Das letzte Sandkorn

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Fred Linder war klar, dass er wirklich frei war. Die Stimme in seinem Kopf war da ziemlich eindeutig gewesen und das Verhalten der Pfleger und des soeben verstorbenen Stationsleiters dokumentierten das nur.

Alles war nun anders und vielleicht würde nun alles gut werden.

Nix ist gut. Scheiße ist gut, nie wird etwas gut, dachte es in Linder.

Fred Linder wuchs im Ruhrgebiet auf. Er war zunächst ein aufgewecktes Kind und im Alter von drei Jahren brach sein Vater ihm den Arm. Sein Vater war Gerüstbauer und jeden Abend betrunken. »Schwere Kindheit« attestierten die Ärzte zu verschiedenen Anlässen.

Er liebte seinen Vater, und sein größter, kindlicher Wunsch war damals, auch von Papa geliebt zu werden. Klingt fürchterlich banal, aber eine Kinderseele kennt keine Banalitäten. Kinderseelen nicht. Erwachsene schon.

Der kleine Fred bekam jeden Abend mit, wie Papa seine Mutter misshandelte und war selbst oft genug dabei, wenn Papa mit Mama komische Sachen machte. Mama schrie oft und weinte und Papa war da immer ganz nah bei ihr und hatte seine Hose heruntergelassen und hoppelte irgendwie auf Mama herum. Mama hat oft geblutet im Gesicht und Fred wusste nicht, was da geschah. Papa war nicht oft laut, aber Mama schrie oft, und das war schrill und laut und irgendwann hat Fred dann, als Papa wieder hoppelte, Mama angeschrien, sie solle endlich leise sein.

Da hat Papa ihn angelächelt. Das war schön für den kleinen Fred. Papa hatte ihn bis dahin nie angelächelt.

Fred hat einmal ein Bild gemalt. Er besaß einige Buntstifte und er wollte Papa ein schönes Bild malen, vielleicht würde Papa dann auch wieder lächeln. Fred hatte sich alle Mühe gegeben, um Papa eine Freude zu machen. Er malte Papa auf dem Sofa.

Er malte Blumen und die Flaschen, die immer auf dem Tisch standen. Eine ganz besonders schöne Blume malte er über Papas Kopf. Mama malte er ganz klein in die rechte Ecke des Bildes, Mama malte er nur mit dem Bleistift. Klein und grau.

Aber Papa malte er groß und mit Blumen und er traute sich, ganz stolz auf sein Geschenk, aus seinem Zimmer ins Wohnzimmer, um es seinem Vater zu schenken.

Papa saß auf dem Sofa und trank Bier. Ein Freund von Papa war auch da, und der Fernseher lief. Ein Fußballspiel, Papa schaute gerne Fußball im Fernsehen.

Mama war in der Küche. Sie war fast immer in der Küche, wenn Papa da war. Oder sie war im Schlafzimmer. Bei Papa war sie nur selten, und dann schrie sie immer und weinte.

Er ging langsam und unsicher auf den Tisch zu, an dem sein Vater saß, das Bild wie ein Tablett auf den Händen tragend und legte es vor seinem Vater auf den Tisch. Die Blume über Papas Kopf hatte er rot gemalt, ein roter Kreis mit gelben Blütenblättern. Eine schöne Blume. Papa würde ihn so anlächeln wie damals, als Fred Mama angeschrien hatte.

Papa schlug ihn oft. Wenn man tat, was Papa sagte, und wenn man Papa ganz in Ruhe ließ, dann schlug er nicht so oft.

Er wollte sein wie Papa. Papa wurde von niemandem geschlagen. Papa war Papa. Unschlagbar.

Papa sah ihn erst, als er sich umdrehen wollte, um in sein Zimmer zurückzugehen. Das Bild lag auf dem Tisch.

»Sag mal, hast du sie noch alle?« brüllte Papa. »Was machst du hier?«

Der Freund von Papa schaute ihn komisch an.

So schmale, rote Augen hatte Fred sonst nur bei Papa gesehen. Jetzt hatte Papa auch solche Augen und statt zu lächeln, schlug ihm Papa mit voller Kraft und ohne jede Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht.

Freds Kopf knickte bis zum Anschlag nach hinten. Er schlug hart mit dem Hinterkopf auf den schmutzigen Wohnzimmerteppich. Blut schoss aus seiner Nase und der Schmerz in seinem Kopf und in seinem Gesicht war überwältigend.

»Verpiss dich sofort in dein Zimmer, du Ratte!«, schrie Freds Vater und trat nach ihm.

Der Fuß seines Vaters traf ihn an der linken Hüfte und hinterließ einen tiefen, pochenden Schmerz. Fred rappelte sich voller Angst und Panik unsicher auf die Beine und bewegte sich, so schnell er noch konnte, in Richtung seines Zimmers. Da traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf. Papa hatte ihm mit voller Kraft eine Bierflasche an den Kopf geworfen. Blut und Bierschaum landeten auf dem Teppich und Fred kroch auf allen Vieren aus dem Wohnzimmer in die Küche. Mama stand da, und presste ihre Fäuste vor den Mund. Sie kam ihm keinen Zentimeter entgegen.

»Mama!« nuschelte Fred.

Er war damals sechs Jahre alt, und als er am nächsten Tag sein Bild zerrissen und bierdurchtränkt auf dem Tisch klebend fand, hörte er zum ersten mal die Stimme in seinem Kopf, die ihm erklärte, wie die Welt wirklich war.

Die Stimme war seit diesem Tag zu seinem zweiten Ich geworden. Seine Mutter hatte ihn, als er aus der Sichtweite des Vaters war, getröstet und verarztet.

Immer machte sie »Psssssst«, weil sie Angst hatte, Papa könnte kommen und fortsetzen, was er im Wohnzimmer begonnen hatte. Die Stimme sagte: Pssst ... Pisse ... Pisse, du bist doch Pisse. Und Fred weinte, und in ihm begann das Höllenfeuer zu toben, das ihn sein Leben lang begleiten und letztlich verbrennen würde, wenn nicht ein Wunder geschah.

»Fred Linder hatte eine schwere Kindheit.« So stand es immer in den Berichten, wenn er sich wegen Gewalttätigkeiten zu verantworten hatte.

Ja, Fred Linder hatte eine schwere Kindheit, aber das war nicht alles. Fred Linder hatte eine psychische Erkrankung.

Jeder Mensch vermag selektiv wahrzunehmen. Nur diese Fähigkeit erlaubt es den Menschen zum Beispiel, sich auf Gespräche zu konzentrieren. Man kann andere Dinge gewissermaßen ausblenden. Ein Raum voller Menschen, die sich unterhalten und man selbst führt ein Gespräch und hat damit keine Probleme. Ein Kinobesuch, bei dem sich einige Besucher leise flüsternd während des Films unterhalten, und trotzdem bekommt man alles vom Film mit. Man blendet das einfach aus. Man kann aussuchen, was man in das Bewusstsein lässt und was draußen bleibt.

Fred Linder hatte diese Fähigkeit nicht. Er konnte nicht selektieren. Er nimmt alles wahr, was geredet wurde. Er hörte jedes Geräusch, er konnte nichts ausblenden. Dieses Defizit in Verbindung mit den Erfahrungen seiner Kindheit machte ihn zu dem, was die Menschen in ihm sahen. Ein Monster, einen unberechenbaren triebhaften Menschen, dessen Aggressionspotential nicht bezähmbar war. Und Gott gab ihm den Auftrag, die Welt zu retten.

Die Stimme in Linders Kopf, die Stimme seiner selbst, riet ihm allerdings in sehr deutlichen Worten davon ab.

Fred Linder hatte so etwas wie ein Hochgefühl. Die Sonne schien, war allerdings im Untergang begriffen und die Bäume rechts und links der Straße warfen lange Schatten. Die Klinik lag nun weit hinter ihm, als er die ersten Häuser der kleinen Gemeinde Weninghofen erreichte. Irgendwo in dem Dorf brannte es, schwarze Rauchwolken stiegen fast kerzengerade in den Himmel.

Es waren keine Menschen auf den Straßen Ein Umstand, der ihn stutzig machte. Die ersten Häuser, die er passierte, schienen verlassen zu sein, komischerweise standen die meisten Haustüren offen, nur war niemand zu sehen. Offene Garagen. Kaum Autos. Und keinerlei Verkehr. Falsch, soeben raste ein gelber Toyota mit sehr hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Er erschrak, weil er das Auto erst gehört hatte, als es auf seiner Höhe war. Unglaublich schnell.

»Bestimmt hundert, Kumpel«, dachte Fred Linder und mutmaßte, dass da ein Feuerwehrmann in Richtung Brandherd fuhr.

Er war jetzt schon zwei Stunden frei und hatte weder Polizei noch irgendwelche anderen Häscher gesehen, die ihn in die Klinik zurückbringen wollten.

Nach einigen Minuten konnte er erkennen, dass mehrere Häuser an der Hauptstraße brannten. Dichter Qualm quoll aus den Fenstern und Flammen schlugen aus dem Dachstuhl eines größeren Hauses. Menschen waren nicht zu sehen, niemand rief um Hilfe, und es gab keine Schaulustigen. Von dem gelben Toyota war ebenfalls nichts zu sehen.

Auch aus den hinter der Hauptstraße gelegenen Häusern stieg Rauch auf. Das ganze Dorfzentrum schien zu brennen und niemand kümmerte sich darum. Fred Linder brachte das sofort mit der göttlichen Eingebung in Verbindung. Wie gesagt, er war nicht dumm.

Die fackeln die ganze Scheiße ab. Die haben mit nichts mehr was zu tun.

Dem konnte Fred Linder nur zustimmen.

Er ging weiter und wechselte die Straßenseite, weil auf seiner Seite des Bürgersteiges brennende Trümmerteile den Weg versperrten. Kaum fünfzig Meter weiter lag ein toter Mann auf dem gegenüberliegenden Gehweg. Linder wechselte erneut die Straßenseite, um sich den Mann genauer anzusehen. Seine Hoffnung war, dass der Mann Geld bei sich hatte oder ein Handy oder Zigaretten oder von allem etwas. Neben der Leiche des Mannes, dem irgendetwas mit sehr großer Wucht auf den Kopf geschlagen worden war und der diesem Umstand seinen aufgeplatzten Schädel verdankte, lag ein Blindenstock.

»Wer erschlägt denn einen Blinden?«, entfuhr es Linder. So etwas wie Mitgefühl für den Toten meldete sich, als er den Leichnam auf den Bauch drehte und seine Taschen durchsuchte. Eine Geldbörse und tatsächlich ein Mobiltelefon. Kein Netz und keine Zigaretten. In dem Portemonnaie befanden sich fast zweihundert Euro und Linder pfiff kurz durch die Zähne. Er warf einen letzten Blick auf den Toten und auf den Blindenstab, da hörte er eine Frau weinen und schluchzen.

In dem Bewusstsein, dass offensichtlich der Irrsinn Einzug gehalten hatte in der Welt und den damit verbundenen Gefahren für sein Leben, kniff Fred Linder die Augen zusammen und spannte sich innerlich an.

In etwa fünfzig Metern Entfernung stand ein Cabriolet in einer Einfahrt. Das Weinen kam aus dieser Richtung. Das Auto würde er abgreifen und von hier wegfahren. Irgendwohin, wo Ruhe war. Die Stimme sagte nichts dazu, und das war ein Zeichen, dass er eine gute Idee hatte.

 

Hinter ihm brach prasselnd der Dachstuhl des Gebäudes zusammen, das er eben passiert hatte.

Er näherte sich angespannt der Frau, die vor dem Auto saß. Sie hatte ihre Arme um die Knie geschlungen und wippte weinend hin und her. Linder sah, dass eine Tote hinter dem Lenkrad saß und begriff, warum die Frau weinte und derart aufgelöst war. Er war bis auf etwa drei Meter an die Szene herangekommen, als die Frau ruckartig den Kopf hob und wild um sich blickte.

»Wer sind sie?« rief die Frau mit zittriger Stimme. »Bitte tun Sie mir nichts, bitte nicht ...« Dabei schien sie direkt an Fred Linder vorbeizuschauen. Die Frau rutschte, noch immer sitzend, von ihm weg und zog sich hinter das Auto.

Fred Linder war ratlos. Zu viel war in den letzten zwei Stunden passiert, und irgendwann war auch das Ungewöhnlichste nichts Besonderes mehr. Nur zwei Stunden reichten dafür aus.

»Ich tue Ihnen nichts«, sagte Linder und war erstaunt, seine eigene Stimme zu hören. Wann hatte er zuletzt was gesagt?

Beim Fegen auf dem Flur, bevor du den Arsch fertig gemacht hast, beantwortete seine innere Stimme die Frage.

»Kommen sie schon hinter dem Wagen hervor. Ich tue Ihnen nichts«, sagte Linder erneut.

Die Frau, die jetzt aufgestanden war und sich an dem Cabriolet entlangtastend auf ihn zu bewegte, war hübsch. Daran änderte auch das verheulte Gesicht nichts. Linder schätzte sie auf Mitte dreißig. Sie hatte eine gute, sehr weibliche Figur und trug Jeans, ein kariertes Holzfällerhemd und Lederstiefel.

Ihre Augen waren ... »Sie sind blind«, entfuhr es Linder und er folgerte sofort, dass der Blindenstock bei dem toten Mann der ihre war.

»Yvonne ist tot, mein Gott, und die Kinder, und da hinten liegt auch ein toter Mensch«, sagte die Frau mit fast versagender Stimme.

»Was ist nur los? Das Haus brennt und niemand hilft. Was ist nur los, was ist nur los, was ist nur los, was ist ...« Die Worte gingen wieder in ein lautes Schluchzen und Weinen über.

Ob es der Anblick der toten Kinder und ihrer Mutter war, oder der vermeintlich blinde Tote da hinten, oder die definitiv Blinde vor ihm in ihrer endlosen Verzweiflung und Trauer, wusste Fred Linder nicht. Es machte in ihm »Klick« und er akzeptierte, dass er nun wohl nicht mehr alleine war. Die Frau saß jetzt wieder auf dem Boden der Einfahrt und das Zittern ihres Körpers zeigte, dass sie noch immer weinte. Linder hockte sich neben sie und tätschelte ihr unbeholfen den Rücken. »Kommen Sie, wir sollten hier verschwinden«, sagte er und zog sie sanft auf ihre Beine.

Die Frau sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre Pupillen waren klar, aber sie blickten ihn irgendwie nicht an.

Fred Linder tätschelte erneut ihren Rücken. »Bleiben Sie einen Moment hier stehen, ich hole Ihren Stock, ist doch Ihrer, oder?«

Die Frau nickte nur.

Was bindest du dir denn jetzt die blöde Heulkuh ans Bein? knurrte die Stimme in Linders Kopf.

»Halt den Mund«, knurrte Linder zurück. Lange her, dass er der Stimme Einhalt geboten hatte und nicht mit ihr einer Meinung war.

Na wenigstens haben wir was zum Vögeln.

Fred Linder verpasste der visualisierten Version seines zweiten, inneren Ichs, einen Faustschlag ins Gesicht. Nur in seinem Kopf.

Er hatte begonnen, sein zweites Ego als Realität zu akzeptieren, als diese Stimme begann, ihn in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Seine Exzesse unter Wut und Hass waren stets von ihr mitverursacht worden. Sie stachelte ihn immer auf. Der Psychologe der Klinik war fasziniert davon, dass Fred der Stimme innerlich einen Körper und ein Gesicht gegeben hatte, und auch davon, dass Linder praktisch alles mit der visualisierten Version anstellen konnte. Hier setzte der Doktor seine Therapie an. Er brachte Linder dazu, diese imaginäre Figur zu fesseln, anzuketten und zu knebeln. Linder konnte das, aber er wollte das nicht. Die Stimme war ER. Er war die Stimme und sie beide gehörten zusammen. Aber das hieß nicht, dass er immer mit ihr einer Meinung sein musste. Siamesische Zwillinge, sozusagen. Würde der Psychiater noch leben, wäre er begeistert von diesem einzigen Therapieerfolg, den er an Fred Linder vollbracht hatte.

Fred Linder ging die etwa fünfzig Meter zu der Männerleiche zurück, nahm den Blindenstock an sich und kehrte zu der Frau zurück. Der Stock fühlte sich sonderbar an. Leicht und ungewohnt. Länger als Linder vermutet hatte. Am Ende des Stockes war eine Kugel angebracht. Er hatte keine Ahnung, wozu die da war. Er berührte, nachdem er bei der Frau angekommen war, mit dem Stock leicht ihre Hand und sie ergriff ihre Hilfe sofort.

»Danke«, sagte sie und »Wer sind Sie?«

Er antwortete »Fred Linder. Und damit Sie es gleich wissen, ich bin aus der Irrenanstalt entflohen. Da sind auch alle verrückt geworden und haben das Tor offengelassen.«

»Bitte bringen Sie mich fort von hier. Aber wohin nur?«, entgegnete die Frau. »Ich heiße Brigitta, aber alle nennen mich nur Becki.«

»Weswegen warst du in der Klinik?«, fragte sie und lief neben Fred her. Ihren Stock hatte sie unter den rechten Arm geklemmt und sich mit dem Linken bei Linder eingehakt.

»Ich verliere zu schnell die Geduld. Da gab es oft Ärger und ich hab wohl beim letzten Mal zu fest zugeschlagen, und der Typ behielt einen derben Dachschaden zurück. Die halten mich für schizophren oder so. Deswegen hatten sie mich da eingebuchtet.«

»Darf ich dich ansehen?«, fragte Becki, ohne auf das, was Linder gesagt hatte, einzugehen.

»Ansehen?«

»Na, mit den Händen. Kennst du doch, oder?«

»Du hast Blut an den Händen.«

»Schlimm?«

»Nö.«

Sie blieben stehen, und obwohl rings um sie herum die Welt gerettet wurde, indem die Menschen sie niederbrannten und sich gegenseitig umbrachten, standen sie da und Becki fuhr sanft mit den Fingerspitzen über Fred Linders Gesicht, dann über den Kopf. »Du hast ja gar keine Haare«, sagte sie kurz, und machte dann am Hals weiter.

Mit der flachen Hand tastete sie schnell über die Arme und den Oberkörper. Fred hielt ganz still.

Auch wenn diese Berührungen nur dem »Sehen« dienten, waren sie doch das Zärtlichste, was er je gespürt hatte bis zu diesem Tag.

»Du hast ganz schöne Muskeln und ein schönes Gesicht. Ich mag es, wenn Männer glatt rasiert sind. Kannte aber noch nie jemanden, der eine Glatze hat«, sagte Becki, nachdem sie ihr inneres Bild über Fred Linder hergestellt hatte. »Muss ich Angst haben, dass du auch mit mir ungeduldig wirst und mir was antust?«

Darauf kannst du wetten, du blöde Kuh, keifte die Stimme und Linder sagte: »Ich habe noch nie einer Frau etwas zuleide getan.«

Was die Frage zwar nicht wirklich beantwortete aber ausreichte, um Becki dahingehend etwas zu beruhigen.

»Was geschieht hier nur? Mein Gott, wer hat Yvonne und den Kindern das angetan, und dem Mann?« Das Weinen stieg nun wieder in Beckis Kehle.

»Ich habe erst eine Stimme im Kopf gehabt, und die hat mir gesagt, ich solle die Welt retten, und dafür hätte ich zehn Tage Zeit. Blablabla. Da habe ich auch daran geglaubt, dass ich ins Irrenhaus gehöre. Aber die anderen hatten das wohl auch in ihrem Kopf gehabt Die sind plötzlich völlig anders drauf gewesen. Keiner von denen hat mich beachtet, und ich bin einfach rausspaziert. Und gebrannt hat es auch. Die Verwaltung, glaube ich«, sagte Linder.

Das pikante Detail von der Ermordung des Stationsleiters ließ Linder bei seiner Erzählung aus. Geht die einen Scheißdreck an, kommentierte die Stimme in Linders Kopf.

Diesmal gab er ihr recht.

»Ich habe das auch gehört. Es war in meinem Kopf, eine Frauenstimme, und sie sagte, sie sei Gott und dass die Menschen alles vermurkst hätten, und sie würde dem jetzt ein Ende machen und in zehn Tagen die Welt vernichten, und ich könne die Welt retten. Das war keine Einbildung, absolut echt und glasklar. Aber ich kann die Welt nicht retten. Ich kann mich ja nicht mal selbst retten. Ich kann gar nichts. Da war ich wohl die falsche Adresse. Können Schweine fliegen?«. Becki schwieg, und auch Linder sagte nichts.

Brigitta nestelte nach ihren Zigaretten und bot ihm eine an. Er nahm zwei aus der Schachtel, griff nach dem Feuerzeug, das sie ebenfalls in der Hand hielt, freute sich sehr über die Erfüllung seines dritten Wunsches, und zündete beide Zigaretten gleichzeitig an. Eine gab er Becki zurück. Eingehakt und rauchend liefen die beiden die Hauptstraße entlang.

Fred fragte sich schon die ganze Zeit, warum keine Menschen da waren. Er hatte auf dem Weg bisher nur Becki gesehen, den Typen, der tot auf der Straße lag, die Frau und die beiden Kinder im Cabrio und den Fahrer des Autos, das mit hoher Geschwindigkeit durch den Ort gerast war. Doch, da war noch der Lastwagen, der den Pfleger aufs Korn genommen hatte.

Linder hatte durchaus registriert, dass die Hälfte des Ortes in Flammen stand. An einer Abzweigung der Straße hatte er einen Blick in Richtung Dorfmitte werfen können und gesehen, dass die Kirche, die den Mittelpunkt der Ortschaft bildete, in voller Ausdehnung brannte, genau wie die umliegenden Häuser. Der leichte Wind wehte die ziemlich imposante Rauchwolke von ihnen weg, sodass kaum Brandgeruch in der Luft lag.

Das Fehlen von Menschen und Blaulichtern, Rettungsfahrzeugen und Löschzügen gab der Situation einen surrealen Charakter.

Das Bersten überforderten Materials, ein Rauschen, komponiert aus Krachen und Splittern, Knistern und Krachen war zu hören, aber darüber hinaus gab es keine Geräusche, die auf die Anwesenheit von Menschen schließen ließen, wie sie bei Bränden dieser Größenordnung normal gewesen wären. »Wo sind die alle?«, fragte sich Linder zum wiederholten Male.

Becki war an seinem rechten Arm eingehakt und nahm auf ihre Art und Weise wahr, was um sie herum vorging.

»Bitte geh da hin, wo die Geräusche herkommen«, sagte sie unvermittelt und erfüllte damit zum zweiten Mal einen Wunsch, den Linder hatte. Er wollte wissen, wo die Menschen geblieben waren.

Und so wandte er sich dem Zentrum, der brennenden Kirche, zu.

Allzu nahe konnten sie nicht an den Brandherd heran. Flammen schlugen meterweit aus den Fenstern der Gebäude rings um die Kirche, die selbst ein Inferno aus Rauch und Flammen geworden war. Der Kirchturm hatte sich bereits in einem bedenklichen Winkel geneigt und Schieferplatten fielen herab, losgeglüht von der Hitze des lodernden Dachstuhls.

Die Straße und der Platz vor der Kirche war bereits mit Trümmern, die entweder brannten oder schwelten, übersät und nur der Tatsache, dass der leichte Winde den Rauch von ihnen wegblies, war es zu verdanken, dass Linder Details der Szene erfassen konnte.

Vor dem Eingangsportal der Kirche lag ein großer, schwarzer, dampfender Haufen und als Linder seine Augen darauf fokussierte, sah er, dass da ein regelrechter Berg verkohlter menschlicher Körper lag. Schlagartig wurde ihm klar, dass alle nach der unfassbaren göttlichen Eingebung versucht hatten, in die Kirche zu gelangen. Der Gedanke, wie es im Inneren der Gluthölle des Sakralbaus aussehen würde, ließ ihn die Tragweite dessen, was geschehen war, erkennen.

Er ahnte nicht, dass all diese Menschen gekommen waren, um den Pfarrer zu töten. Nun waren sie selbst in dem Inferno verglüht, das sie zur Rettung der Welt zu entfachen sich angeschickt hatten.

»Hier gibt es nichts«, konstatierte er, mehr zu sich selbst als zu Becki und kehrte um.

»Was siehst du?«, fragte Brigitta.

»Sei froh, dass du blind bist«, gab er zur Antwort.

»Verdammt noch mal, was siehst du?«

»Die sind alle tot, die fackeln ab. Da brennt die Kirche und alle liegen herum und brennen. DAS sehe ich.«

»Scheiße.«

»Ja.«

»Weg hier.«

»Ja.«

Sie hakte sich fester bei ihm ein und sie liefen denselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Sie passierten eine kleine Seitenstraße und Linder dirigierte sie hinein.

Linder hatte gesehen, dass etwa hundert Meter von ihnen entfernt ein Auto mit offenen Türen stand, bei dem die Warnblinkanlage eingeschaltet war. Noch immer war keine Menschenseele zu sehen und Linder blickte in das Innere des Autos.

»Kein Schlüssel«, sagte er und sein innerer Zwillingsbruder ergänzte Verdammte Kacke«.

»Was meinst du mit ›Kein Schlüssel‹?« fragte Becki und ihre Stimme klang ein wenig gereizt. Ein wenig zu gereizt für Linder und sein zweites Ich.

 

»Das heißt, dass da kein verdammter Schlüssel in dem Auto steckt und wir die beschissene Dreckskarre nicht starten können. Dazu braucht man einen Schlüssel, kapierst du das? Kriegst du das rein in deinen blinden Schädel?« Er trat gegen den vorderen Kotflügel und erzeugte eine Beule an dem fast neuen Wagen.

Becki stand wie erstarrt vor ihm und Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Da ... da ... das konnte ich doch nicht wissen. Ich bin BLIND, kapierst du Glatzkopf das? Kriegst du das in Deinen haarlosen Schädel? Ich bin absolut blind und genauso hilflos. Schrei mich ruhig an oder lass mich hier alleine. Die ganze Welt ist im Arsch, und nur weil du den Schlüssel nicht findest, machst du mich hier zur Sau oder was? Verpiss dich einfach.« Vor Wut hochrot im Gesicht wandte sie sich um und tastete sich an den Hauswänden in Richtung der brennenden Kirche zurück.

Linder hielt sich an der Dachreling des Volvo fest und schaukelte das Auto hin und her. Er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und die Adern an seinen Schläfen traten bläulich und dick hervor.

Erstaunlich sanft angesichts seines tobenden inneren Kampfes mit seinem anderen Ich sagte er fast flüsternd: »Warte, warte ... bitte.« Und: »Es tut mir leid ... ich ... komm bitte wieder her, wir finden ein anderes Auto.«

Der innere Fred war außer sich vor Wut und Enttäuschung und tobte in Linder voller Hass und dem Gefühl der demütigenden Zurückweisung. Er war es nicht gewohnt, dass Linder anders handelte, als er es ihm soufflierte.

Brigitta war stehengeblieben. Ihre Schultern zitterten noch.

»Wie kannst du so sein?«, fragte sie laut, als sie sich zu ihm umgedreht hatte. »Da war so unglaublich viel Wut in deiner Stimme, dabei habe ich doch nur gefragt, was du meinst mit dem Schlüssel«, brachte sie heraus und ärgerte sich über das Zittern in ihrer Stimme.

»Ich war nicht in der Anstalt, weil ich Fußpilz habe«, sagte er nur. »Ich bin aber froh, dass ich in dieser Scheiß-Situation nicht alleine bin.«

Sie war wieder bei ihm angekommen. Ihre geschärften Sinne führten sie direkt zu ihm. »Und ich bin auch froh, dass ich nicht alleine bin. Was ist jetzt mit dem Auto?«

»Das können wir vergessen. Kein Schlüssel. Die ganze Welt geht unter und der Arsch nimmt den Schlüssel mit, bevor er sich in die Flammen stürzt. Wer ist hier bekloppt?«

Plötzlich musste Becki laut lachen. Es brach einfach aus ihr heraus. Sie hielt sich dabei wie in einem Stummfilm übertrieben den Bauch, und dieser Anblick reizte den ansonsten stets ernsten Fred Linder ebenfalls zum Lachen.

Und so standen sie minutenlang in der Hölle, die vor Stunden über die Welt gekommen war und lachten, bis sie nicht mehr konnten.

Schwer atmend saßen sie anschließend vor dem nutzlosen Volvo und Becki bot ihm wieder eine Zigarette an.

»Warte mal«, sagte er und stand auf, beugte sich wieder in den Volvo und öffnete das Handschuhfach. Er hatte bereits vorher gesehen, dass Zigarettenkippen im Aschenbecher des Wagens lagen und tatsächlich fand er im Handschuhfach zwei Schachteln Zigaretten, die er triumphierend in ihre Richtung hielt.

»Ha, jetzt habe ich selber Zigaretten.«

»Und ich habe das Feuerzeug, du Verrückter.«

»Scheiße.«

»Tja.«

»Gibst du mir Feuer?«

»Gerne.«

Sie rauchten und Brigitta lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

Der innere Fred schwieg, aber sein Gesicht war wutverzerrt.

Hinten stürzte der brennende Dachstuhl der Kirche in sich zusammen und begrub den grauenvollen Berg vor der Kirche gnädig unter sich.

Wortlos half er ihr auf und eingehakt liefen sie die schmale Straße weiter entlang. Linder wandte den Kopf suchend hin und her, immer in der Hoffnung, irgendwo die Gelegenheit zu erkennen, an einen fahrbaren Untersatz zu kommen.

Als sie wieder auf der Hauptstraße angekommen waren, stellte Linder fest, dass sie sich bereits am Dorfrand befanden. Ein gelbes Schild zeigte den Ortsausgang und gab Auskunft darüber, dass das nächste Dorf sechs Kilometer entfernt war.

»Bist du gut zu Fuß?«, fragte er sie leicht resigniert und sie antwortete: »Ich dachte du trägst mich«.

»Vergiss es.«

»Ach, komm.«

»Scheiße.«

»Doofmann.«

Sie liefen eng nebeneinander mitten auf der Fahrbahn und Linder war glücklicher als je zuvor in seinem Leben, dem Chaos zum Trotz, und Brigitta fühlte sich absolut sicher, obwohl die Welt zerbrochen war.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?

Teised selle autori raamatud