noch immer stärker wurde, als der Rest der Musik allzu oft mit ausgedehnten Solopassagen befrachtet war, überladen von einem einzigen starken Willen. Die Soundvielfalt auf Live A The Village Vanguard entwickelte sich zu einer der gebräuchlichsten und gängigsten Quellen des Jazz, die ganze Schulen verschiedener Spieler verband, die ansonsten wenig miteinander zu tun gehabt hätten, Formalisten und Nicht-Formalisten.

Jedenfalls vergingen zwei Jahre, bis ich noch einmal ernsthaft den Versuch unternahm, Coltrane zu hören. Seit den Aufnahmen zu Live A The Village Vanguard waren inzwischen achtundzwanzig Jahre vergangen, und der Kern der unkonventionellen New Yorker Jazzszene war, soweit ich das sehen konnte, kleiner und selbstbewusster geworden. Die Jazzidentität der frühen Sechziger als Protestmaterial für Amerikaner, die sich auf einer harten, bitteren Straße von der „Great Society“ verabschiedeten, hatte man seitdem zelebriert, zum Fetisch gemacht und zur Nostalgie verkommen lassen. Seit Beginn der Achtziger war Musik als solche zum Objekt akademischer Studien geworden, der Jazz daneben aber auch in Pop und HipHop eingeflossen. Eine klassizistische Bewegung im Jazz wiederum, die eine vernichtende Skepsis gegenüber nichtakustischer Musik und den meisten freien Formen hegte, die sich im Jazz seit Mitte der Sechziger entwickelt hatten, sah sich durch Hausorchester im Lincoln Center, der Carnegie Hall und dem Smithsonian Institute voll legitimiert.

Damit will ich sagen will, dass es bis 1989 so viele Zugangsmöglichkeiten zum Jazz gab, dass ich mich nicht unbedingt mit dem ernsthaftesten, unbequemsten, aber vielleicht auch notwendigsten Zugang befassen wollte: der Beschäftigung mit den Aufnahmen von John Coltrane. Ein Teil dieser Unlust rührte wohl davon, dass es mir inzwischen vollkommen unklar war, was ich von ihnen halten sollte. Sie wiesen einen Weg, aber war es ein Weg zu einer neuen Sprache oder einfach nur Unsinn?

Der Trompeter Wynton Marsalis, der künstlerische Leiter der Reihe Jazz at Lincoln Center, war ebenso wie seine Brüder Branford (der Saxofonist) und Delfayo (der Posaunist) sowie der Kritiker Stanley Crouch (der viele streitlustige Artikel über die drei verfasst hat) damals zu einem extrem kenntnisreichen Kulturkommentator geworden. Wynton hatte es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was in der gesamten Geschichte des Jazz gut und von Bedeutung war. Da er hier sozusagen als Chef einer Interessengruppe fungierte, sprach er sehr überzeugend davon, was im Jazz alles vergessen oder verloren gegangen war: der Vierviertelswing, Balladen, der konstruktive Wettbewerb, ein Sinn für Grenzen und Exklusivität. Er diskutierte gern, und stets ging es im Kern seiner Argumentation um die Verantwortung: Man konnte der Musik schaden oder ihr nutzen (und zwar nicht nur dem Jazz, sondern damit auch der gesamten amerikanischen Kultur). Er sprach über Jazz, als wäre er ein Patient auf dem OP-Tisch. Er verordnete die notwendigen Maßnahmen, die Musiker ergreifen sollten, wenn sie denn wollten, dass der Jazz eine Überlebenschance hatte.

Plötzlich konnte Coltranes Lebenswerk, das sich immer mehr in Richtung Nicht-Swing, Nicht-Balladen, Nicht-Wettbewerb und grenzenlose Stilanleihen bewegt hatte, gefährlich erscheinen. Dies ließ jedoch eine Tatsache unberührt: Wenn man es ertrug, das Stück „Spiritual“ oder den Rest von Live A The Village Vanguard zu hören und dabei wirklich genau hinhörte, erschienen beide Positionen unhaltbar und von außenstehenden Parteien aufgezwungen, die damit einen bestimmten Zweck verfolgten. Eine Platte wie diese deutete darauf hin, dass der Gemeinschaftsraum des Jazz paradoxerweise gleichzeitig auch sein dunkelster und geheimnisvollster Ort war.

Das rhetorische Umfeld des Jazz hat sich seit Coltranes Tagen stark verändert. Die Auffassung, Jazz sei die Begleitmusik zur Befreiung der Unterdrückten und durch und durch radikal, findet sich in den meisten ernsthaften Diskussionen zum Thema Jazz heute nicht mehr. Dies gilt inzwischen als eine Philosophie der damaligen Zeit, die man mit den Sechzigern und frühen Siebzigern assoziiert.

Die beste Jazzmusik (und die beste Jazzkritik) hat der Auffassung Platz gemacht, dass die Bedeutung dieser Musik nicht von aufgepfropften politischen oder intellektuellen Konzepten abhängt. Man akzeptiert, dass sie sich langsam aber stetig weiterentwickelt und dabei immer wieder um sich selbst kreist, um sich selbst besser zu verstehen und zu verfeinern. Neue Strukturen und neue Genres sind nicht unbedingt das, wonach wir suchen. Uns geht es um den individuellen Ausdruck des Musikers: Halte die Vergangenheit in Ehren, aber sei du selbst. Wenn ein wirklich individueller Ausdruck in einer vertraut klingenden Verpackung daherkommt, sollte das seinen Wert nicht schmälern.

Was aber ist mit dem Hippiemythos, in dem der Jazz für alle Zeit als die „Musik von morgen“ festgeschrieben ist, als Ergebnis eines radikalen Prozesses? Die strukturellen Innovationen des Jazz kamen nach Coltrane ziemlich abrupt ins Stocken. Die den Jazz umgebende Rhetorik jedoch setzte ihre Reise immer weiter fort, abgekoppelt von ihrem Kontext, wie ein Reiter, der kopfüber von einem Pferd abgeworfen wurde. Es ist eine Art von Zukunftsbeschwörung, wie man sie besonders von jungen Musikern und all jenen hört, die sich für die verschiedenen extravaganten Freejazzkulturen rund um den Globus begeistern. Es wäre leicht zu sagen, dass dies damit zusammenhängt, dass Coltrane so früh und unerwartet an Leberkrebs starb. Er war gerade vierzig, und nicht einmal jene, die ihm nahe standen, wussten, wie krank er war. Er starb als eine Art Märtyrer, als ein Seher – und für all jene, die das so sehen, muss wohl in der Tat alles, was irgendwie von Coltrane stammt, heilig und in gewisser Weise unantastbar wahr sein.

Aber das wäre immer noch zu eng gefasst. Wenn wir Coltrane als Triebfeder für den gesamten Jazz betrachten, der nach ihm kam (sowohl im weiten Feld des Mainstreamjazz als auch in seinen abstrakten, abgelegenen Bereichen), dann müssen wir wohl die Antwort in seinen letzten zehn Lebensjahren suchen, nicht nur in seinem Ende.

Niemand im Jazz ist innerhalb einer so kurzen Zeitspanne in einem messbaren, linearen Sinne weiter und wirkungsvoller gereist als Coltrane. Miles Davis ist der berühmteste Veränderer der Paradigmen des Jazz, doch die Umgestaltung seiner Musik alle fünf Jahre hat viel mit seinem unermüdlichen Ehrgeiz und seiner Selbsteinschätzung zu tun. Seine Veränderungen zu verstehen, war leichter, da Davis sein persönliches Umfeld und sein Publikum schockieren und herausfordern wollte. Bei Coltrane indes schien der Antrieb zur Veränderung mehr von innen heraus zu kommen.

Soviel jedenfalls scheint sicher: Hätte Coltrane seine Musik klar und verständlich weiter entwickelt und dabei die Straße hinter sich wie auch den Weg vor sich im Blick behalten (wie er es auf beispielhafte Weise von 1957 bis, sagen wir, Transition im Jahr 1965 getan hat), dann hätte dieser Fortschritt tiefe und praktische Konsequenzen für den Jazz gehabt. Stattdessen jedoch vergrub er sich in seinen letzten zweieinhalb Jahren in sich selbst. Man konnte dorthin vordringen, wenn man wollte. Dabei musste man jedoch entweder einige grundlegende musikalische Konzepte über Bord werfen oder sich damit abfinden, einer unmäßigen Vorstellung von Perfektion zu begegnen, von der man sich später vielleicht lieber wieder distanzierte. Alben wie Interstellar Regions oder Live In Seattle, die aus dieser späten Periode nach Transition stammen, sind Ausdruck einer alles dominierenden Egozentrik. Sie drücken aus, was der Dichter Robert Lowell, ein Zeitgenosse von Coltrane, einmal als „die Monotonie des Erhabenen“ bezeichnet hat. Lowell stammte jedoch aus einer Bostoner Brahmanen-Familie: Er lebte in einer historisch strikt definierten Welt. Coltrane indes war ganz offensichtlich auf der Suche nach einer Musik abseits der Geschichte. Angesichts solcher Bestrebungen versagt in der Regel die herkömmliche Kritik. Man akzeptiert es entweder nicht nur als Musik, sondern als eine Art ästhetischer Philosophie, oder man hört es einmal und sagt „nie wieder“.

Wer in den Bahnen des traditionellen westlichen Rationalismus denkt, dem kann es so vorkommen, als wäre Coltrane 1965 in eine böse Falle geraten – eine historisch relevante Falle zwar, aber nichtsdestotrotz eine Falle; die Falle eines Zeitalters, in dem Platten und Konzerte nur insoweit von Bedeutung erscheinen, als sie mit den vielen anderen Dingen zusammenfallen, die um sie herum passieren. Unter diesen „Dingen“ befanden sich: die Weltmeisterschaft im Boxen, die der erfolgreiche Titelverteidiger Muhammad Ali gewann, woraufhin er zu einem neuen Kulturheld wurde; die afrikanische Unabhängigkeitsbewegung (während Coltranes Lebensspanne wurden in Afrika sechsunddreißig unabhängige Republiken gegründet, beinahe alle in seinen letzten zehn Lebensjahren); das Entstehen eines neuen Bewusstseins für schwarzes Kulturerbe in diesen Gebieten und anderen ehemaligen Kolonien mit schwarzer Bevölkerung und schließlich der Niedergang des amerikanischen Sozial- und Schulsystems, der mit einem Siegeszug billiger Straßendrogen in den Jahren nach dem Attentat auf Malcolm X im Audubon Ballroom einher ging. Und doch – selbst wenn man all dies verinnerlicht hat, selbst wenn man sogar alles miterlebt hat, möchte man vielleicht trotzdem vor der Strenge und Härte der Musik die Augen verschließen.

In seinen letzten drei Jahren zeigte Coltrane einen neuen Weg auf, über Musik zu denken, der kein Weg für jedermann war. Das typische Beispiel dafür, wie sich Coltranes Publikum von ihm abwendet, stammt aus dem Jahr 1966, als sein Quintett im Soldier Field in Chicago spielte. Die Musik war hart und aggressiv, und ein guter Teil des Publikums verließ während des Auftritts den Saal – und das geschah einem Mann, der es gewohnt war, dass ihm das Publikum in den Jazzclubs die Bude einrannte. Wenn man Coltranes Bedeutung erfassen will, stolpert man zuweilen über seltsame Tatsachen: Seine Auftritte in Detroit 1961, im Augenblick seines größten nationalen Erfolgs, waren nur dünn besucht, wohingegen seine letzten Konzerte im Olatunji Center of African Culture in Harlem, als seine neueste Musik kreischte, pulsierte und so schwer zugänglich wie nie zuvor war, dreitausend Menschen anzogen. Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass Coltrane in seiner späten „freien“ Phase mit dem, was er hatte, weiterarbeitete, und die Instinkte seiner Gegenwart mit dem Handwerkszeug seiner Vergangenheit verband. Er kam nicht mehr dazu, diese Verbindung zu vollenden und somit zu verdeutlichen, und seit seinem Tod haben Jazzmusiker mehr als dreißig Jahre gebraucht, um sich auf eine Sprache zu verständigen, wie sich der Free Jazz und ein eher traditionell orientierter Stil innerhalb des Mainstream annähern können.

Coltrane war ein Mann von ungewöhnlicher Zähigkeit, mit phlegmatischem Temperament und stoischem Charisma, der in seiner Arbeit Ekstase fand, sich ansonsten jedoch kaum von etwas begeistern ließ – ein John Wayne, ein Gary Cooper, ein Lou Gehring, ein John Henry, ein Yankee-Waldarbeiter. (In American Humor umschrieb Constance Rourke 1931 den Mythos des Yankee-Waldarbeiters aus dem frühen 19. Jahrhundert: „Ich bin ein regelrechter Tornado, hart wie Hickory-Holz, mit einem Atem so kräftig wie der Nordwestwind. Ich kann zuhauen wie ein fallender Baum, und mit jedem Hieb schlage ich eine Bresche von einem Viertelhektar in die Menge, durch die dann der Sonnenschein fällt.“) Vielleicht war Coltrane sogar der coole, spirituell erfüllte Archetypus der westafrikanischen Kongokultur. Am Schluss, als seine öffentlichen Ansprachen von der Musik abschweiften und sich Gott zuwandten (wie er es oft formulierte, strebte er danach, ein Heiliger oder zumindest eine „Kraft des wahrhaft Guten“ zu werden), spürt man, dass sein Eifer eine matte Oberfläche hat. Es ist ein Gefühl, dass seine Ekstase unangreifbar ist, unantastbar, in Eisen gegossen. In gewisser Hinsicht hatte er sich nicht sonderlich verändert; er hatte lediglich die ihm eigene Ernsthaftigkeit weiter gesteigert. Nun aber diente diese Ernsthaftigkeit nicht mehr den beinharten Manierismen der Post-Bebop-Phase, sondern einer alles überdeckenden religiösen Ekstase.

Trotzdem baute er dem Hörer immer noch Brücken. Nichts in Coltranes Werk entstand aufs Geratewohl. Trotz der wenigen, mageren Erklärungen – er war kein guter Interviewpartner und klang für einen Möchtegernheiligen meistens enttäuschend weltlich – trat er in den letzten Jahren seines Lebens so häufig auf und machte so viele Aufnahmen, dass sich Vorahnungen, Ankünfte und Abschiede nachzeichnen lassen.

Jener Pfad zur Erhabenheit, mit dem sich die erste Hälfte dieses Buches befasst, beginnt 1958, in dem Jahr, in dem Coltrane sich nach einer anderthalbjährigen Pause wieder Miles Davis anschloss. Bevor er abermals zur Band von Davis stieß, hatte er mit Thelonious Monk gespielt und sich dadurch neuen Herausforderungen auf den Gebieten Akkorde, Melodie und Tempo gestellt; er hatte aufgehört, Heroin zu nehmen, und er hatte das Trinken aufgegeben. Was er 1958 machte, war Siegesmusik, Rocky-Musik. Sie ist ganz anders als die Musik seiner zwei frühen Vorbilder Dexter Gordon und Charlie Parker.

„Straight, No Chaser“ vom Februar 1958 (auf Milestones von Miles Davis) und „Dial Africa“ vom Juni 1958 (auf Wilbur Hardens Album Jazz Way Out) zeigen einen Coltrane, der entdeckt hat, wie man sich konzentriert, wie man Geschwindigkeit und Melodie miteinander in Einklang bringt und wie man frohlockt – so wie ein Prediger lernt, nicht nur wie ein passives Schäfchen der Gemeinde zu frohlocken. (Sein Großvater mütterlicherseits, in dessen Haus er aufwuchs, und auch sein Großvater väterlicherseits waren Pfarrer der African Methodist Episcopal Zion Church. In einem Interview mit August Blume beschrieb Coltrane die Religiosität seines Großvaters mütterlicherseits als „militant“.)

Ein unter Durchschnittshörern weit verbreitetes Missverständnis ist, dass ein geübter Jazzmusiker bei der Improvisation seine Ideen vom Himmel pflückt und eine Verbindung zu höheren Gefilden schafft. Falsch. Selbst die befreitesten von Coltranes Soli zeugen von jener Ausdauer, die man nur durch hartes, einsames Üben erwirbt; es ist eine immens durchdachte Musik.

Man kann Dutzende von einzelnen Elementen aus seinen Soli herauspicken, die er an verschiedenen anderen Stellen wieder verwendete.

Für Coltrane war vieles von dem, was vor 1958 passiert war, Ausdruck des Zögerns, einer Phase der Orientierung, gewesen. Junge Jazzmusiker interessierten sich damals wie heute dafür, da sie selbst noch zögern. Die breitere Öffentlichkeit jedoch konnte weniger damit anfangen. Erst als er sich selbst überwand und seinen eigenen Sound endlich gefunden hatte, als er sich als kommerzielles Produkt und als „Kraft des wahrhaft Guten“ gleichermaßen ernst nahm, gestattete er sich diese Zögerlichkeit nicht mehr. Sein Sound entfaltete sich zu voller Blüte, und seine Musik begann in großem Maßstab Gestalt anzunehmen.

Jeder Künstler, ob Autor, Maler, Filmemacher oder Tänzer, kann sich lange hinter dem Dickicht seiner eigenen Sprache verstecken und braucht dabei nie den Kopf über die Vegetation zu erheben. „Jeder erfolgreiche Stil ist ein Zauber, dessen erstes Opfer der Zauberer ist“, hat der Kritiker Clive James einmal geschrieben. Trotzdem kommen immer noch Leute nach Delphi und lauschen gebannt dem Orakel, dankbar, es mit eigenen Ohren vernehmen zu können. Dabei ist es ihnen gemeinhin gleich, ob sich das Orakel selbst behext hat.

Coltrane fand eine Sprache weit jenseits der des Orakels. Er war beständig und vertrauenswürdig. Er sagte, er misstraue sich selbst, auch dann noch, als er immer kraftvoller und origineller spielte. Er verblüffte die Menschen immer wieder aufs Neue und führte eine Veränderung der Ästhetik herbei. Viele Leute, von Wynton Marsalis bis zum ausgeflipptesten Jazzfan, den Sie kennen, können eine Geschichte darüber erzählen, wie John Coltrane ihr Leben oder zumindest ihre Auffassung von Kunst veränderte, wie er sie in ihrer Entschlusskraft stärkte und ihnen zeigte, dass Jazz kein Schulbuch ist, keine Plattensammlung des Vaters und erst recht keine Musik als ein in sich geschlossenes Etwas.

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