Loe raamatut: «Wenn man alt wird»

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Bernd Meier

Wenn man alt wird

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Daniel Schelling

Hergen Steffmann

Mercy

Ausgang

Impressum neobooks

Daniel Schelling

Er mochte den Geruch von Waffenöl solange er denken konnte. Schon als Kind hatte es eine magisch-beruhigende Wirkung auf ihn gehabt: Wenn sein Vater am Küchentisch gesessen hatte und sich mit drei dunkel verfärbten Pfeiffenreinigern und einem Fläschchen Ballistol mit ritueller Langsamkeit seine Dienstpistole vorgenommen hatte, hatte er immer den Hals ganz lang gemacht, um mit der Nase dem alten, schwarzgefleckten, blauen Filzlappen ganz nah zu sein, der als Unterlage diente.

Sicher, die Pistole sah eindrucksvoll aus. Der schwarze, glatte Stahl, die nüchternen Winkel und Linien, die sagten: Nicht von dieser Welt.

Aber der eigentliche Charakter der Waffe schien in ihrem Geruch zu liegen. Der stumpfe, metallische Duft des Waffenöls verbarg und enthüllte zugleich das Geheimnis der Pistole: Ein sauber durchgezogener Abzug mischte im Bruchteil einer Sekunde alle Karten neu, beendete Schicksale, gab Lebenswegen neue Richtungen.

Die Väter seiner Klassenkameraden waren alles Mögliche gewesen – Kranfahrer im Hafen, Architekt, Verkäufer im Lampengeschäft, Apotheker, Versicherungsangestellter, einer war sogar Kunstprofessor. Für ihn mochten sie sein, was sie wollten, die Geschichten der anderen Jungs hatten ihn nie beeindruckt, ihn nicht. Der Kunstprofessor hatte ein Bild aus bunten Kronkorken auf einer Leinwand aus Klopapier geklebt und es bei einer Ausstellung in Den Haag für 5000 DM verkauft?

In China war ein Sack Reis umgefallen.

Denn sein eigener Vater war beim LKA und hatte eine Pistole. Und auch wenn der nie darüber sprach – die Art und Weise, wie er beim Reinigen mit der Waffe umging, hatte Daniel Schelling schon als Kind intuitiv begreifen lassen, dass sie für seinen Vater mehr gewesen war, als für den Maurer die Kelle.

Er hatte mit seiner Pistole das Schicksal gemacht, und nicht nur einmal, sein eigenes und das von anderen, daran konnte es keinen Zweifel geben.

Schelling schloß die Augen und sog den Geruch des Waffenöls langsam und genüßlich durch die Nase ein.

Es war immer noch dasselbe Aroma, wie damals vor bald 30 Jahren, als sein Vater zuhause am Küchentisch seine Dienstpistole gereinigt hatte.

Das Problem war nur: So schlecht geschossen wie an diesem Morgen hatte er noch nie. Dabei war es nicht die Waffe, die ihm Schwierigkeiten gemacht hatte. Er schoß die Glock schon seit zwei Jahren, sie lag ihm so vertraut in der Hand wie sein Rasierer.

Das Problem waren seine Augen, oder besser: Sein rechtes Auge. Irgendwie klappte die Feineinstellung nicht mehr so richtig. Er sah die Umrisse der Scheibe und auch das angedeutete Gesicht und die eingezeichnete Waffe des Angreifers. Aber dann fing auf einmal alles an zu flimmern, ehe in der Mitte seines Blickfeldes die Dinge verschwammen.

Er hatte trotzdem geschossen, eher auf gut Glück.

Wenn es keine Übung auf dem Schießstand gewesen wäre, sondern ein echter Einsatz während einer Geiselnahme in einer Grundschule hätte er vermutlich ein bis zwei Erstklässler per Kopfschuss erledigt – ohne dem Geiselnehmer ein Haar zu krümmen.

Was war da los? War irgendetwas mit dem Sehnerv nicht in Ordnung? Er hatte noch nie irgendeine Schwierigkeit mit seinen Augen gehabt. Geschweige denn mit irgendeinem anderen Teil seines Körpers. Tatsächlich war er gesund wie ein Brauereigaul, die einzige medizinische Behandlung der vergangenen zehn Jahre war ein Weisheitszahn unten links gewesen: zack raus - Klappe zu, Affe tot.

„Es gibt einen Grund, warum die Altersgrenze beim Mobilen Einsatzkommando bei 35 Jahren liegt“, sagte der Alte eine halbe Stunde später.

Schelling betrachtete all die Wappen befreundeter Spezialeinheiten an der Wand hinter dem Schreibtisch des Chefs. Er erkannte auf Anhieb sechs, bei deren Übergabe nach Ende der gemeinsamen Übung er dabei gewesen war.

„Leute werden alt. Die Reaktionszeiten verlängern sich, weil die Reflexe nachlassen. Die Schnellkraft lässt nach. Und psychisch betrachtet mischen sich selbst bei den Stumpfen in die reine Aggression plötzlich Anflüge von Zweifel, von Zögern, von Nachdenklichkeit. Die Knochen werden brüchiger – „ der Alte machte eine kurze Pause „-- und bei anderen werden eben die Augen schlechter.“

Schelling wußte nicht, was er sagen sollte.

Es war eine Hinrichtung erster Klasse. Aber er konnte dem Chef noch nicht einmal böse sein. Was, wenn sie rausgingen, er wieder dieses komische Flimmern im rechten Auge hätte und zack lag irgendein Zivilist tot am Boden, während die Zielperson ihr komplettes Magazin auf die anderen leer schoß?

Er hatte es doch selber über die Jahre in Dutzenden von Einsätzen erlebt – die ganze Nummer rollte überhaupt nur deshalb, weil man sich darauf verlassen konnte, dass die Jungs um einen herum 100 Prozent in Form waren.

Der Chef blätterte in der Personalakte, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Es war natürlich vollkommener Quatsch, dachte Schelling: Der Alte wußte genau, wie die Dinge standen, bei jedem einzelnen der Männer und an jedem Tag. Er brauchte keine Akten, für gar nichts. Wenn er nun in dem häßlichen, leicht vergilbt wirkenden Recycling-Behördenpapier herumblätterte, dann war das reine Requisite und vielleicht noch ein bisschen der Versuch, Schelling daran zu erinnern, dass es nichts Persönliches war: Die Dienstvorschriften waren nun einmal die Dienstvorschriften, die Aktenlage war klar. Höflichkeit unter Kollegen.

„Sie können natürlich auf meine volle Unterstützung zählen bei der Suche nach einer neuen Verwendung“, sagte der Chef.

Eine neue Verwendung? Wenn es schlecht lief wieder Schutzpolizei, Dienst in Uniform auf irgendeinem Polizeikommissariat. Schelling sah sich auf einmal im ebenso sinnlosen wie langwierigen Gespräch mit einem 63jährigen frühpensionierten Studienrat, der die Rechtmäßigkeit eines soeben erhaltenen Strafzettels in Zweifel zog, mit der ganzen langatmigen Klugscheißerei wie sie typisch war für Leute, die nie irgendetwas erlebt hatten.

‚Oh je‘, dachte er.

„Wie lange habe ich denn noch?“, fragte er.

Der Chef kritzelte etwas in die Personalakte. Dann las er laut vor:

„Wechsel der Dienststelle angestrebt zum 1. Januar.“

Es hatte sich angefühlt, als sei der Luftstrom unter seinen Tragflächen abgerissen. Also hatte er erst einmal Urlaub genommen, davon hatte er sowieso noch viel zu viel.

Nicht, dass das alles überraschend gekommen wäre. Natürlich hatte er das kritische Alter längst erreicht, das wusste er selbst. Aber er war so exzellent in Form gewesen, dass er überhaupt keinen Zweifel daran gehabt hatte, dass sie ihn im Rahmen der Ausnahmeregelung noch ein Jahr behalten würden, vielleicht sogar zwei. Und damit lag sein Ausscheiden aus dem MEK so fern in der Zukunft, dass es sich bequem verdrängen ließ.

Und dann machte auf einmal von heute auf morgen das rechte Auge nicht mehr mit.

Schelling schloß abwechselnd das linke und das rechte Auge, versuchte zu fokussieren, aber das Etikett der Wodka-Flasche blieb unscharf. Und er konnte noch nicht einmal mogeln und raten, weil die Schrift kyrillisch war.

Er aß noch ein bisschen Rote-Beete-Salat mit Rahm und Walnüssen und trank einen Schluck Wodka.

Er dachte zurück. Es war drei Jahre zuvor gewesen, im Winter, als er zum Austausch in Rußland gewesen war, zusammen mit dem Alten und sechs anderen Männern aus der Einheit.

Die Kälte hatte ihn verblüfft. Fast zwanzig Grad unter Null waren ein echtes Erlebnis, vor allem, wenn man nur zwei Sportpullis und eine alte Bomberjacke trug. Die bloße Zahl war eine Sache, die Kälte von St. Petersburg tatsächlich im Knochenmark zu spüren eine ganz andere.

Die Schnellstraße vom Flughafen in die Stadt war mit dickem schwarzen Eis verkrustet gewesen; dennoch war der unmarkierte dunkelblaue Hyundai-Transporter mit den getönten Scheiben fast 120 km/h gefahren – und weder Fahrer noch Beifahrer waren angeschnallt gewesen.

Die dunkle Kälte schien es aus den Leuten herauszuholen: Der unbestimmten, aber unverkennbar tödlichen Bösartigkeit der Elemente eine grandiose Mischung aus Desinteresse und Vitalität entgegenzusetzen.

Es war eine Stimmung, die Schelling elektrisiert hatte. Und die alles durchdrungen hatte: Bei den gemeinsamen Übungen operierten die Russen mit 10 Prozent der Vorsicht der Deutschen, aber dem doppelten Angriffsschwung, wie um zu eigen, dass sie keinen besonderen Wert auf ihre Gesundheit oder ihr Leben legten.

An ihrem letzten Abend hatten ihre Gastgeber ein Fest gegeben, gegen das alles, was Schelling jemals an vergleichbaren Veranstaltungen in Deutschland erlebt hatte, bestenfalls eine Teestunde auf einer Alzheimer-Station gewesen war.

Die Russen hatten auf Tapeziertischen ein gewaltiges Buffett aufgebaut, Schelling erinnerte sich noch immer an die Rinderzunge mit Mayonnaise, an die gefüllten Hühnermägen, an all die Salate, Pirogen, Würste. Sie hatten Flüsse von Wodka gezischt und als er gedacht hatte, der Abend ginge seinem Ende entgegen, waren sie mit 50 Mann in einen Reisebus gestiegen und in eine Disko für „Schwarzärsche“ gefahren, wo die Russen ohne viel Federlesens eine Massenschlägerei mit den örtlichen Kriminellen aus dem Kaukasus angezettelt hatten.

An diesem Punkt war ihm klar geworden, warum der Kommandeur der St. Petersburger darauf bestanden hatte, dass sie in Zivil und ohne Waffen gekommen waren.

Im dichten Chaos des Handgemenges hatte er das Knacken gehört, mit dem sein Nasenbein gebrochen war, aber die Wodka-Betäubung war so vollständig gewesen, dass er überhaupt keinen Schmerz gespürt hatte.

Bei ihrer Rückkehr in die Polizeikaserne hatten schon die Mädchen gewartet. Es schien nur drei Namen zu geben: Olga, Svetlana, Natalia. Er bekam eine Svetlana ab – lange, rotblonde Haare, milchweiße Haut, große hellrosa Brustwarzen, 95-60-90.

Hinterher hatten sie mit den Mädchen Kuchen gegessen und armenischen Brandy getrunken, dann ging es noch vor Tagesanbruch zum Flughafen hinaus und als die Sonne aufging, stieß der Jet durch die dichte Schneewolkendecke, während Schelling nicht wußte, was ihm mehr wehtat, seine gebrochene Nase oder sein Penis.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte er sich auf die Suche nach einem russischen Geschäft gemacht, wo es all diese Salate, Würste, Fischspezialitäten und Wodkasorten gab. Und jedes Mal, wenn er sich dann zuhause eine harmlose Form des russischen Abends gönnte, musste er an diese Tage in St. Petersburg zurück denken und grinsen. Früher oder später strich er sich dann immer gedankenverloren über seinen Nasenrücken - das Nasenbein war gut wieder zusammengewachsen, er atmete ohne Probleme, aber eine Art Knick war geblieben.

Schelling stand auf und ging ans Fenster. Er wohnte in einem häßlichen, dunkelroten Backsteinviertel. Und doch konnte er froh sein, dass er sich die Zwei-Zimmer-Wohnung mit seinem jämmerlichen Polizeigehalt überhaupt leisten konnte. Fast alle seiner Kollegen wohnten außerhalb und fuhren morgens mindestens eine Dreiviertelstunde in die Stadt.

War das der Plan gewesen? Eigentlich hatte er überhaupt keinen gehabt, so ging es schon mal los, überlegte er.

Wie anders alles gekommen war.

Als er früher seinem Vater beim Waffenreinigen am Küchentisch zugesehen hatte, war die Welt eine ganz andere gewesen. Es hatte sich so angefühlt, als sei fundamental alles gut. Natürlich hatte er gewußt, dass es auch die Bösen gab – man konnte es im Fernsehen sehen, zum Beispiel bei Colt Seavers, und schließlich war sein Vater Polizist gewesen.

Aber die meisten Menschen waren gut, die Bösen waren wenige und Leute wie sein Vater fingen sie.

Tatsächlich trauerte Schelling nicht selten der beruhigenden Ahnungslosigkeit seiner Kindheit hinterher.

Inzwischen wusste er aus eigener Anschauung, dass nicht alles gut war – die Leute waren nicht gut und es gab auch keine Gruppe sehr fähiger, sehr weiser Männer, die von den Chefposten aus alles so geschickt lenkten, dass es sich gut entwickelte.

Nach außen wurde natürlich nach Kräften die Fassade gewahrt, aber dahinter war tatsächlich alles ein dunkles Chaos. Und wie viele Intrigen, Betrügereien, wie viele hinterhältige, feige Charakterschweine hatte er nicht selbst in der Polizei aus der Nähe erlebt?

Er erinnerte sich, wie frisch und motiviert er gewesen war bei seinem Eintritt ins MEK. Er hatte sich wie der junge Superman gefühlt.

Und dann?

Hatte das Leben ihm wohl eine ganz gehörige Portion Krypton serviert.

Es war immer dasselbe.

Dieselben Einsätze, dieselben Hackfressen, derselbe Dreck. Albaner, Türken, Afghanen, Hells Angels – die Fabrik, die all diese Ratten produzierte, schien niemals stillzustehen. Und ganz gleich, wie viele von denen sie aus dem Verkehr zogen, es kamen immer wieder neue nach, einer schlimmer als der andere.

Genauso wie die Karriere-Apparatschiks in der Polizei, die dem jeweiligen Polizeipräsidenten und seinen Mitläufern oder dem Innensenator bis zu den Schultern im Arsch steckten, all die Sesselfurzer und Bürokriecher, die keine zehn Liegestütze konnten.

Ehre? Würde?

Die wurden schon schwarz vor Neid, wenn ein „Kollege“ aus der Nachbarabteilung eine Besoldungsstufe höher kam. Die Typen waren überhaupt keine Männer, die waren fast so schlimm wie die Homos, die im Fernsehen die Quizsendungen moderierten.

Manchmal machte ihn die erbärmliche Realität der Arbeit innerhalb der Polizei noch viel müder als das, was sie da draußen angeblich alle zusammen bekämpften.

Eigentlich war es erstaunlich, dass trotz all der jämmerlichen Figuren, vermasselten Arbeitsabläufe und gefühlten 356 großen Polizeireformen überhaupt noch irgendetwas funktionierte.

Vermutlich lag das daran, dass irgendwo im Mittelbau trotz allem immer noch ein paar Leute saßen, die ihr Geschäft verstanden und ihre Arbeit gut machten.

Wenn man darüber nachdachte, war das ganze Land inzwischen so. Irgendwelche Karrieristen mit randlosen Brillen klauten in den Banken und Unternehmen das ganze Geld, irgendwelche Mongos, die zu dumm waren, ein Loch in den Schnee zu pissen, saßen in Berlin am Kabinettstisch und „regierten“.

Homos heirateten.

Irgendwelche amerikanischen Neger waren auf einmal die Coolen im Radio und im Fernsehen.

Alles stand auf dem Kopf.

Wenn er beim Friseur saß und in „Bunte“ die Fotos der Elite des Landes sah, überkam ihn ein Gefühl des Ekels.

Irgendwie war das überhaupt nicht mehr sein Land.

Er schenkte sich noch ein Glas ein. Die Flasche war immer noch eiskalt, der Wodka lief fast ein bisschen zähflüssig in das kleine Glas mit dem goldenen Rand und den eingravierten Getreidebüscheln.

Schelling strich ein bisschen russische Mayonnaise auf eine Scheibe Rinderzunge. Das Schwarzbrot war viel dunkler und süßer als das deutsche. Er nahm einen Bissen, kaute, trank.

So war das, wenn man alt wurde, in einem Land, das man an guten Tagen bestenfalls mit Gleichmut ertragen konnte, überlegte er.

Was war da für ihn überhaupt noch zu holen?

Seine freien Tage liefen an ihm vorbei wie ein Linienbus morgens im Berufsverkehr - sinnlos und uninteressant, ohne dass er besonders Notiz davon genommen hätte.

Im Fernsehen sah er Verkaufssendungen auf QVC – Uhren, Faltencremes, Strickpullis.

Der Himmel war grau, in den Straßen stand naßkalte Winterluft, irgendwo im Haus arbeitete irgendjemand mit einer Bohrmaschine.

Er hörte auf, sich zu rasieren. An manchen Tagen verließ er abends um halb Acht zum ersten Mal seine Wohnung – er ging dann hinaus wie aus einem soeben gelandeten Raumschiff und studierte überrascht die abgekämpften Gesichter der Leute im Supermarkt, wo er Schwarzbrot, Fleischsalat und Bier kaufte.

Am Abend erklärten müde Männer mit speckigen Visagen, gepressten Stimmen und wenig Haaren im Fernsehen die nie endenden Krisen und ihre nie funktionierenden Lösungen.

Schelling hatte starke Zweifel, dass sie in der Lage waren, für drei Euro Brötchen beim Bäcker an der Ecke zu holen.

Er verlor auf angenehme Art die Übersicht über Datum und Wochentag, so wie früher als Kind in den Schulferien. Er schlief nachts zehn bis elf Stunden und am Nachmittag noch einmal ein bis zwei Stunden – warum war er nur so müde?

In der dritten Woche klingelte am frühen Abend sein Handy. Es war Haller, ein Kollege aus Magdeburg.

Sie hatten sich im Jahr zuvor während einer Drei-Länder-Übung angefreundet. Haller und er waren beim Boxen gegeneinander gelost worden, es war das perfekte Match: Beide 1,82 Meter groß, 85 Kilogramm schwer, ähnliches technisches und konditionelles Niveau. Die erste Runde war Abtasten gewesen, die zweite und dritte eine spektakuläre Ringschlacht.

„Noch mal drei“, hatte Haller nach Ende des Kampfes gemurmelt und sich das Blut mit dem schwarzen Handschuhrücken von den geschwollenen Lippen gewischt.

„Mit Vergnügen“, hatte Schelling durch seinen Mundschutz genuschelt, während sein Puls jenseits der 180 rauschte und sein Kopf benommen von Schallers schweren Treffern gegen den blauen Plastikkopfschutz pochte.

Nach dem zweiten Durchgang à drei Runden hatten sie noch einen dritten angesetzt. Um den Ring herum standen fast 60 Polizisten, irgendwann waren sogar der Hallenwart und ein Elektriker dazu gekommen.

Weder Schelling noch Haller hatten im dritten Durchgang noch mit Deckung, Beinarbeit, Schnelligkeit oder Kondition gearbeitet – es war Brechstange gegen Brechstange gewesen, fast jeder Schuss ein Treffer.

Was sich hinterher zumindest für Haller als großen Glücksgriff herausgestellt hatte: Sein Gesicht war nach dem Kampf so gezeichnet gewesen, dass er darauf verzichten musste, mit seinen drei besten Freunden aus der Einheit noch ein Bier zu trinken. Also waren die drei alleine losgezogen, hatten in einem Puff in St. Pauli eine Schlägerei mit den Wirtschaftern angezettelt und sich nach Strich und Faden vermöbeln lassen – was zwei Tage später für große Belustigung in der Hamburger Lokalpresse gesorgt hatte.

„He, Schelle, was liegt an?“, fragte Haller.

Niemand nannte ihn Schelle. Schelling fand es trotzdem nicht schlecht.

„Eigentlich nichts. Ich habe ein paar Tage frei und ruhe mich aus.“

Haller war begeistert. Er war dienstlich in Kiel gewesen und wollte auf dem Rückweg nach Magdeburg Station in Hamburg machen.

„Dann hole ich dich in einer Stunde ab, wir gehen essen und danach holen wir endlich den Kiezbummel nach, den wir damals nicht machen konnten.“

Schelling hatte überhaupt keine Lust, seine Wohnung an diesem Abend noch einmal zu verlassen.

„Okay“, sagte er.

Als sie das „Heraklion“ verließen, rülpste Haller so lang und so laut, dass Schelling froh war, dass keine offene Flamme in der Nähe war. Er verpasste mit dem linken Fuß die Stufe, stolperte nach vorne und riss einen erstaunlich leichten, vom Hamburger Regenwetter pockig genarbten Diskuswerfer von seinem Sockel. Die graue Statue schlug auf den hellen 70er-Jahre Gehwegplatten auf und zersprang in tausend Teile.

„Offenbar Gibb-ss“, nuschelte Schelling.

Keiner der beiden sah sich auch nur um. Sie schlingerten mit schweren Schritten Richtung Parkplatz, ein Bewegungsmelder aktivierte einen grellen Scheinwerfer und sie schirmten beide mit der rechten Hand ihre Augenpartien ab, mit dem perfekten Timing von Synchron-Schwimmern.

„Ich fah‘“, sagte Schelling.

Er wußte, dass er viel zu betrunken war, um noch zu fahren. Sie hatten Retsina und Billig-Ouzo gezischt, als gäbe es kein Morgen. Der salzige Nachgeschmack von Tzaziki, Pommes mit Hela Curry-Ketchup, Gyros und Zwiebeln verband sich mit den letzten Resten von Geschmacksverstärker und Fleischweichmacher in seiner Mundhöhle. Es war nicht unangenehm. Irgendwie verankerte einen der Geschmack in einer Welt, die ansonsten primär aus tintenschwarzer Dunkelheit und den unsicheren Schlieren der nächtlichen Beleuchtung bestand.

Er steuerte Hallers Audi ruhig über die leeren Ausfallstraßen Richtung St. Pauli, dabei immer den Tacho im Auge behaltend. Die beste Geschwindigkeit war knapp unter 60 km/h, nicht zu schnell nicht zu langsam.

Er wollte den Trick gerade Haller erklären, als im Rückspiegel das Blaulicht anging. Haller drehte langsam den Kopf in seine Richtung, auf seinem Gesicht lagen mehr Neugier und Interesse als Besorgnis.

„Guten Abend, Führerschein und Fahrzeugschein bitte.“

Der Polizist war höchstens 23, schätzte Schelling, er hatte Pickel auf beiden Seiten der Nase.

Er und sein Kollege standen vorschriftsmäßig mit der rechten Hand am Pistolenhalfter, auf der Beifahrerseite leuchtete der zweite Mann mit einer kleinen Stablampe ins Innere und behielt ihre Hände im Blick.

Haller rülpste erneut lang und laut, Schelling war froh, dass die Seitenscheibe unten war. Der Polizist verzog angewidert das Gesicht.

„Haben Sie Alkohol getrunken?“

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Schelling. „Ich werde jetzt langsam mit der rechten Hand in die Außentasche meiner Jacke greifen.“

Der Polizist sah ihn verständnislos an.

„Dann zeige ich Ihnen meinen Dienstausweis.“

„Gut“, sagte der Streifenpolizist. „Nur zu.“

Zehn Minuten später parkte der zweite Mann Hallers Audi vorsichtig ein. Sie stiegen in den Fonds des Streifenwagens. Über den Funk lief die übliche Ton-Collage aus Abkürzungen, metallischem Knacken und gelassenen Stimmen, die mit stark eingefärbtem Hamburger Akzent sprachen.

Der zweite Mann gab Haller die Autoschlüssel.

„Tun Sie mir den Gefallen und holen Sie den Wagen wirklich erst ab, wenn Sie wieder klar sind.“

„Ehenwor“, nuschelte Haller.

„Wir können von hinten an den Kiez ranfahren und ich lasse Sie irgendwo hinterm Neuen Pferdemarkt raus“, sagte der Fahrer.

„Das wär‘ super“, sagte Schelling. „Gib ma was zu schreiben.“

Der Streifenwagen setzte sich langsam in Bewegung, der zweite Mann reichte ihm Stift und Zettel und als Unterlage ein Funkgerät. Schelling drehte es um und schrieb ihre beiden Namen auf den Zettel.

„Mich findet Ihr immer über Outlook“, sagte er. „Falls Ihr die Hilfe des Kollegen braucht, ruft Ihr am besten mich an.“

Tasuta katkend on lõppenud.

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