Loe raamatut: «Tödlicher Skorpion»

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BERND KAUFHOLZ


Tanja Papenburgs erster Fall

KRIMI

mitteldeutscher verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Anmerkung

Tödlicher Skorpion

Impressum

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Tanja Papenburg wälzt sich in ihrem Bett hin und her. Immer wieder durchschütteln sie Hustenanfälle. Sie hat sich eine Erkältung eingefangen. Eine heftige. Vor zwei Tagen noch hatte sie den schniefenden Kollegen in ihrer Kanzlei mit siegessicherem Lächeln auf den Lippen gesagt, dass sie in diesem Winter wohl nichts umhauen kann. Sie war sich doppelt sicher. Schließlich hatte sie sich gleich zweimal impfen lassen: Gegen die normale Influenza und, wie es in diesem Jahr Mode ist, auch gegen die Schweinegrippe.

Doch das Lachen war ihr bereits einen Tag später eingefroren. Es fing mit einem leichten Kratzen im Hals an, die Augen röteten sich und brannten, dann lief ihre Nase schneller als Usain Bolt bei der Leichtathletik-WM in Berlin. Und nun der Husten.

Schweißgebadet wälzt sich die Fiebernde auf die linke Seite. Sie tastet nach dem Wecker, der auf ihrem Nachttisch steht. Wie immer liegt das Made-in-Hongkong-Teil aus schwarzem Plastik unter einem Wust von Zeitungen und Krimis. Zehn Minuten nach drei, registriert Tanja seufzend, nachdem sie das Papierdickicht zur Seite geschoben und die Leuchtzahlen entziffert hat.

Ein wenig neidisch hört sie die gleichmäßigen Atemzüge und das leise Schnarchen ihres Mannes. Dann quält sie sich mit einem Seufzer hoch und tritt ans Schlafzimmerfenster. Sie schiebt die beigefarbenen Vorhänge zur Seite und schaut hinaus. Es schneit schon den dritten Tag. Der Hausgarten und der Wald, der direkt an den grünen Maschendrahtzaun grenzt, liegen unter einer dicken Decke. Die Fichten biegen sich unter der Last des Schnees. Lautes Knacken verrät, dass die äußerste Belastbarkeit der Äste erreicht ist. Wo sich die Blumenrabatten befinden, ist nur an einigen traurigen Stängeln vertrockneter Pflanzen, die im Herbst nicht abgeschnitten wurden, zu erkennen. Die Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite beleuchtet schwach einige Katzenspuren. Sie sind wie ein ungleichmäßiges Muster ins Weiß gestanzt.

‚Ein Tee wäre jetzt gut‘, überlegt sich die Frau mit den kurzen pechschwarzen Haaren. Oder vielleicht doch lieber eine heiße Zitrone? Leise, um ihren Mann nicht zu stören, geht sie zur Tür. Behutsam drückt sie die Plastikklinke herunter und ärgert sich im selben Moment wieder über die hässlichen weißen Türen., Es gibt noch eine Menge zu tun, bis ich mich hier richtig zuhause fühle‘, denkt Tanja Papenburg, als sie ins Erdgeschoss hinuntergeht.

Die Rechtsanwältin wohnt erst seit einem knappen Jahr in der 2.000-Einwohner-Gemeinde Wahlbrück an der Elbe. Und der Schritt, von der Landeshauptstadt Magdeburg in das Haus am Waldrand zu ziehen, war ihr nicht leichtgefallen. Doch ihrem Mann zuliebe hatte sie ihre Abneigung gegen einen Wohnort, der mehr als fünf Schritte vom Arbeitsplatz entfernt liegt, zurückgestellt und fährt seitdem täglich zwanzig Kilometer bis zur Kanzlei und wieder zurück. Zähneknirschend. Oft auch lamentierend. Aber sie fährt. Nach ihrem Jurastudium hatte sie es sich nicht träumen lassen, einmal regelmäßig so früh aus den Federn zu müssen. Und mit ihren vierzig Jahren scheint die Last von Tag zu Tag schwerer zu werden.

Heute Nacht, mag sein, dass das Frostschütteln und der Husten den Wunsch nach den alten Zeiten verstärkt, flüstert sie: „Wie einfach war es doch früher. Raus aus dem Bett und die hundert Meter bis ins Büro ... “

Kathrin Meltzer ist Geschäftsführerin. Sie hat ein Gewerbe, das in Magdeburg und Umgebung noch recht selten ist – selbst zwanzig Jahre nach der Deutschen Einheit – jedoch einen ebenso großen Kundenkreis hat wie im Westen. Meltzer leitet ein Bordell. Das Wort „Puffmutter“ hört sie jedoch nicht so gern. Nach außen firmiert sie als Chefin einer Nachtbar. Und das „Kalinka“, nur wenige Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt, am Ortseingang von Warkheide, ist ein beliebtes Etablissement. Es hat sich längst vom Taxifahrer-Geheimtipp zur Goldgrube für seine Besitzerin gemausert.

Doch in dieser Nacht ist es ruhig. Nur wenige Männer, darunter zwei, drei Stammgäste, suchen für ein paar Stunden weibliche Gesellschaft. Die meisten nur schnellen Sex.

‚Frau Kathi‘, wie sie von den Mädchen genannt wird, steht hinter der kleinen Bar gleich links neben der Tür. Sie spült lustlos ein paar Sektgläser und schaut sich im Schummerlicht des Raums um. In der halbrunden Kunstlederecke sitzt ein älterer Mann mit Glatze., An die sechzig‘, schätzt sie. Ein Taxifahrer hat ihn vor einer knappen Stunde die Stufen bis in die erste Etage geführt, dorthin, wo kaltes Rotlicht für heiße Stunden wirbt: „Wir wissen, worauf Männer scharf sind!“ Der Gast im braunen Anzug, der irgendwie nicht zu seinem Äußeren zu passen scheint, hat den Kopf auf die Hände gestützt und die Augen geschlossen., Nicht mehr ganz nüchtern‘, verstärkt sich bei der Geschäftsführerin und Bardame in Personalunion der Eindruck, den sie schon hatte, als der Mann den Nachtclub durch den Perlenvorhang betrat. Nicht zum ersten Mal, wie sie sich beinahe sicher ist.

Neben der kleinen Spiegelfläche mit der chromglänzenden Tanzstange lärmen mehrere Männer. Das Ende einer Firmenfeier. Beim Jüngsten der Fünfmännerrunde wird die Aufregung vorm ersten Mal im Puff mit Schnaps weggespült. „Als ich so alt war wie du, war ich schon fast das zweite Mal verheiratet!“, protzt ein Untersetzter, und ihm fällt dabei beinahe die Zigarette aus dem Mund. Lachen und Schulterklopfen: „Das wird schon wer’n mit Mutter Bär’n, mit Mutter Horn is ooch jewor’n. Immer druff uff de Mutter.“

Ganz hinten, kaum noch von der Bar aus zu erkennen, gestikulieren zwei Gäste mittleren Alters mit Damen des Hauses. Kathi erkennt Cindy und Miriam, die Vollbusige mit der Streichholzfrisur und die Superschlanke mit der wallend-roten Milva-Mähne.

Nur wenige Meter vom Bartresen entfernt, in der Eingangsecke des Raums, die ein wenig besser beleuchtet ist als der Rest des Raumes, steht der Tisch mit den Frauen. Acht „Stammgäste“, wie die Prostituierten hier genannt werden, girren auf Sofa und Sesseln. Iwana aus Bulgarien hat heute Geburtstag. Auf dem Tisch ein paar Flaschen „Rotkäppchen“ für ihre Kolleginnen. Ohne den sonst üblichen Aufschlag, der das Zehnfache des Einkaufspreises übersteigt.

Wie gesagt: Eine ruhige Nacht.

Jedenfalls bis kurz nach drei Uhr. Aus dem Lautsprecher schmelzen Jane Birkin und Serge Gainsbourg ihr „Je t’aime“ auf kleiner Flamme, als ein kreischender Schrei die Kuschel-Stimmung von einer zur anderen Sekunde kippen lässt. Ein zweiter Schrei – nicht ganz so laut. Dann steht eine Barbusige mit weit aufgerissenen Augen vor den tanzenden Perlenschnüren. Die Schrecksekunde ist zu greifen. Die Gäste starren auf die Frau, die versucht, etwas zu sagen.

Schritte poltern hinter dem Vorgang, durch den die Treppe ins Parterre führt und wo sich der Gang befindet, von dem die Zimmer abgehen. Der Rausschmeißer, der am Eingang gerade einen neuen Gast empfangen wollte, nimmt gleich zwei Stufen auf einmal.

„Tot, tot, alles Blut, tot!“, stammelt die Mittzwanzigerin im grün glitzernden String-Tanga und stützt sich auf einen der vier Barhocker.

Die Gäste haben es plötzlich ziemlich eilig. Gegenstand von polizeilichen Ermittlungen zu werden, darauf hat niemand Lust. Nur der Glatzkopf im Kunstleder-Halbrund scheint sich für die Hektik, die nun das musikalische Stöhnen des französischen Gesangduos übertönt, nicht sonderlich zu interessieren. Seit dem ersten Schrei hat er sich nicht im Geringsten gerührt. Sein Kopf liegt immer noch auf den Fäusten. Seine Augen sind schmale Spalte.

Kathrin Meltzer wischt sich ihre feuchten Spülhände an einem Handtuch ab. Dann geht sie um den Bartresen mit der Batterie bunter Etiketten herum. Sie nimmt die Zitternde in den Arm: „Was ist los? Wer ist tot?“ Coco zeigt nach hinten: „Zimmer drei. Ukraine. Hals ab.“ Die Chefin versucht, ruhig zu bleiben. „Ihr bleibt hier!“, ruft sie den Mädchen zu, die zum Ausgang drängen. „Coco, du gehst vorneweg. Aleks“, wendet sie sich an den bulligen Türsteher, „du kommst mit.“

Das Trio durchklackert den Holzperlenvorhang, lässt die Treppe links liegen und steht nach wenigen Schritten im halbdunklen Flur. Zimmer drei ist das zweite auf der rechten Seite. Die Tür steht halb offen. „Ich nicht rein“, schüttelt die Halbnackte mit dem exotischen Künstlernamen heftig den Kopf. „Ich Angst ... “

Der Mann mit den Drachen-Tattoos auf den Oberarmen schiebt die beiden Frauen zur Seite und betrachtet von der Schwelle aus die Szenerie.

Die Ukrainerin in Rückenlage. Nackt. Ihre Arme sind nach oben ausgestreckt und liegen eng am Kopf an. Petrykhas Gesichtszüge sind kaum zu erkennen. Alles ist mit Blut überzogen. Am Hals klafft eine breite Wunde.

Im Kontrast zu der grauenhaften Verletzung steht das knapp einen Meter lange Plüschtier, das zwischen den leicht gespreizten Beinen der Frau bis hinauf zur Brust reicht. Das grüne Krokodil mit den dreieckigen, gelben Rückenzacken wirkt wie ein Wesen aus einer anderen Welt – einer freundlichen, kindlichen, ohne Schrecken und Tod.

Der Türsteher macht einen Schritt nach vorn. Im selben Augenblick hält ihn seine Chefin zurück: „Nein, keinen Schritt weiter. Guckst du nie Krimis? Bleib hier stehen und pass auf, dass keiner reingeht. Und du“, dreht sie sich zu Coco um, „zieh dir was über.“

Dann geht Meltzer zum Telefon. Mit ihrer gespielten Beherrschung ist es nun vorbei.

Tanja Papenburg hat die Knie unter ihr Kinn gezogen. Eingehüllt in eine schwarze Wolldecke, nippt sie an einem Pott Fencheltee mit Zitrone. Ihr graut es vorm kommenden Arbeitstag: Akten über Akten. Dazu noch zwei Termine im Justizzentrum: eine Scheidung, eine Unterhaltssache. Sie drückt zwei Grippekapseln durch die Folie. Da klingelt das Telefon. Sie zuckt zusammen. Ihre erste Reaktion: ‚Bestimmt falsch verbunden – so mitten in der Nacht.‘ Doch nach dem dritten Ton ändert sie ihre Meinung: Vielleicht ist ja was mit der Familie. Sie schält sich aus der Wolle und greift zum Hörer: „Ja, bitte ...?“

„Meltzer hier, Kathrin Meltzer vom, Kalinka‘. Erinnern Sie sich noch an mich?“, überschlägt sich die Stimme am anderen Ende der Leitung.

‚Meltzer, Meltzer, Meltzer‘, rattert es durch das Namengedächtnis der Anwältin. Meltzer? „Nein, tut mir leid, ist mir gerade nicht momentan“, näselt Tanja Papenburg. „Was gibt es denn um diese Uhrzeit Wichtiges?“, fragt sie nun ihrerseits und versucht dabei, nicht allzu unfreundlich zu klingen.

„Sie haben mich doch vor zwei Jahren bei meiner Scheidung vertreten“, versucht die Nachtclub-Besitzerin der Juristin auf die Sprünge zu helfen.

„Und das kann nicht bis zu einer humaneren Tageszeit warten?“, wird Papenburg nun doch ungehalten.

„Nein, nein, darum geht es gar nicht. Ich habe doch diesen Club in Warkheide. Und da ist was passiert“, bleibt sie erst vage. Dann senkt die Geschäftsfrau ihre Stimme: „Eine Frau ist tot.“

Die Rechtsanwältin ist elektrisiert, ihre Erkältung fast vergessen. „Tot? Wie, tot?“

„Ich glaube, sie wurde umgebracht.“

„Haben Sie schon die Polizei angerufen?“

„Nein. Ich wollte erst einmal mit Ihnen sprechen. Sie wissen doch selbst: Ein Haus wie meines. Dann eine Tote. Da stecke ich doch ganz schön im Schlamassel.“

‚Das stimmt‘, geht es Tanja Papenburg durch den Kopf. Doch sie behält den Satz für sich. Spürt sie doch, dass die Frau am anderen Ende der Leitung kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht.

„Was haben Sie sich vorgestellt?“, nimmt sie den Gesprächsfaden wieder auf und versucht, betont ruhig zu wirken.

„Können Sie nicht herkommen?“, fragt Kathrin Meltzer.

,Das geht nicht‘, ist der erste Gedanke, der der Anwältin durch den Kopf schießt. Doch der zweite ist: Warum eigentlich nicht? Wenn die Frau anwaltliche Hilfe braucht. Und irgendwie reizt sie die Sache auch. Nicht nur einmal hat sie die Strafrechtler unter ihren Kollegen beneidet.

„Gut, ich komme“, schnieft sie durch den Hörer. „Aber nichts anfassen.“ Dann legt sie auf.

Tanja Papenburg wirft die Decke in eine Sofaecke und geht in die obere Etage zurück. Sie springt unter die Dusche und steht zehn Minuten später am Bett ihres Mannes. Sie überlegt einen Augenblick, ob sie ihn wecken soll. Doch dann entscheidet sie sich dagegen. Sie schreibt eine kurze Nachricht auf das Kreuzworträtsel, das Oliver am Abend vorm Einschlafen gelöst hat: „Muss dringend zu einer Mandantin. Mach Dir keine Sorgen! Kuss, Tanja.“

Als sie in ihrem schwarzen VW mit der Golfball-Beule über dem Nummernschild sitzt, ist sie sich nicht mehr ganz so sicher, ob sie das Richtige tut. ‚Was will ich da eigentlich?‘, fragt sie sich. ‚Da kannst du dir doch nur Ärger einhandeln.‘ Doch da ist sie schon an der Autobahnabfahrt Magdeburg, und über die Hälfte des Weges ist geschafft.

Am Ortseingang von Warkheide fährt sie rechts auf den Schotterparkplatz hinter dem Gebäude mit den blinkenden Leuchtstoffröhren-Herzen. Die Fenster der Etage über dem Heimwerker-Markt sind schwach erleuchtet. Sie will gerade im Parterre klingeln, als die Tür aufspringt. Die Überwachungskamera hat ihr Kommen angekündigt, und Türsteher Aleks war schneller als ihr Zeigefinger.

Ein kurzes Nicken des Zwei-Meter-Mannes ist das Höchstmaß an Freundlichkeit, das man von ihm erwarten kann. Er zeigt nach oben: „Die Chefin wartet schon.“ Auf der Bar-Etage angekommen, schiebt die Rechtsanwältin den Perlenvorhang zur Seite. Am Tisch rechts sitzen die Frauen. Hinter dem Bartresen steht Kathrin Meltzer in ihrem tief dekolletierten Schwarzen. Als sie die Juristin erkennt, schießt sie um die Hocker herum und drückt der Anwältin erleichtert die Hand, so, als seien bereits mit dem Erscheinen Papenburgs all ihre Probleme gelöst. „Schön, dass Sie da sind. Ich habe Aleks gesagt, dass er keinen rauslassen soll. Aber einige Gäste sind wohl gleich, nachdem wir die Schreie gehört haben, stiften gegangen“, sagt die Geschäftsführerin.

„Wollen wir hier reden?“, fragt die Rechtsanwältin. „Nein, wir gehen in mein Büro“, antwortet die Bar-Chefin.

Um dorthin zu gelangen, müssen die beiden Frauen am Zimmer mit der goldenen „3“ vorbei. Papenburg: „Ist das hier?“, deutet sie auf die geöffnete Tür. Meltzer nickt. Die Anwältin betritt den Raum. Die Nachttischlampe ist durch ein rotes Tuch abgedunkelt. Papenburg registriert den kleinen Schminktisch mit den Plüschtieren darauf und dem Polsterhocker davor, das breite Bett mit der Toten auf der knallroten Tagesdecke. Das Fenster ist vergittert und die Jalousie heruntergelassen. Die feine Nase der Juristin nimmt den schweren Geruch wahr, der ihr entgegenschlägt: Schweiß, nicht ganz überdeckt von billigem, süßlichem Deodorant.

Die Vierzigjährige nimmt ihren ganzen Mut zusammen und tritt an das französische Bett heran. Dabei achtet sie darauf, dass sie nicht in die große Blutlache tritt, die sich neben der Schlafstatt gebildet hat. Sie hat das Gefühl, dass sich gleich ihr Magen umdrehen wird. Sie schluckt, als sie die drei Schritte geht, krampfhaft dagegen an. Ihr Gehirn arbeitet wie das eines Roboters. Sie versucht, nicht in das nahezu unkenntliche Gesicht der Toten zu sehen, vielmehr tastet sie den Körper mit ihren Blicken ab. Als sie auf die verkrampften Hände schaut, die die Ermordete durch das Kopfteilgitter gesteckt hat, stutzt sie. Sie tritt noch etwas näher und sieht eine paar Kettenglieder zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand.

Ohne sich in diesem Moment Gedanken darüber zu machen, dass sie möglicherweise die Ermittlungen der Mordkommission behindern könnte, zieht sie das kleine goldene Schmuckstück aus der Hand des Leichnams. Am unteren Ende hängt ein wie ein Fünfzig-Cent-Stück großer Anhänger, ein Tierkreiszeichen – ein Skorpion.

Schnell steckt Papenburg das Kleinod in ihre Jeanstasche, ohne dass Meltzer etwas gesehen hat. Dann geht sie zur Chefin des Etablissements zurück, die an der Tür gewartet hat.

„Wir müssen reden!“, sagt sie schärfer, als sie eigentlich wollte und spürt in diesem Augenblick wieder eine Fieberwelle in sich aufsteigen.

Das Hin- und Hergetrappel auf dem Laminatfußboden ist abgeebbt. Und auch das Gemurmel, das der schwitzende Mann in seinem Versteck noch eine Zeitlang vom Gang her gehört hat, hat sich entfernt.

Er sucht mit zitternder Hand in seiner Hosentasche ein „Tempo“. Er tupft sich das feuchte Gesicht und spürt, dass dabei Zellstofffusseln an seiner Nase kleben bleiben. Mit einer Handbewegung wischt er sie weg. Dann öffnet er leise die Tür der kleinen Abstellkammer mit den Reinigungsgeräten und den Flaschen mit Chemikalien. Vorsichtig lugt er ins Halbdunkel. Niemand da.

Der Untersetzte mit dem auffälligen Grübchen am Kinn blickt sich im Flur um und sieht an der Stirnwand zwei Fenster. Er öffnet das linke und sieht direkt daneben die Dachrinne nach unten laufen. Kurz entschlossen schwingt er sich auf das Fensterbrett und hält sich am Fallrohr fest. Er klettert die wenigen Meter bis nach unten.

Der Mann läuft über die kleine Rasenfläche bis zur Hauptstraße. Ein paar Schritte weiter biegt der Mann mit den kurzen Beinen in eine Sackgasse ein. Dort hat er sein Auto geparkt. Bei seinen Besuchen des Etablissements will er nicht erkannt werden. Sein Jaguar XJ12 in weinrot-metallic mit der auffälligen Nummer „JL-JL 6666“ hat die Wirkung einer Visitenkarte.

Der Bordell-Gast ordnet seine Kleidung, zieht sich die knallrote Krawatte glatt und wirft sich auf den Fahrersitz. Mit einem kraftvollen Brummen springt der Zwölf-Zylinder „Sovereign“ an.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragt Kathrin Meltzer in ihrem kleinen Büro gleich hinterm Bartresen. Tanja Papenburg schüttelt den Kopf: „Vielleicht einen Tee“, antwortet sie. Die Geschäftsführerin des „Kalinka“ drückt den roten Knopf am Wasserkocher und hängt einen Beutel „Grüntee Orange“ in eine dickbauchige Tasse, die die Form eines nackten Frauen-Oberkörpers hat.

Die Luft muffelt nach altem Fett, die von einer halbvollen Pommes-Pappe aufsteigt, und nach kaltem Rauch von den ausgedrückten „JPS“ im überquellenden Aschenbecher. Angespanntes Schweigen. Es hat den Anschein, als ob jede der beiden Frauen darauf wartet, dass die andere das Wort ergreift. Die Etablissement-Chefin gibt sich einen Ruck: „Wie soll es nun weitergehen?“

„Wir müssen die Polizei informieren. Das ist hier eine Nummer zu groß für mich. Ich werde mir wohl jetzt schon Ärger eingehandelt haben“, sagt die Rechtsanwältin und denkt an ihre Berufszulassung.

„Und wenn ich Ihnen einen offiziellen Auftrag erteile, so mit Honorarvertrag und allem Drum und Dran, sich um die Sache zu kümmern?“

Die Schwarzhaarige will sofort ablehnen. Doch dann schluckt sie das „Nein“ herunter, das sie herausplatzen will. ‚Wie im Krimi‘, denkt sie und findet es erneut hochspannend, nicht vorm Familienrichter um die Anzahl der Umgangstage von Scheidungskindern zu streiten oder für ihre Mandanten in einer Erbschaftsauseinandersetzung das Maximale herauszuholen. „Wie haben Sie sich das vorgestellt?“, will sie wissen. „Na irgendwie Licht in die Sache bringen, damit es nicht heißt: Rotlicht, Drogen, Mord, das gehört doch alles zusammen. Seit Jahren versuche ich hier alles so transparent wie möglich zu machen. Wenn nur ein kleiner Kratzer an dem Haus bleibt, kann ich doch den Laden dichtmachen.“ Außerdem habe sie sowieso schon genügend Ärger mit der Polizei. „Hin und wieder hat hier mal eine Illegale angeschafft, ohne Arbeitserlaubnis, nur mit Touristenvisum. Noch solch ein Ding, hat man mir gesteckt, dann ist Schluss mit lustig.“

„Lassen Sie mir einen Tag Zeit, um mich zu entscheiden“, will Papenburg nichts übers Knie brechen und sieht im Gesicht ihres Gegenübers sofort die zwiespältigen Gefühle: Enttäuschung darüber, dass sie nicht sofort zugesagt, aber auch Erleichterung, dass sie nicht kategorisch abgelehnt hat.

„Wir telefonieren morgen“, sagt die Anwältin, die nun wieder das Gefühl hat, dass ihr gleich der Kopf zerspringt. „Nur noch eins: Wenn gleich die Kripo kommt, kein Wort darüber, dass ich hier war. Und machen Sie das auch ihrem Türsteher und den Frauen klar.“ Meltzer nickt: „Versprochen.“

Papenburg wirft sich die abgesteppte schwarze Daunenkutte über. ‚Könnte auch mal wieder etwas Neues werden‘, geht es ihr durch den Kopf. Und sie denkt an ihre Kolleginnen, die nicht ein einziges Mal in der Woche dieselbe Bluse oder denselben Rock tragen.

An der Treppe wartet Aleks. Er begleitet sie die Stufen bis zur dreifach gesicherten Eingangstür hinunter. „Ich war nicht hier“, sagt die Anwältin mit kratziger Erkältungsstimme. Und schon fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.

Im selben Moment wählt die Bar-Chefin die 110.

Draußen dämmert es bereits, als bei Hartmut Mueller das Telefon klingelt. Der Erste Kriminalhauptkommissar, der in wenigen Tagen seinen fünfzigsten Geburtstag feiert, legt den Rasierapparat zur Seite und greift zum Hörer. „Mueller“, knurrt er unausgeschlafen ins Telefon, hat er doch die halbe Nacht bei Ermittlungen in einem Tötungsdelikt im Harz zugebracht. „Lageführungszentrum, Liesegang“, meldet sich eine Stimme. „Wir haben Arbeit für euch.“

„Was gibt’s?“, fragt der Magdeburger Chefermittler in Sachen Mord und Totschlag.

„Im ‚Kalinka‘, in Warkheide, liegt ’ne Tote, Halsschnitt“, erklärt der Beamte vom LFZ. „Gegen 5.30 Uhr lief die Meldung über Polizeinotruf auf. Wir haben dann gleich eine Funkstreife vom Revier hingeschickt. Die Kollegen haben die Sache bestätigt. Da liegt eine Prostituierte in ihrem eigenen Blut. Die Rechtsmedizin ist schon informiert.“

Mueller hat sich beim Telefonieren Hemd und Jeans übergestreift. „Ich fahre direkt nach Warkheide“, sagt er und drückt die rote ‚Aus‘-Taste an seinem Diensthandy.

Tanja Papenburg sitzt in ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock der alten Gründerzeitvilla am Rande des Magdeburger Zentrums. Durch die knorrigen Äste der alten Kastanien sieht sie auf den kleinen Park mit den Autostellflächen.

Die Rechtsanwältin ist gar nicht erst nach Hause gefahren. Sie ist zwar hundemüde nach der schlaflosen Nacht, aber sie war sich sicher, kein Auge schließen zu können, nachdem sie Teil eines Mordfalls geworden ist.

Vor sich hat sie ein Rosinenbrötchen, das sie vom Bäcker um die Ecke mitgebracht hat. Sie kaut das süße Teil mit wenig Appetit. Hin und wieder greift sie zur Teetasse neben dem Aktenstapel und nimmt einen Schluck. Doch mit ihren Gedanken ist sie noch im „Kalinka“. Je länger sie darüber nachdenkt, desto unwirklicher kommt ihr die Situation vor. Sie, die von ihren zwei Brüdern schon in frühester Jugend als „Hasenfuß“ gehänselt wurde, hat Angst vor der eigenen Courage., Da hast du einen kapitalen Bock geschossen‘, ist sie sich sicher.

So in Gedanken versunken, hört sie kaum den erstaunten Gruß von der Tür: „Na, Frau Papenburg, wohl auch kein Zuhause?“ Erst, als der Kollege noch ein lautes und gedehntes „Guten Mooorgen!“ hinterherschickt, wendet sie sich ihm zu.

„Na, besonders ausgeschlafen sehen Sie aber auch nicht aus“, versucht sie einen Scherz.

„Familienfeier – ist ein bisschen später geworden“, winkt der Untersetzte ab und rückt seine rote Krawatte zurecht. Dann wendet er sich ab, und Papenburg hört Hans-Joachim Loth die Treppe zum Obergeschoss hinaufgehen.

Die Vierzigjährige steht auf. Sie hat das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Sie öffnet das Fenster einen Spalt. Dabei fällt ihr Blick auf den Wagen des Kollegen – einen Jaguar XJ12 – in weinrot-metallic.

Hartmut Mueller biegt auf den Schotterparkplatz hinter dem „Kalinka“ ein. Den beiden Schutzpolizisten, die mit ihrem blau-weißen VW-Bulli den Weg freimachen, winkt er einen knappen Gruß zu.

Im Gebäude sind die Männer in ihren weißen Kombinationen bereits bei der Arbeit.

„Wer ist hier der Chef im Lokal?“, fragt er einen Kollegen vom Revierkriminaldienst. „Und wo liegt die Tote?“

Der Kriminalist zeigt nach rechts. „Die Puff-Mutter sitzt in ihrem Büro hinter der Bar und hat eine Stinklaune. Die blutige , Matratze‘“, deutet er nach links, „liegt in Zimmer drei – immer der Nase nach.“

Mueller findet die Zote zwar geschmacklos. Doch er weiß auch, dass Ermittler, die nicht jeden Tag etwas mit Toten zu tun haben, oft dieses Ventil brauchen, um mit der Situation klarzukommen.

Der Erste Kriminalhauptkommissar wendet sich zuerst nach links. Er stößt im halbdunklen Gang beinahe mit der Rechtsmedizinerin zusammen. Sie streift gerade ihre Handschuhe über. „Guten Morgen, Frau Doktor Reinhold!“, grüßt Mueller. „Na, schon etwas gefunden?“

„Nun mal langsam, Herr Kriminalrat“, stuft sie den Mann, mit dem sie schon seit Jahren zusammenarbeitet, im Dienstgrad nach oben. „Lass man gut sein, Frau Professor“, kontert er. „Dann musst du mir noch zehn Euro monatlich drauflegen. Aber Spaß beiseite. Wie sieht’s aus?“

„Ich will mir gerade die Leiche anschauen“, sagt sie.

„Ich komme mit“, entscheidet der Ermittler.

Er bleibt an der offenen Tür stehen und sieht, wie Evi Reinhold an die Tote herantritt. Zuerst besieht sie sich die Wunde genauer. „Nur ein Schnitt“, sagt sie. „Aber sehr tief. Möglicherweise bis auf die Wirbelsäule. Und soweit ich das durch das Blut beurteilen kann, keine Probierschnitte. Doch da die Tatwaffe – wahrscheinlich ein großes Messer, Klingenlänge etwa dreizehn Zentimeter – nicht gefunden wurde, wie die Kriminaltechniker festgestellt haben, ist Selbstmord ja von vornherein kein Thema.“

Dann nimmt die Rechtsmedizinerin die Hände näher unter die Lupe. An der rechten Hand findet sie zwei Schnitte. „Da“, deutet sie auf die kleinen Wunden, „typische Abwehrverletzungen. Die Frau ist vom Messer nicht völlig überrascht worden.“

Sie betrachtet die Totenflecken und achtet auf die Leichenstarre. Die Augenlider sind bereits vollständig betroffen, und auch der Kaumuskel sowie die kleineren Gelenke sind schon starr, wohingegen die großen Gelenke noch beweglich sind. Reinhold schaut auf die Uhr: „Es ist jetzt sieben Uhr. Der Tod muss so gegen drei Uhr eingetreten sein“, doziert sie. Das decke sich wohl auch mit der Aussage der Barchefin, die gegen drei Uhr Schreie gehört haben will.

„Schreie? Mehrere?“, stutzt Mueller. „Bei der Halswunde?“

„Nach dem Schnitt sicher nicht mehr“, schüttelt die Ärztin den Kopf. „Dann hätte die Frau höchstens noch röcheln können. Aber vorher, in Todesangst, unmittelbar vor der Tat. Oder jemand anderes hat geschrien. Aber das herauszufinden, ist ja dein Job.“

Dann wendet sie sich den Blutablaufspuren zu.

Der Kriminalist, der fürs Erste genug gehört hat, wendet sich ab und geht ins Büro. Dort wartet Kathrin Meltzer, die sich gerade eine neue Zigarette anzündet. Tiefe Ringe unter den Augen und fahrige Hände verraten Müdigkeit und Nervenanspannung. „Guten Morgen!“, versucht Mueller mit seiner mildesten Stimme die Situation ein wenig zu entspannen. Doch er hat kein Glück: „Gut? Gut? Was soll denn an dem Morgen gut sein?“

„Naja ... “, kann der Erste Kriminalhauptkommissar, der von so viel offenem Unmut beinahe überrumpelt wird, nur entgegenhalten. „Ich bin auch nicht gerade frisch ... “, sagt er. „ ... Nachtdienst.“ Aber das beeindruckt die Etablissement-Besitzerin sichtlich gar nicht. „Lassen Sie uns fertig werden“, sagt sie, nun allerdings eine Nuance friedlicher. „Wir wollen ja wohl beide schnell ins Bett.“

Mueller unterdrückt eine süffisante Bemerkung und kommt zur Sache. „Wer hat die Tote gefunden? Kennen Sie die Namen der Gäste, die zur Tatzeit hier waren? Und vor allem: Können Sie mir erklären, warum so viel Zeit vergangen ist, bis Sie uns angerufen haben? Zwischen dem Auffinden der Toten und dem Notruf haben doch mindestens eineinhalb Stunden gelegen.“

Die Frau mit der strohblonden Lockenpracht ist auf die letzte Frage vorbereitet. Sie hat sich eine Geschichte überlegt: „Herr Kommissar, Sie können sich doch bestimmt denken, was los ist, wenn so etwas passiert. Die Frauen sind wie ein aufgescheuchter Hühnerhof durcheinandergelaufen – fast panisch – das reinste Chaos. Ich musste sie erst mal beruhigen. Und dann wollte ich auch darauf achten, dass die Gäste nicht verschwinden. Was mir allerdings nicht besonders gut gelungen ist. Ich konnte mir doch denken, dass die Polizei sie befragen will. Wir haben zwar eine Kamera über dem Eingang, aber nur um zu sehen, wer geklingelt hat. Sie zeichnet nicht auf.“

Der Hauptkommissar, in vielen Jahren im Umgang mit Menschen geschult, schaut Meltzer mit einem Blick an, der sie ahnen lässt, was er vom Wahrheitsgehalt dieser Geschichte hält. Aber er will jetzt nicht weiter darauf eingehen. Nur sein „Darüber sprechen wir noch!“ signalisiert der Barchefin, dass sie aus der Sache noch nicht raus ist.

Meltzer schildert, wie sie die zwei Schreie hörte, wie „Coco“ in der Tür stand und wie sie die Tote fand. Über Tanja Papenburg verliert sie kein Wort.

Die Rechtsanwältin kann sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie greift in ihre rechte Hosentasche und zieht das kleine goldene Schmuckstück heraus, das die tote Frau in der Hand gehalten hat. Sie nimmt sich Zeit, es etwas genauer zu betrachten. Der Rand ist mattgolden, der Skorpion, dessen schwanzartiges Hinterteil mit dem Stachel den Kopf berührt, hingegen glänzt. ‚Skorpion, Skorpion‘, denkt sie nach, Skorpion, Sternzeichen? Wie war das doch gleich? Skorpion – Ende Oktober bis Ende November? Man müsste wissen, wann Petrykha geboren wurde. Und im selben Augenblick wird Tanja Papenburg klar, dass sie eigentlich gar nichts weiß. Nichts über die Tote, nichts über die Gäste – nichtmal darüber, wie das Geschäft mit dem käuflichen Sex überhaupt abläuft.

,Ich muss mich schlau machen‘, nimmt sie sich vor. Und das geht nur über Kathrin Meltzer, meint sie. ‚Ich muss mit der Frau nochmal sprechen.‘ Gleich heute Nachmittag. Wenn sich der Trubel im „Kalinka“ etwas gelegt hat.

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