Besser fix als fertig

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Besser fix als fertig
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Bernd Hufnagl


Hirngerecht arbeiten

in der Welt des Multitasking


INHALT

COVER

TITEL

PROLOG

KAPITEL 1: DIE LOGIK UNSERES GEHIRNS

Frosch, Aggression und Impulskontrolle

Spitzmaus, Gedächtnis, Emotion und Motivation

Controller, Bewusstsein, Verstand, Vernunft und Sprache

Unterdimensionierter Arbeitsspeicher

KAPITEL 2: STRESS UND INNERE WIDERSTANDSKRAFT

Gelernte Hilflosigkeit

Im Bearbeitungs-, Erwartungs- oder Offlinemodus

Verknüpfte Erfahrungen und innere Überzeugung

Kontrollierbarer und unkontrollierbarer Stress

Stress und vegetative Kontrolle

Innere Widerstandskraft: Resilienz oder Vulnerabilität?

Resiliente Organisationen

KAPITEL 3: ARBEIT UND BELASTUNG

Modeerscheinung Job-Burnout?

Definition und Kernkriterien des Burnout-Syndroms am Arbeitsplatz

Salutuogenese

Ein Nährboden für Überlastung

Präsentismus

KAPITEL 4: ARBEITEN IM „MULTITASKINGMODUS“

Ein typischer Arbeitstag

Arbeitsunterbrechungen

Multitasking: gleichzeitig oder nacheinander?

Auswirkungen von permanenter Ablenkung und chronischem Multitasking

Bietet Multitasking Vorteile?

KAPITEL 5: HIRNGERECHTE MITARBEITERFÜHRUNG

Evolution der Führung

Führung und Rudelverhalten

Akzeptanz von Führung

Leistungsbereitschaft und Optimismus

Kommunikation

Wertschätzung und Multitasking

Delegieren

KAPITEL 6: MOTIVATION, ENTSCHEIDUNGEN UND VERÄNDERUNGSBEREITSCHAFT

Motivation und Gedächtnis

Entscheidungen: ein Wettstreit zwischen Frosch, Spitzmaus und Controller

Der freie Wille

Bauch- oder Vernunftentscheidungen?

Biologische Entscheidungsfallen

Veränderungsbereitschaft

EPILOG

LITERATUREMPFEHLUNGEN

WEITERE BÜCHER

IMPRESSUM

PROLOG

Ist Ihnen das Folgende schon einmal passiert? Sie lesen zehn Minuten lang in einem Buch und bemerken plötzlich, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, was Sie gerade gelesen haben? Ich bin mir fast sicher. Und vielleicht kennen Sie auch dieses Phänomen: Sie sitzen beim Frühstück vor der Tageszeitung, lesen die Headline und die ersten beiden Zeilen eines Artikels und plötzlich … finden Sie sich im nächsten Artikel wieder? Und so geht es quer durch die ganze Zeitung, ohne dass es Ihre bewusste Entscheidung war, alles nur überfliegen zu wollen. Executive reading nennt es der Manager stolz, wenn sein Gehirn täglich unzählige Dokumente und E-Mails in beeindruckender Geschwindigkeit geistig scannt. Dabei glauben wir fest daran, alles Wesentliche auch verstanden zu haben. Mag sein. Aber immer mehr Menschen in unserer Berufswelt ertappen sich leider auch bei folgendem Phänomen: Ein Kollege oder Mitarbeiter spricht mit uns, und – Sie ahnen wahrscheinlich schon, was jetzt kommt – während dieser Mensch spricht, denken wir bereits an etwas völlig anderes. Denn wir sind inzwischen innerlich bereits einen Schritt weiter und tun nur aus Höflichkeit so, als ob wir noch zuhören. Executive listening nennt man die Fähigkeit, sofort zu „wissen“, also zu antizipieren, was gleich gesagt werden wird. Vorschnell gefällte Urteile, die unserer Lebenserfahrung entspringen, machen das möglich. Geduldig und aufmerksam zuzuhören und sein Gegenüber wirklich verstehen zu wollen, ist aber etwas ganz anderes. Der CEO weiß genau: Zuhören ist der erste Schritt zu richtigen Entscheidungen! Aber weiß er auch, dass Aufmerksamkeitsstörungen nicht nur bei Kindern zunehmen? Es ist die Unfähigkeit, sich auf nur eine Sache konzentrieren zu können, die in unserer Arbeitswelt zunehmend zum Problem wird.

Der Trend zum second screen ist voll im Gang: Viele haben sich bereits daran gewöhnt, während sie fernsehen, im Internet zu surfen und gleichzeitig neue E-Mails, SMS, Facebook-, Twitter- und WhatsApp-Nachrichten zu kontrollieren. Unser Gehirn hat darauf bereits reagiert und seine Arbeitsweise an die neuen Herausforderungen angepasst. Über einige dieser Veränderungen können wir uns freuen: Jugendliche SMS-Profis können definitiv schneller tippen als viele Fünfzigjährige. Sie machen beim SMS-Schreiben auch weniger Tippfehler, denn ihr Hirnareal, das für die Steuerung des Daumens zuständig ist, hat sich messbar (!) vergrößert. Ich hatte kürzlich am Flughafen das Vergnügen, einer jungen Japanerin beim hastigen Schreiben einer Nachricht auf ihrem Smartphone zuzusehen: Ich finde, das war zirkusreif. Respekt. So viel Text in so kurzer Zeit, das schaffe ich nicht einmal beim Sprechen. (Und ich spreche schnell …) Gut, man könnte sich fragen, wozu, wenn klar zu sein scheint, dass wir in Zukunft alle Befehle und Eingaben direkt über die Spracherkennung des Computers diktieren werden. Aber vielleicht ist es auch nur Neid, weil ich nicht so schnell tippen kann …

Sehr positiv finde ich auch folgende Beobachtung: Chirurgen, die in ihrer Freizeit häufig Computerspiele spielen, operieren mit computergesteuerten Systemen messbar besser. Die räumliche Vorstellungskraft am zweidimensionalen Computerbildschirm scheint besser ausgeprägt. Liebe Chirurgen, auf zur Spielkonsole! Da die wenigsten Unternehmen Chirurgen beschäftigen, müssen wir wohl versuchen, die Erkenntnisse der Hirnforschung in unsere Arbeitswelt zu übertragen. Wir werden dabei nicht nur die wenigen Vorteile, sondern auch die gut belegten Nachteile unserer Arbeitsweise beleuchten.

In der heutigen Berufswelt arbeiten leider viele Menschen nicht „hirngerecht“. In diesem Buch werde ich darstellen und zu erklären versuchen, was diese Behauptung mit unserem körpereigenen „Belohnungssystem“, unserem Gedächtnis, aber auch mit Arbeitsunterbrechungen und Ablenkbarkeit, Multitasking und unserer sinkenden Veränderungsbereitschaft zu tun hat. Auswirkungen des nicht hirngerechten Arbeitens sind ja bereits erkennbar: Psychische Erkrankungen scheinen rasant zuzunehmen, während gleichzeitig die Belastbarkeit des Einzelnen ebenso schnell abzunehmen scheint. Stress und Burnout werden (leider auch oft undifferenziert) zum Bedrohungsszenario.

 

Das ist erstaunlich, denn immerhin leben wir, objektiv betrachtet, in einem Zustand von Wohlstand und Sicherheit, wie es ihn in unseren Breiten noch nie gegeben hat. Wir könnten jetzt fragen, ob wir möglicherweise dadurch zu „verwöhnt“ oder vielleicht nicht in der Lage sind, erarbeitete oder geschenkte Privilegien teilweise wieder abzugeben. Oder stimmt die Hypothese, dass unsere Arbeitswelt keine idealen Rahmenbedingungen für eine „artgerechte Haltung“ bietet? Sind Führungskräfte und Mitarbeiter Opfer des „Systems“ oder sind wir eigenverantwortlich für die Schaffung hirngerechter Bedingungen?

Ich behaupte, dass wir mehr Leistungskultur brauchen! In unserer Erfolgskultur entsteht zwangsläufig ein Problem mit der individuellen Belastbarkeit und der Lust an der eigenen Leistung, weil hauptsächlich der Erfolg des Systems honoriert wird. Das klingt grundsätzlich nicht unattraktiv, wirft aber die Frage auf, ob der Einzelne die kleinen täglichen Erfolge auch emotional spüren kann.

Das Ziel dieses Buches ist es, die Erkenntnisse, Theorien und Hypothesen der Neurowissenschaften, Evolutions- und Verhaltensbiologie, Psychologie und Glücksforschung vor allem für eine spezielle Zielgruppe zu verknüpfen und aufzubereiten: für Führungskräfte und Mitarbeiter von Organisationen. Menschen also, die Arbeiten erledigen müssen, die andere vorgeben. Die Ziele umsetzen müssen, die primär nicht ihre eigenen Ziele sind, und die täglich schnell möglichst viele Dinge – am besten gleichzeitig – tun sollten.

Die unterschiedlichen Wahrnehmungen und „Sprachen“ der Wissenschafts- und Arbeitswelt allgemein verständlich zusammenzuführen, ist das Ziel meiner beruflichen Tätigkeit. Mein Drang, immer ein „Generalist“ zu bleiben und Fragen grundsätzlich fächerübergreifend beantworten zu wollen, wurde durch einen meiner Lehrer, Rupert Riedl, geprägt und spiegelt sich in diesem Buch wider. So wird dem aufmerksamen Leser bestimmt nicht entgehen, dass sich Begrifflichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschafts- und Businesswelt wiederfinden.

Den Kompromiss der Vereinfachung, der bei der Übersetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in allgemein verständliche Bilder einzugehen ist, muss ich akzeptieren. Das ist nicht ganz so einfach, wie es vielleicht scheint. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dadurch manche sprachliche und inhaltliche Unschärfe der von mir dargestellten Bilder offensichtlich: Ich werde dennoch durch die Verwendung von Begriffen wie beispielsweise Frosch, Spitzmaus, Controller, Arbeitsspeicher, Hardware und Software versuchen, die Vorteile einer einfachen, trennenden und bildhaften Darstellung zu nutzen, um den Leser die evolutionsbiologische „Logik“ unseres Gehirns näherzubringen. Mir ist dabei natürlich bewusst, dass unsere heutige Vorstellung neurobiologischer Abläufe im Gehirn von zusammenhängenden, nicht linearen Netzwerken geprägt ist und nicht von klar getrennten Hirnbereichen. Die Nachvollziehbarkeit der Funktionsweise unseres Gehirns, das sich über Jahrmillionen an völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen und Anforderungen anpassen musste, war mir dabei ein wichtiges Anliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir durch diese bildhafte Vorstellung die Logik unseres Verhaltens besser nachvollziehen und daraus lernen können.

Meine jahrelange Praxis in der universitären Lehre, in Vorträgen, Führungskräftetrainings und Management-Beratungen bestätigt die Nützlichkeit dieser „Übersetzungshilfen“. Mir geht es dabei nicht nur um eine Auflistung spannender und unterhaltsamer Erkenntnisse, sondern darum, die Eigen- und Fremdwahrnehmung zu schärfen und die Motivation zu mehr Achtsamkeit zu erhöhen. Wenn mir das gelingt, ist mein persönliches Ziel erreicht. Daher verzichte ich bewusst zugunsten der besseren Lesbarkeit und aufgrund der Zielgruppe, für die dieses Buchs geschrieben wurde, auf die wissenschaftlich üblichen Zitate und Fußnoten. Ich habe aber versucht, eigene Hypothesen, Gedanken und Erfahrungen deutlich erkennbar zu machen. Die erwähnten Studien sind mit wenig Aufwand im Internet zu finden.

Abschließend noch eine Bemerkung zum Thema „gendergerechtes Formulieren“: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen; alle Leserinnen und Leser sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.


Um zu verstehen, nach welcher Logik und Dynamik unser Gehirn werkt, benötigen wir Einblick in die biologischen Prozesse und deren Logik, die zur Ausbildung dieses speziellen Organs im Laufe der Evolution geführt haben. Wir sollten unsere Herkunft – also unser biologisches Erbe – betrachten, um nachvollziehen zu können, warum wir so denken und handeln, wie wir es tun. Sie werden sehen, dass sich bestimmte Teile unseres Gehirns zu völlig unterschiedlichen Zeiten und Rahmenbedingungen in der Evolutionsgeschichte differenziert und spezialisiert haben. Ich möchte Ihnen gleich im ersten Kapitel schildern, um welche Netzwerke es sich dabei handelt, wie diese Bereiche „denken“ und die Welt um uns interpretieren. In den folgenden Kapiteln werde ich immer wieder auf deren Vernetzung und Kommunikation untereinander hinweisen.

Die im Folgenden geschilderten Hirnteile sind natürlich keine unabhängig voneinander funktionierenden Bereiche. Sie arbeiten nach heutigem Wissen vielmehr als Netzwerk mit spezialisierten Arealen. Verstehen wir aber die speziellen „Eigenheiten“ jener Bereiche, die durch die Umstände und Rahmenbedingungen ihrer Entstehung geprägt wurden und zum Teil jahrmillionenlang annähernd unverändert funktioniert haben, so können wir wichtige Verhaltensweisen unseres Gehirns besser nachvollziehen.

Ein Prinzip der Evolution ist es, altbewährte Strukturen nicht mehr aufgeben zu können, sondern in Funktion und Struktur, immer angepasst an neue Anforderungen, zu ergänzen oder zu überlagern. Ist der Keller eines Hauses also einmal gebaut und tragfähig, so kann das Erdgeschoss nur mehr darauf errichtet werden, wenn zuvor der Keller ganz fertiggestellt wurde. Das gilt auch, wenn man im fertigen Haus dann eigentlich gar keinen Keller mehr brauchen würde.

Bei der Entwicklung eines Menschen (von der Befruchtung der Eizelle bis zum Neugeborenen) wird wie im Zeitraffer unsere gesamte stammesgeschichtliche Entwicklungsgeschichte durchlaufen. Man kann das in der Embryonalentwicklung deutlich sehen. Und es lässt einen fast schaudern, wenn man sieht, dass wir in einem bestimmten Entwicklungsstadium genauso ausgesehen haben wie Hai-Embryos. Von den Fischen und Amphibien zu den primitiven Säugetieren und schließlich zum Menschen durchläuft jeder von uns im Mutterleib die gesamte Evolutionsgeschichte. Es sollte also eigentlich alles an Struktur und Funktionen noch in uns vorhanden sein, was bereits vor Jahrmillionen „erfunden“ und erfolgreich eingesetzt wurde.

Wo sind denn nun die praktischen Kiemen, das einfache Gehirn der Frösche und die (überaus männliche) Ganzkörperbehaarung geblieben? Die Kiemen gibt es bei uns Menschen wirklich, sie treten bei manchen, quasi als „Entwicklungsfehler“, wieder in Erscheinung. (Ich kenne sogar jemanden, der diese Kiemenanlagen ausgebildet hat. Hübsch sind sie jedenfalls nicht. Und ihre ursprüngliche Funktion erfüllen sie leider auch nicht. Schade). Bei der Ganzkörperbehaarung gilt Ähnliches, und wenn man Pech hat, ist auch noch das gesamte Gesicht behaart. Da wird die morgendliche Rasur zu Ganztagsbeschäftigung. Auch bei Frauen.

Bei der Suche nach dem Verbleib des Froschgehirns wird es nun spannend und es soll uns zum eigentlichen Thema leiten.

FROSCH, AGGRESSION UND IMPULSKONTROLLE

Die erste Erkenntnis, die uns einem besseren Verständnis näherbringen soll, ist erst rund hundert Jahre alt und stammt aus der Neuroanatomie: Wenn man ein Stück Gewebe aus unserem Hirnstamm und Kleinhirn (einem basalen, entwicklungsgeschichtlich sehr alten Bereich unseres Gehirns) mit dem Hirnstamm und Kleinhirn heute lebender Frösche vergleicht, ist das mikroskopische Erscheinungsbild der beiden Gewebsproben auffällig ähnlich. Sie haben denselben grundlegenden Bauplan, man könnte sagen: dieselbe Hardware, also denselben Prozessor.

Die erste spannende Frage lautet also: Zeigt dieser Teil unserer Hardware, den wir seit rund 300 Millionen Jahren mit Amphibien als gemeinsames Erbe in uns tragen, auch noch immer dieselbe Input-Output-Logik? Ist noch immer die Software, die für das Überleben der ersten Landlebewesen programmiert worden ist, in uns aktiv? Sieht also ein Teil in uns auch jetzt – in dieser Sekunde – die Welt so, wie es ein Frosch tun würde, wenn er vor diesem Buch säße? Sie ahnen es schon: Ja! Denn neben den autonom ablaufenden Vitalfunktionen (wie Herzschlag, Atmung und dem Erlernen und der Koordination von Bewegungsabläufen) können in diesem Netzwerk, das wir von den Fröschen „geerbt“ haben, drei ganz zentrale Verhaltensimpulse ausgelöst werden, die schon Frösche zum Überleben benötigten:

Erster Impuls: Friss alles auf, was du siehst – und zwar alles!

Zum Thema Ernährung ist es nicht unwichtig, zu wissen, und nachvollziehbar, dass Millionen Jahre an Nahrungsknappheit einen Nahrungstrieb mit dieser Logik zur Folge hatten. Die Abhängigkeit (speziell des menschlichen Gehirns) von Zucker hatte zusätzlich die Koppelung mit unserem Belohnungssystem zur biologischen Folge. Um sicherzustellen, dass wir jede Zuckerquelle nutzen, werden wir bei Zuckerkonsum (und dabei genügt bereits der Anblick einer Süßspeise!) durch die Produktion des Belohnungshormons Dopamin belohnt. Wir sind also regelrecht „angefixt“ worden. Die bedrohliche Zunahme von Typ-II-Diabetikern („Altersdiabetiker“ – bereits bei unter Zehnjährigen zu finden) ist eine klare Folge des Überangebots an Zucker und nicht eine Folge von Unwissen über dessen Schädlichkeit! Die günstigen Preise für überzuckertes „Junkfood“ im Vergleich zu Obst und Gemüse tragen den Rest zur Misere bei.

Zweiter Impuls: Fortpflanzung

Ohne Sex keine Arterhaltung. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Sexuelle Fortpflanzung zwischen männlichen und weiblichen Organismen ist biologisch gesehen die „Version 2.0“ der Vermehrung. Die ursprüngliche Variante ist deutlich einfacher, wenn aber auch bestimmt nicht gerade lustvoll: Teilung. Jedenfalls hat sexuelle Fortpflanzung genetische Vorteile und hat sich bei komplexeren Organismen durchgesetzt. Mit einem entscheidenden Nachteil: Konkurrenz. Sie kennen das. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen, denn es begegnet uns, oft gut getarnt, im beruflichen Alltag wieder.

Dritter Impuls: Aggression

Er war ein geniales Selektionsprodukt der Evolution und ermöglichte den Umgang mit Konkurrenten um Nahrung und attraktive Sexualpartner. Der Aggressionstrieb läuft in drei automatisch aufeinanderfolgenden „Zündstufen“ ab: Stufe 1: „Schlag zu!“ Gelingt das nicht, weil der Gegner stärker ist, dann zünden wir Stufe 2: „Hau lieber ab!“ Und wenn das nicht funktioniert, weil der Weg versperrt ist, dann wird die finale Stufe gezündet: „Stell dich tot!“ Angriff, Flucht oder so tun, als ob wir nicht da sind: ein einfaches und erfolgreiches Programm, das uns in unterschiedlichsten Ausprägungen auch im Büroalltag begegnet. Jeder von uns, der schon einmal seine voreilig geschriebene, aggressive E-Mail am nächsten Tag noch einmal gelesen hat, ahnt jetzt, wer schuld ist: Der Frosch in uns hatte Stufe 1 gezündet. Bumm.

Auch den Fluchtreflex kennen wir aus eigenem Erleben: Ein unangenehmes Gespräch mit dem Vorgesetzten sorgt bei vielen für den spürbaren Drang, den Raum sofort verlassen zu wollen. Im Froschgehirn wird dabei also hektisch und schon leicht verzweifelt Stufe 2 abgefackelt.

Und durch bestimmte Lebensumstände und entsprechende Handlungsunfähigkeit in die Enge getrieben, kann es passieren, dass die finale Stufe gezündet wird: Wir stellen uns tot. Damit sind nicht jene Kolleginnen und Kollegen gemeint, die sich geschickt hinter Schreibtisch und Bildschirm verstecken und so tun, als ob sie nicht da wären. Es betrifft leider jene, die wirklich nicht mehr können und unter plötzlich auftretenden Antriebsstörungen leiden.

 

Eine weitere wesentliche Eigenheit des „Froschgehirns“ besteht darin, dass Erlebnisse in diesem Netzwerk für nur zirka zwei Minuten gespeichert, also erinnert, werden können. Das bedeutet, dass unser Hirnstamm, der fressen, kopulieren und bei Bedrohung aggressiv sein muss, nach zwei Minuten wieder vergessen hat, was gerade passiert ist. Wunderbar, oder? Diese „leichte“ Einschränkung in der Erinnerungsfähigkeit funktioniert gut, solange die Fortpflanzungsstrategie eine Strategie der Massenvermehrung ist, bei der durch die hohe Anzahl der Nachkommen per Zufall genügend überleben, um die Arterhaltung zu sichern: Die Triebhandlung zum Ablaichen wird bei Froschweibchen durch den Anblick eines Feuchtbiotops ausgelöst. Hat das Weibchen abgelaicht, verlässt es den Ort des Geschehens, hat nach zwei Minuten alles wieder vergessen und zieht weiter. (Gut so, da kommt es wohl nicht vor, dass Karl-Heinz nach 30 Jahren noch immer zu Hause bei Mama wohnt. Dieses Problem muss wohl erst später entstanden sein.) Es gibt zwar bei einigen weiter entwickelten Froscharten Triebhandlungen, die der Brutpflege von Säugetieren ähneln, dies stellt aber kein durch Bindungstriebe ausgelöstes Verhalten dar. Energieinvestition in eine aufwendige Brutpflege ist bei der Massenvermehrung einfach nicht notwendig.