Loe raamatut: «Collapse»
Bernd Roßbach
COLLAPSE
Roman
EDITION 211
Impressum
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.
Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.
Copyright © 2014 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH
1. Auflage
Lektorat: Susanna Abt
Satz/Layout: Dagmar Papic
Covergestaltung: Nele Schütz, München
E-Book: Mirjam Hecht (aktualisierte E-Book-Ausgabe 2017)
Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Made in Germany
ISBN 978-3-94171-720-6
Widmung
Für Schrödingers Katze
(Existenz zwischen Leben und Tod im Dienste der Wissenschaft)
Songtext
So when you feel like hope is gone
Look inside you and be strong
And you finally see the truth
That a hero lies in you
Whitney Huston
Inhalt
Impressum
Widmung
Songtext
Vorwort
1. Kapitel
Die Anomalie
2. Kapitel
Strange
3. Kapitel
Element der Hoffnung
4. Kapitel
Auf chinesischen Pfaden
5. Kapitel
In den Fängen des Wahnsinns
6. Kapitel
Tanz des Bären
7. Kapitel
Vier Häupter der Medusa
8. Kapitel
Im Gestern der Zukunft
9. Kapitel
Phönixsprung
10. Kapitel
Am seidenen Faden
Nachtrag
Nachwort
Dank
Quellen
Literatur
Weitere Titel im Bookspot-Verlag
Vorwort
Die großen Manipulateure
(Braucht unser Gehirn eine Firewall?)
Heute beschäftigen sich die Einsteins dieser Welt mit Fragen nach verborgenen Dimensionen oder dem Geheimnis der Gravitation. Dabei bleiben die Klärung des Zeitbegriffs wie auch das Verhältnis zwischen Raum und Geschwindigkeit ein heftig umstrittenes und zugleich rätselhaftes Feld. Auch die Erforschung Schwarzer Löcher, eines der ungelösten Rätsel des Kosmos, ist eine der faszinierendsten Aufgaben jener modernen Entdecker der Neuzeit, vermuten sie doch in diesen Objekten das Tor zu weiteren Dimensionen. Ob die Lösung dieser Fragen in greifbarer Nähe ist, wird möglicherweise schon bald über die Ergebnisse in den Collidern, immer größeren Ringbeschleunigern, in denen Teilchen kollidieren, beantwortet werden können. An der größten Maschine, die der Mensch je erfunden hat, experimentiert man nicht nur mit gigantischem Aufwand, um die Naturkräfte zu entschlüsseln, sondern ist mittels der Quantentheorie bereits dem letzten großen Geheimnis der Physik, der Weltformel, auf der Spur.
Die Wissenschaft eilt vorwärts, und so entsteht auf der Jagd nach neuen Erkenntnissen in einer verlassenen Goldmine in South Dakota gerade eine riesige Versuchsanlage mit einem Labor in acht Kilometern Tiefe (Deep Underground Science and Engineering Laboratory).
Nicht alle Erkenntnisse führen zwangsläufig zu einer Lösung, sondern werfen oftmals neue Fragen auf. Sucht man nach klaren Aussagen, so herrscht sechs Jahrzehnte nach Einstein mehr Verwirrung denn Klarheit im Lager der Welterklärer. Nicht erst seit den unbestätigten Neutrinoversuchen in jüngster Zeit, die eine Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit nahelegen, forscht man an der als »spukhaften Fernwirkung« bezeichneten Quantenverschränkung. Wie schon Alain Aspect in seinem aufsehenerregenden Experiment 1982(1a), sind Wissenschaftler Teilchen auf der Spur, die offensichtlich selbst über Millionen von Kilometern hinweg ohne Zeitverzögerung zu interagieren scheinen. So belegte eine Gruppe um Nicolas Gisin an der Universität Genf, dass Teilchen mit 10.000-facher Lichtgeschwindigkeit miteinander kommunizierten.(1b) Ein Schock. Warfen diese Experimente doch Fragen auf. Zum Beispiel warum der Grundsatz »Nichts ist schneller als das Licht« als steinerne Ikone der Relativitätstheorie vielleicht doch in Zweifel zu ziehen war.
Erst in jüngster Vergangenheit fanden Forscher wie Craig Hogan oder Karl Pibram an der Stanford Universität einen Ansatz, das Rätsel zu lösen. Sie fanden Hinweise, dass das Universum Gesetzen der Holografie folgt und auch eine Struktur aufzuweisen scheint, die dem eines Hologramms ähnelt; denn auch dort ist in jedem Punkt die Information des Ganzen enthalten.(2a) (Der Quantenphysiker David Bohm(2b) spricht in seinem Buch »Die implizierte Ordnung»von Holo-Movement und einer eingefalteten Ordnung.) Eine überraschende Erkenntnis mit unabsehbaren Folgen für unser Weltverständnis.
Eine noch viel größere Überraschung, die allerdings in den Überschriften der Massenmedien noch nicht ihren Platz gefunden hat, ist die Entmystifizierung der Funktionsweise unseres Gehirns, sowie neue Erkenntnisse zu dessen Beeinflussbarkeit. Glaubt man unbestätigten Quellen, dann lassen die Ergebnisse eines russischen Wissenschaftlerteams das Riesenmolekül DNA im Hinblick auf äußere Programmierbarkeit in einem völlig neuen Licht erscheinen.(3) So liegt es nahe, dass unsere DNA auf noch unbekanntem Weg mit anderen Individuen kommuniziert – und dies möglicherweise gar über kosmologische Distanzen. Stellt die DNA damit gar eine Schnittstelle zwischen Mensch und Kosmos dar? Dies zu klären, ist nun Aufgabe der Wissenschaft.
Das digitale Zeitalter birgt offenbar einen Paradigmenwechsel hin zu direkter Einflussnahme auf unser Gehirn. Denn dass Chemiker an Substanzen und Technologien arbeiten, den menschlichen Geist gefügig zu machen, ist bereits seit der MK-ULTRA Ära bekannt; ein Thema übrigens, das bereits meinen ersten Roman »Schattenwelten« beeinflusste. Aufgrund der militärischen Bedeutsamkeit ist anzunehmen, dass auf diesen Gebieten bis an die Grenzen des Machbaren geforscht wird. Die Frage, ob wir uns durch Willensstärke allein der Angriffe von außen erwehren können oder künftig womöglich so etwas wie ein Virenprogramm gegen Beeinflussungssmog benötigen, wird vielleicht schon die nahe Zukunft beantworten. Unser Gehirn hat jedenfalls keine Firewall, deshalb beginnen bereits die großen Manipulateure in geschützte Privatsphären einzubrechen, um mit neusten Errungenschaften der Technik unsere Meinungsbildung und Wahrnehmung zu verändern(4).
In meinem Beruf habe ich mich vielfach mit Krisenszenarien und Sicherheitsmodellen beschäftigt. Wobei eine Krise durchaus ein konstruktiver Zustand sein kann. Dieser Meinung war bereits Max Frisch: »Man muss nur verstehen, ihr den Beigeschmack einer Katastrophe zu nehmen«. Um aber zu verhindern, dass sich vermeintlich verheißungsvolle Technologien nicht schon bald gegen uns selbst richten, ist nicht zuletzt die Analyse von komplexen Systemen eine der wichtigsten Aufgaben integrierter Zukunftsforschung. Dabei stehen Fragen im Vordergrund wie: Wird das System demnächst in eine Krise geraten? Oder auch: Welche Folgen hätte eine solche Krise?(5) Und wie viel Risikobereitschaft verträgt ein System? Fragen, die uns schon bald beschäftigen werden. Denn was würde geschehen, wenn Sicherungsnetze aufgrund der Komplexität riskanter Forschungsprojekte versagen, wenn auf diesen Wissensgebieten der größte anzunehmende Unfall eintritt? Gelänge es auch dann noch, die Büchse der Pandora zu schließen, wenn in riskanten Forschungsdisziplinen gleich zwei Super-GAU’s zur selben Zeit zusammenträfen, die einen Kollaps der Systeme bewirken?
Es wird nicht irgendwann passieren – es passiert jetzt.
Bernd Roßbach, Beaumont März 2011
»So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit.«
(Hoimar von Ditfurth, Wissenschaftspublizist)
1. Kapitel
Die Anomalie
Dallas, 08. Juli 2017, neun Tage vor der Alphastabilität
Katastrophen geschehen nicht einfach, sie sind das Resultat einer Verkettung unglücklicher Umstände. Dies sollte auch Jack Burton, Oberarzt und stellvertretender Direktor des Jefferson Health Medical Centers in Dallas, bald erkennen.
Burton hatte seit vierunddreißig Stunden keinen Schlaf gefunden und das Krankenhaus mehrere Tage nicht verlassen. Trotz der Strapazen war ihm die Anspannung nicht anzusehen, da er selbst unter Stress eine gleichbleibende Freundlichkeit vermittelte, für die ihn seine Kollegen schätzten. Nun jedoch begann ihn eine aufsteigende Kälte zu schütteln, die ihn immer dann heimsuchte, wenn er lange nicht geschlafen hatte.
Assistenzarzt Phileas Wuthering blickte verzweifelt auf Burton, der sich das Stethoskop aus den Ohren riss.
»Schon wieder ein neuer Fall, die Notaufnahme schafft den Ansturm nicht mehr«, sagte Wuthering.
»Decken Sie den hier zu Phil, ich werde es mir mal anschauen.«
Der stellvertretende Direktor, so wurde Jack Burton von den meisten Mitarbeitern genannt, genoss den Ruf eines Pedanten. Er hasste es, improvisieren zu müssen, obschon gerade deshalb ein Ausnahmezustand bei ihm vermutlich besser organisiert wäre als so manch andere Klinik im Regelbetrieb. Doch selbst Burton wusste nicht mehr, wie die eskalierenden Ereignisse unter Kontrolle zu bringen waren. Der Ansturm von Kranken und Verletzten sprengte alle Kapazitäten der Klinik. Burton fasste in seine Jackentasche, in der er sonst immer sein Notizbuch trug. Seit dem Studium war es ihm zur Gewohnheit geworden, jede Überbelegung mittels Strichlisten detailliert festzuhalten. Er tat dies schon deshalb, um möglichen Abweichungen vorzubeugen und einen peinlichen Mängelzustand erst gar nicht entstehen zu lassen. Jetzt fassten seine Hände ins Leere. Das Buch hatte er schon vor Tagen zur Seite gelegt, zu einem Zeitpunkt, als er aufgehört hatte, die Toten zu zählen. Schließlich deckte er selbst das weiße Laken über den vor wenigen Minuten Verstorbenen, hastete über den Flur und besprach sich mit seinem Assistenten Wuthering, der ihm über den Verbindungsgang zur Ambulanz folgte. Wuthering trat ans Fenster und blickte hinaus auf die Schlange von Unglückseligen, die es noch geschafft hatten, sich bis zur Klinik zu schleppen.
»Jack, gucken Sie sich das an. Wir müssen Chrichton informieren, jetzt!«
»Wahrscheinlich ahnt der Alte schon, dass wir zumachen sollten.«
»Ach, er weiß es doch längst. Machen wir uns nichts vor. Kein Bett frei und in der Notaufnahme stehen sie bis auf die Straße«, fasste Burton zusammen.
Der Oberarzt stemmte die Hände an die Hüften und sagte: »Klar weiß er das, aber er muss es schließlich auch anweisen. Für mich ist es eine ausgemachte Sache. Gerade jetzt, wo die Medien heißlaufen.«
»Warum zögert Chrichton?«, wollte Burton wissen.
»Er wird sich fragen, wo die Menschen hin sollen. Alle Stationen in Dallas sind überfüllt. Und das nicht erst seit gestern.«
»Okay, ich werde mit ihm reden.«
Burton versuchte, den Betten und Infusionsständern auf dem Gang auszuweichen. Den mit Verbandsresten übersäten Flur ignorierte er, denn die zunehmende Dramatik im Klinikbetrieb ließ ihn in eine Art Lethargie abdriften, so als wäre ihm das Chaos in den Gängen der Klinik schon zu einer lästigen Gewohnheit geworden. Er würde sich nie daran gewöhnen, das wusste er. Zwar hatte er über die Jahre eine Distanz zum Klinikalltag entwickelt, einen funktionierenden Selbstschutzmechanismus, doch blutverschmierte Körper, Hilferufe oder die in ihrer Totenmaske erstarrten Gesichter jener, die den Kampf verloren hatten; all das würde immer eine Reaktion in ihm auslösen.
Ihn schauderte. Es bereitete ihm Schmerzen, die verzweifelten Blicke seiner Untergebenen ignorieren zu müssen, die sich zwar aufopfernd, aber mehr und mehr resignierend dem Ansturm der Kranken entgegenstellten. Burton erreichte die Notaufnahme. Dort warteten Überfallopfer aller Altersklassen mit unterschiedlichsten Verletzungen. Das Sicherheitspersonal stieß die Drängelnden zurück, während eine Ärztin versuchte, die besonders schweren Fälle zu identifizieren.
»Versucht, möglichst viele ambulant zu versorgen! Jennifer, ich brauche Sie gleich drinnen. Lassen Sie sich ablösen.« Oberarzt Burton verschaffte sich noch einen Überblick über die Versorgungssituation, bevor er im Hauptgebäude auf Stationsschwester Kathie traf.
»Fahren Sie die letalen Abgänge runter, wir brauchen Platz für weitere Patienten«, rief Burton ihr zu. Sie schickte sich an, die Toten, die mittlerweile den Platz auf den Stationen weiter einschränkten, in den Keller zu verfrachten.
»Jack, die Auswertung der Analysen über die neu Eingelieferten ist da.«
»Und?«
»Wie bei den anderen. Blutwerte abnorm, hohe Leberwerte und auch wieder die unbekannte zyklische Kohlenstoffverbindung.«
»Und die Glycoside?«
»Die haben wir wieder nur bei den Aggressiven gefunden.«
»Wie sieht’s mit den Barbituraten aus?«
»Wir kriegen sie nicht mehr ruhiggestellt. Diazepam, Barbital, nichts schlägt an! Nur bei einigen Valnoctamid!«
»Probieren Sie es mit Tiophental«, entgegnete Burton. »Zumindest jammern sie nicht. Nicht mal bei Frakturen. Also sehen Sie das Ganze nicht so schwarz.«
Kathie wusste es besser. Die Aggressiven, deren Blicken wenig Menschliches innewohnte und die in ihrem Ausdruck eher an Raubtiere erinnerten, die ihre Beute fixierten, fristeten mit Stricken an Betten fixiert ihr Dasein. Die mit Ledergurten versehenen Standardeinrichtungen der Klinik reichten dazu längst nicht mehr aus. Kathie schilderte die zunehmende Angst unter dem Personal.
»Das mit Jane ist doch kein Einzelfall. Die werden immer unberechenbarer. Erst denkt man, sie sind ruhig, und dann drehen sie plötzlich durch.«
»Es ist nur vorübergehend«, versuchte Burton zu beschwichtigen. »Irgendwann muss es ja mal aufhören.«
Hoffnung war für Burton etwas, das er nie aufgab, aber auch er vermochte sich der Realität nicht zu entziehen. Beide Patientenkategorien würden zwar für sich genommen keine Besonderheit darstellen, wenn nicht in den zurückliegenden Wochen die Registrierung gleichartiger Fälle in den Großstädten nahezu explosionsartig zugenommen hätte. Noch hielten die Ärzte den Krankenhausbetrieb mit Durchhalteparolen aufrecht, aber sie ahnten nicht, dass die Situation schon bald weiter eskalieren sollte.
Burton prüfte die Blutproben und steckte sie in die Kühltasche. »Schicken Sie die Ergebnisse zum Ministerium! Die hatten gestern schon angefragt. Ich will jetzt endlich wissen, was hinter der ganzen Sauerei steckt.«
»Es gibt neue Erkenntnisse. Ein Professor Feilgruber in Genf hat sich zu den toxischen Befunden geäußert«, erklärte Wuthering.
»Und was sagt er?«
»Seiner Meinung nach sind es Abbauprodukte bekannter Substanzen. Eine Art Aufputschdroge mit psychopathogenem Effekt.«
»Also doch etwas Synthetisches?«Burton schien überrascht.
»Die Analysen sind nicht abgeschlossen. Sieht aber aus, als hätten wir es mit einer Epidemie von Drogenkonsumenten zu tun.«
Burton drückte Wuthering die Tasche mit den Blutproben in die Hand. »Junkies? Sie machen Witze …«
»Keine Ahnung. Eine offizielle Stellungnahme vom Ministerium gibt’s nicht. In den Berichten über die Unruhen hab’ ich noch nichts gehört. Irgendwie mauern alle Beteiligten.«
»Was die rausgeben, ist doch eine Farce. Wie immer halten sie die Informationen zurück!«, echauffierte sich Burton.
»Sie verharmlosen. Erst halten mal wieder Statistiken her, um die Zusammenhänge zu verschleiern, und wenn’s scheibchenweise rauskommt, hat es nachher keiner gewusst.«
»Wenn das stimmt mit den Junkies, ist das ein dickes Ding!«
Kathie Flannegan absolvierte bereits die zweite Schicht hintereinander. Die im vierten Monat Schwangere hatte sich zwar nur wenige Pausen gegönnt, allerdings unterstützten sie ihre Kolleginnen nach Kräften, sodass Kathie der Meinung war, die Arbeit auch unter diesen Bedingungen leisten zu können.
Ihr Patient lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sein Schädel war kahl rasiert und die mit Klebeband befestigte Mullbinde bedeckte eine tiefe Platzwunde, die bis auf den darunter liegenden Knochen reichte. Blut sickerte in den Verband. In den überfüllten Krankenzimmern war kein Platz für weitere Neuzugänge. Deshalb schob Kathie den Bewusstlosen in den angrenzenden Reinigungsraum. Das Bett fand in der Kammer neben Schrubbern und Putzeimern Platz.
Den Füllstand prüfend, stach Kathie die Nadel für die Infusion durch die Gummimembran der Glasflasche. Wie tausende Male zuvor befestigte sie auch diesmal den Glasbehälter mit der Flüssigkeit an der Halterung des rollbaren Ständers. Der Patient lag regungslos auf dem Bett. Von ihm abgewandt, bemerkte Kathie nicht, wie sich für wenige Sekunden die Lider seiner Augen hoben. Seine linke Hand begann sich um die Stahlumrandung des Bettes zu krallen. Während Kathie den rechten Arm des Patienten anhob, ertasteten ihre Finger den Puls. Wie sonst auch nahm sie den Blutdruckmesser zu Hilfe.
»Na komm schon«, murmelte sie und erwartete ungeduldig das Ergebnis. Dem Instrument nach zu urteilen, zeigte der Blutdruck keine Auffälligkeiten. Nur für den Puls, der um etwa vierzig Schläge je Minute über dem normalen Takt schlug, hatte Kathie keine Erklärung.
Ein Zucken unter dem Laken, das die Beine des Patienten bis zum Bauchnabel bedeckte, erregte Kathies Aufmerksamkeit. Prüfend zog sie mit ihrem Daumen ein Augenlid des Patienten hoch und blickte in eine starr geweitete Pupille mit rot unterlaufener Iris. Sie testete die Reflexe, aber die Stimulation der Reflexzentren zeigte keinerlei Wirkung.
»Warum ist das so, verdammt?«, murmelte sie zu sich selbst. »Irgendetwas mit der Steuerung des Körpers scheint durcheinander.«
Die Stationsschwester kritzelte mit einem kleinen Stift noch einige handschriftliche Aufzeichnungen auf das Display ihres Computers, der aussah wie ein zu groß geratenes Telefon. Dann schickte sie die Daten an den Funkchip in der Patientenkarte am Fußende des Bettes. Währenddessen fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Von draußen auf dem Krankenhausflur drang das hektische Öffnen und Schließen von Türen an ihre Ohren. Die zugeschalteten Absauganlagen in den angrenzenden Versorgungsräumen, die seit Wochen die Geräuschkulisse einer Werkhalle verbreiteten und in der Enge der Kammer nun umso lauter dröhnten, ließen sie aufhorchen. Von der werdenden Mutter unbeachtet, öffnete der Patient in diesem Augenblick seine Augen. Sie schlossen sich wieder, als Kathie sich seinem Brustkorb näherte. Auch das verräterische Beben der Nasenflügel verflachte. Kathie nahm ihr Stethoskop und setzte es auf die mit kaltem Schweiß bedeckte Brust des Mannes. Sie horchte. Er atmete ruhig. Kathie griff zum Mobiltelefon und wählte die Nummer von Doktor Burton.
Noch während sie die Kühle des Hörers an ihrem Ohr spürte, vernahm sie im Hintergrund das monotone Vibrieren der Klimaanlage. Kalte Luft strömte in ihren Nacken und mit den ersten Anzeichen einer Gänsehaut begannen sich die Härchen ihres Unterarms aufzurichten.
Die Krankenschwester hatte die Verbindung hergestellt, am anderen Ende der Leitung meldete sich Burton.
»Jack, ich habe den Neuzugang auf der Vierundvierzig untersucht. Hoher Puls, keine Reflexe, aber tonische Krämpfe und leichte Zyanose. Was soll ich ihm geben?«
Kathie war ins Gespräch vertieft. Sie bemerkte nicht, wie sich der Oberkörper des Mannes im Hintergrund aufrichtete. Sein Gesicht verfinsterte sich, während er auf ihren Rücken starrte.
»Ich werde ihn mir selbst ansehen«, tönte die Stimme des Doktors durch das Mobiltelefon.
»Gut, ich habe ihn in der …«Sie stockte, denn sie nahm ein rasselndes Atemgeräusch in der Nähe ihrer Schulter wahr.
Mit einem Schrei ließ sie das Telefon fallen. Instinktiv verschränkte sie die Handflächen vor ihrem Gesicht. Ihr Versuch, zurückzuweichen, wurde durch die Hand des Fremden verhindert. Der Arm schnellte federgleich vor und packte sie an Kittel und Schulter. Ein röhrender unmenschlicher Schrei aus der Kehle des Mannes erfüllte die Kammer. Katie erschauderte. Sie sah, wie die Hand auf ihren Hals zuschnellte, um sie mit eisernem Griff zu packen. Gleichzeitig barsten die Fesselungen am Unterschenkel des Patienten, sein muskulöser Körper erhob sich von der Liege.
Kathie blieb keine Zeit, einen weiteren Schrei auszustoßen, der bereits auf ihren Lippen lag. Zu eisern war der Griff um ihre Kehle, der ihr die Luft zum Atmen abschnürte. Die Blutzufuhr an ihrer Halsschlagader wurde durch die Umklammerung verringert, und die Bewegungen, mit denen sie versuchte, mit der Hand irgendeinen Gegenstand zu fassen zu bekommen, glichen bereits denen einer Ertrinkenden, die sich in Todesangst an etwas zu klammern suchte.
Der Krankenschwester schlug ein widerlicher Gestank entgegen. Das zu einer Fratze entstellte Gesicht des Mannes näherte sich Katies Wange, sodass sie noch den fauligen Atem des Angreifers roch, bis ihre Sinne zu schwinden begannen. Sie starrte auf die weiß verfärbte Zunge auf blaubeerfarbenem Grund, die sich zwischen den nikotinverfärbten Zahnreihen hindurch auf die Lippen schob. Auch der Rachen schimmerte violett. Kurz vor der Bewusstlosigkeit glaubte sie noch, einen sich verjüngenden Tunnel voller Nebelschwaden zu erahnen, während es ihr zunehmend unmöglich wurde, ihre Umwelt wahrzunehmen.
Der muskulöse Mann packte schließlich den Besenstiel, nach dem Kathie vergeblich gegriffen hatte. Mit nur einer Hand knickte er ihn in der Mitte durch, sodass das Holz des Stiels wie ein Streichholz splitterte. Der Stoß, mit dem der Angreifer Kathie das spitze Ende des Stiels unterhalb des Brustbeins in den Körper rammte, erfolgte blitzschnell. Ihre Augen halb geschlossen, wurde sie von dem Holzspeer an die Wand geschleudert. In dem Augenblick, als sie der Speer durchdrang, riss sie die Augen wieder auf, obwohl sie nicht einmal verstand, was passiert war.
Den Schmerz fühlte sie lediglich als warme Welle, die ihren Körper durchflutete. Sich ihr eigenes Ende unter diesen Umständen vorzustellen, hätte sie vor allem mit der Vorstellung von unerträglichen Schmerzen konfrontiert. Nun aber war es eine gnädige Laune der Natur, die Kathie den Schmerz gar nicht erst wahrnehmen ließ. Es fühlte sich an, als würde eine Meereswoge sie sanft anheben und den Kontakt mit dem Boden verlieren lassen. Das alles geschah in dem Moment, als ihr das mit Adrenalin und körpereigenen Morphinen überschwemmte Gehirn noch das Gefühl eines sich vor ihr schließenden Vorhanges suggerierte, kurz bevor ihr Kreislauf endgültig aussetzte. Blut rann von ihren Lippen und benetzte ihren Kittel, ihr Lebenssaft färbte den Stoff aus lindgrüner Baumwolle dunkel.
Im Augenblick der Bewusstlosigkeit erschlaffte ihr Körper. Ihre Augenlider schlossen sich, als sie am ausgestreckten Arm ihres Peinigers zu Boden glitt. Sie bemerkte nicht mehr, wie das Türblatt an ihren Körper stieß und der Mann, der sich nunmehr zur vollen Größe aufgerichtet hatte, sie achtlos am Boden zur Seite drückte, als er das Zimmer verließ.
***
Zur selben Zeit fünfundsiebzig Meilen über den Bahamas
Shuin Sparks beobachtete durch das Visier seines Raumanzugs das nur sehr langsam zurückgleitende Dach des Spacegleiters, hinter dem die blauschwarze Nacht des Alls lautlos auf ihn wartete. Sparks saß nahezu in Liegeposition inmitten der Kapsel, eingepfercht in einen ergonomisch gestalteten Sitz aus Carbon. Die Rohrkonstruktion, aus einer Legierung aus Magnesium und Titanaluminid bestehend, glänzte blasssilbern. Sie diente dem Sitz zur Fixierung, erweckte aber trotz zahlreicher Stabilisierungsstreben einen eher zerbrechlichen Eindruck. Endlich würde der langersehnte Sprung erfolgen. Die Instrumente, die am Armgelenk oberhalb seiner Handschuhe in den High-Tech-Anzug integriert worden waren, zeigten Ready. Sparks erwartete die Absprungfreigabe. Sie würde kontrolliert durch die Bodenstation über eine grüne Farbanzeige erfolgen, die seit wenigen Minuten in fahlem Rot pulsierte.
Erst der Farbwechsel der Signalleuchte würde seine Glieder auch aus der Umklammerung der Sicherheitsbügel freigeben. Es wäre der Schlusspunkt der Transportphase in siebzig Meilen Höhe, die von der Bodenstation als Package-Flight bezeichnet wurde. Aber noch wurde sein Körper durch das ihn umgebende Plexiglaskorsett und den metallisch glänzenden Gurt zurückgehalten, der seine Brust und die Beine wie eine zweite Haut umschloss. Das Signal zum Absprung stand allerdings unmittelbar bevor, denn die Konstruktion der Abdeckung aus feuerfestem Spezialkunststoff hatte sich bereits einen Spalt weit geöffnet.
Sparks legte für eine Sekunde den Kopf in den Nacken, schnaufte durch und genoß seinen Erfolg. Der Ausnahmestudent, der sein Studium der Kernphysik aufgrund eines Stipendiums an der Eliteuniversität Berkeley durchführte, fieberte bereits seit zwei Jahren dem Sprung entgegen. Es war eine ungeahnte Erleichterung gewesen, als man ihm die Auswertung der Tests mitgeteilt hatte, aus denen er allein als Sieger hervorgegangen war. Nun war sein Triumph vollkommen. Sich an den Ausbruch der Freude erinnernd, näherte er sich dem Höhepunkt seiner wochenlangen Vorbereitung, für die er so viele Tage im Space-Jump-Vorbereitungszentrum des seinen Sprung finanzierenden Unternehmens Omega Dive zugebracht hatte.
Der Sprung selbst würde bis zum Erreichen des Erdbodens über dreißig Minuten dauern. Knapp dreißig Minuten freier Fall, denen einige Minuten Schwerelosigkeit vorausgehen würden. Das Geräusch des Einrastens der Sicherungszapfen in der Abdeckung drang an seine Ohren. Der Vierundzwanzigjähige reflektierte in seiner Erinnerung die Gespräche um den Werbeeffekt, den Omega Dive über die Massenmedien auszuschlachten wusste. Weit entfernt auf der Erde verstand es das Unternehmen bereits jetzt, Technologie als Freizeitvergnügen in bare Münze umzuwandeln, denn eine Schar ausgewählter Interessenten verfolgte den Sprung in einer eigens eingerichteten Vip-Lounge zusammen mit den Investoren gegen ein nicht grade geringes Entgelt. Jetzt kostete Sparks das erhebende Gefühl des Jungfernflugs aus, der in diesen Augenblicken für gutbetuchte Abenteuersuchende in Szene gesetzt wurde.
Die Leere des Alls rief in ihm die Erinnerungen an die sternklaren Nächte in Berkeley wach. Als Student hatte er sich am nicht weit entfernten Ufer des San Pablo Reservoirs aufgehalten und im Gras liegend stundenlang in den Himmel geblickt. Schon damals hatte er versucht, sich einen Fallschirmspringer vorzustellen, der aus großer Höhe die Erdoberfläche betrachtet. Jetzt allerdings war es ganz anders als in seiner Vorstellung. Jetzt nahm er die Sterne durch das doppelte Visier seines mit Carbonfasern verstärkten Kevlarhelms wahr, die seine Umgebung durch den Filtereffekt einer Goldbeschichtung in ein fahles Gelb tauchte. Andere Fixpunkte gab es nicht.
Endlich öffnete sich auch die Halterung des Brustgürtels. Sparks zögerte. Erst jetzt, in einer gewaltigen Inszenierung durch die Neigebewegung des Gleiters, geriet der Planet kopfüber in sein Blickfeld. Grün leuchtete die Anzeige Go. Einige Sekunden ließ er sich durch das atemberaubende Schauspiel beeindrucken, auf das er so lange gewartet hatte.
Noch tags zuvor, als er von Mitarbeitern auf dem Abfluggelände von Omega Dive in Florida in den silberglänzenden Gleiter befördert worden war, kannte Sparks den Anblick aus dem Weltall lediglich von Fernsehaufnahmen oder Bildern virtueller Space-Jump-Animationen, die er bereits als Jugendlicher in sich aufgesogen hatte. In den Abbildungen erschien ihm die Erde als zweidimensionale Scheibe, der er wenig Aufmerksamkeit schenkte. Schon damals glaubte er zu ahnen, dass ein Weltraumsprung einmal zu einem seiner Lebensziele werden würde.
Nun hielt er einige Sekunden lang inne, berührt von dem Schauspiel, dessen Schönheit und majestätische Erhabenheit ihm bis zu diesem Augenblick verwehrt geblieben war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er die Erde eigentlich für unspektakulär gehalten, als seine Heimat irgendwo in der Michstraße, auf der es sich zwar angenehm leben ließ, die er jedoch gleichzeitig als eine selbstverständliche Einrichtung der Natur empfand. Erst jetzt, nachdem sich sein Traum zu erfüllen begann, nahm er sie als jene wundersame blaue Kugel wahr, deren Anblick ihn atemlos machte. Eine, aus der Ferne betrachtet, einzigartige Diva im Planetensystem des Alls. Gebannt blickte er auf den unbeweglichen Ball, dessen Wölbung sich im Horizont über ein schwachglänzendes Lichtband in der dahinterliegenden Schwärze des Alls verlor.
Unten auf der Erde, auf dem Gelände von Omega Dive, lief unterdessen die Liveübertragung. Dem ausgewählten Publikum eröffneten sich in diesen Augenblicken atemberaubende Bilder des Weltalls, begleitet von Sparks Ansprache.
»Glaubt ihnen nicht«, sprach er die Worte ins Mikrophon, die er zuvor auswendig gelernt und immer wieder geprobt hatte.
»Glaubt ihnen nicht, wenn sie euch erzählen wollen, wie sie von hier oben aussieht. Vergesst es. Vergesst alles, was man euch erzählt hat. Es ist anders. Ganz anders. Es ist viel größer, viel beeindruckender – Ihr werdet es selbst erleben.«
Im Augenblick, als die Leuchtanzeige von rot auf grün wechselte, wusste Sparks, dass dies das Startsignal zu einem Ziellauf bedeutete, auf den er so lange hingearbeitet und auf dessen Realisierung er lange Zeit nicht in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte. Jetzt war es für ihn Wirklichkeit geworden. Sparks schwelgte in Gedanken, die er bereits tausende Male, wie ein nicht enden wollendes Déjà-vu‚ wieder und wieder durchlebt hatte. Würde es sich anfühlen wie ein Fallschirmsprung, wie er ihn so oft in den Zeiten seines Dienstes bei der Army absolviert hatte? Die Erdanziehung, die ihn wie durch das Saugrohr eines Staubsaugers in die Tiefe ziehen würde, wirkte erst einige Meilen weiter unten, deshalb würde er Minuten in völliger Schwerelosigkeit genießen können.