Loe raamatut: «Auszeit mit Tine»
AUSZEIT
MIT
TINE
BERNHARD SPRING
AUSZEIT
MIT
TINE
Roman
mitteldeutscher verlag
INHALT
Cover
Titel
Widmung
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Impressum
Für Annika, die Tine überhaupt
erst denkbar gemacht hat
ERSTES KAPITEL
So. Ein letzter Blick in die Küche, ob der Herd auch aus ist, im Flur noch mal die Liste durchgegangen und dann Tür abschließen und weg.
Im Treppenhaus denke ich noch an das Taschenmesser in der linken Rucksacktasche und frage mich, wofür ich das eigentlich brauchen könnte. Aber dann, den restlichen Weg von der Torausfahrt bis zum Bahnhof, ist nur noch Tine in meinem Kopf. Das würde ihr wohl gefallen, wenn sie das wüsste, denn sie ist gern der „Brennpunkt meiner Aufmerksamkeit“.
Tine ist Kinderkrankenschwester und hätte beinah nicht freibekommen, aber die Stationsschwester hatte Nachsicht, weil wir ja eh nur eine Wochenendbeziehung haben, und da muss es ja schließlich wenigstens einen Sommerurlaub geben! Zwei Wochen haben wir jetzt also, um unser Verhältnis nach allen Regeln der Kosmetik zu pflegen, mehr ist nicht drin. „Da siehst du mal, wie unwichtig deine Geschichte ist, Kindchen“, hat Tine in das Telefon festgestellt, „du kannst ein halbes Jahr Semesterferien machen und keinem fällt es auf. Aber ne Krankenschwester, die fehlt schon, wenn sie ihren Kittel auszieht.“
Am Bahnhof hätte ich wohl noch Blumen kaufen sollen, so ein kleines, handliches Sträußchen für unterwegs, denke ich, aber das fällt mir natürlich erst ein, als mir Tine aus dem Zug entgegenfliegt und ich ihr unbedingt etwas schenken möchte. Da erst merke ich, dass ich ihr in diesem Moment nur mich selbst geben kann, was vielleicht etwas zu wenig sein könnte, besonders um die Waden rum. Aber Tine stört das gar nicht, sie landet um meinen Hals und küsst mich an.
„Na endlich!“, haucht sie mir ins Ohr und fühlt sich ganz warm an meiner Wange an. „Der Zug hierher fährt ooch jedes ma n bissl langsamer.“ Ich möchte mich neben sie auf eine Bank setzen und mich erst einmal freuen, dass sie da ist, aber Tine kann nicht still sitzen. Auch Ruhigsein ist gerade schwer. Sie ist so aufgeregt, dass sie vor Schreck mit Sächseln anfängt. „Wie lange müssmern jetze wartn, Kindchen? Weestes hundertprozentich oder nur so ibbern Daum jepeilt? Un sitzmer ooch am richtchen Gleis, nich dass der Zuch uns hinterm Rückn vorbeirattert.“ Ich küsse ihre Zweifel weg, was nur halb gelingt. „Haste dir das wörklich überlecht mit mir?“, fragt sie nun. „Zwee Wochn haste mich jetz offn Hals, un keene andre weit un breit. Hältste das aus?“ Halt ich! Sie ist doch mein All und Eine. Tine streicht mir die Kinnlade entlang und macht ganz verträumt: „Ach du …“, was ich nicht mehr toppen kann.
Nach einer viertel Stunde, die Tine als halbe Ewigkeit bezeichnet, kommt der Zug. Die schnarchende Stimme im Lautsprecher will, dass wir zurücktreten, bitte. Dann erst dürfen wir einsteigen. Tine möchte am Fenster sitzen, und mir gegenüber wegen Freiraumlassen, oder lieber neben mir zwecks Gemütlichkeit, am besten in Fahrtrichtung, aber welche ist das? Endlich hat sie eine Wahl getroffen und strahlt übers ganze Gesicht. „Nu heb erstma mei Rucksack hoch un dann kommste her und ehelichst deine Pflichten! Willsten Keks?“
„Wo sind die denn?“, will ich wissen.
Tine zieht eine Schnute. „Na im Rucksack, das hättste dir doch denkn könn, Kindchen. Den wirste wo jetz nochema runnerholn müssn.“
Der Zug fährt an und Tine ist damit beschäftigt, sich mir gemütlich zu machen. Erst lehne ich mich an sie, dann wechseln wir, je nach Stimmung. Wir kauen Kekse und trinken Wasser medium, was sie gern hat, weil es natürlich ist und reinigt, von innen. Sagt sie. Erst reden wir von unserem Ferienhaus, das sie noch nicht mal auf Fotos gesehen hat, dann von ihr und auch ein bisschen von mir. Wenn Tine von sich erzählt, kommen dabei viele Krankenschwestern und kleine kranke Kinder vor, was mich immer ein bisschen traurig macht. Kranke Kinder sind viel schlimmer als kranke Erwachsene. Außer wenn es Eltern sind, die sind genauso schlimm.
„Möchtest du mal Kinder, wenn du groß bist?“, fragt mich Tine und diesmal sächselt sie nicht so sehr. Ich liege grad so mollig unter ihrem Arm und träume zum Fenster raus und muss jetzt nachdenken. „Zwei wären nicht schlecht“, sage ich und habe keine Ahnung, wann die kommen wollen. Die liegen da irgendwo hinter der dreißig auf der Lauer.
„Warum nicht vier?“, bohrt Tine nach und stupst mir die Nase viermal an. „Eins sieht so aus wie du, eins wie ich, eins wie wir beide zusammen und eins müssen wir nach meiner Omi nennen.“
Mir gehen die Augenbrauen von alleine hoch. „So viel Zeit haben wir doch gar nicht für so viele Kinder.“ Aber Tine kennt die Lösung schon. „Pass ma off, Kindchen. Ich wees ja nich, wie’s die annern Fraun machen, a’ar ich brauch nur neun Monate pro Stück. Un der Herr Dogdor der Jeschichde wird ja wo jenuch Zeit hamm, um ne kleene Windel zu wechseln oder n Kinnerlied zu summen, meenste nich?“ Und ehe ich etwas sagen kann, antwortet sie schon für mich: „Siehste!“
Dann dauert die Fahrt doch ein bisschen lange und wir fühlen es. Ich sehe Tine zu, die Fingerabdrücke auf die Fensterscheibe macht und mir dabei erklärt, was ich sehe. „Da, guck mal, eine olle Windmühle. Damit haben sie Mehl gemahlen. Früher, als du noch Quark im Schaufenster warst. Und gucke mal da, da hinten, nee, jetzt ist es schon weg. Das war so ein Vogel, du weißt schon, so ein seltener.“
Als ich wach werde, liest Tine Fotos aus so einem Frauenmagazin, in dem dünne und fehlgeschminkte und betrunkene Bekannte vorgestellt werden. Ganz in die Bilder vertieft, krault sie mir meinen Kopf. Ich möchte glatt wieder einschlafen oder wenigstens schnurren, um mich bei ihr zu bedanken, und als ich ihre Finger küsse, schaut sie mich ganz verschlafzimmert an. „Na, da kommt wohl jemand langsam in die Pubertät. Ob ich dich noch unter die Mädels lassen kann, ohne dass es Ärger gibt?“, fragt sie uns besorgt.
Seit wir uns kennen, bin ich ihr Kindchen, und das obwohl ich drei Jahre älter als sie bin. Aber Tine hat nachgerechnet und festgestellt, dass sie die eigentlich Ältere ist. Und zwar wären Frauen eh immer um zwei Jahre voraus. Und in meinem speziellen Fall wäre das sogar noch schlimmer: drei Jahre, mindestens. So genau könne sie sich nicht festlegen, weil ich ziemlich mal so und mal so sei, seit ich im letzten September die Grundschule abgeschlossen hätte. „Das kommt vom Stress, Kindchen“, erklärte sie mir. „Du willst dich unter deinen neuen Klassenkameraden behaupten und da vergisst du dann halt manchmal, dass du schon abwaschen kannst. Aber bis zum Professorschlag hast du das ganz sicher wieder im Griff.“
Als wir aus dem Zug ausstiegen, begrüßte uns ein sehr kleiner Bahnhof. Dahinter erstreckte sich eine Kuhweide, dahinter ein paar rote Ziegeldächer. Das also war Freibach. Und nach ein paar Hundert Metern war’s das auch schon wieder.
„Mensch, Kindchen“, staunte Tine Bauklötze vor das Bahnhofshäuschen, „wie hast du denn das gefunden? Das Örtchen suchen die doch bestimmt schon seit der Völkerwanderung!“
Aber ich hatte alles bestens geplant. Ich kannte das Ferienhaus, die große Überraschung, aus dem Internet und den Weg dorthin aus dem Brief vom Vermieter. Zweieinhalb Kilometer Luftlinie durch den Wald hinter Freibach, immer auf dem Feldweg lang. Nicht zu verfehlen, alles war bis ins letzte Detail durchorganisiert. Nur eins hatte ich vergessen: Tine musste ihren Rucksack bis dorthin tragen.
Durch den Ort trug sie ihn mit Fassung. Sie nahm es positiv. „Jetzt sehen die hier mal, dass auch eine aus der Stadt ordentlich was weghucken kann.“ Auch weiter hinten, wo der Wald anfing, blieb sie gelassen. „Wenigstens ist es hier schön kühl, da brennt mir der Juli keine Streifen auf den Rücken.“ Ihr Lächeln hatte aber mittlerweile schon einen leicht verbissenen Zug und ich fürchtete um mein Leben, als ich ihn bemerkte. Ich hätte ihr vielleicht von der Steigung erzählen sollen, die noch vor uns lag. Als wir so weit waren, fiel Tines Kampfgeist wie befürchtet mit Anlauf bergab. „Sag mal, wo schleppst du mich denn hin? Ich bin doch kein Lama. Was machen wir? Pause oder in fünf Minuten da?“
Ich schlug vorsichtig eine kleine Pause vor. Aber jetzt wollte es Tine genau wissen: Wie lange müssen wir noch das Gepäck für zwei Wochen durch die Pampa schleppen? Frauen mit unbeständiger Laune gegenüber sollte man diplomatisch auftreten, dachte ich mir. Ehrliche Antwort also: Etwas mehr als fünf Minuten dauert’s schon noch. Wie lang genau? Na, so etwa eine halbe Stunde vielleicht, aber vielleicht auch nur zwanzig Minuten noch. Ja, maximal zwanzig Minuten.
Tine rieb sich die Schulter und sah mir direkt in die Augen. „Dann machen wir jetzt keine Pause, Kindchen. Das will ich jetzt hinter mich bringen, aber gnade dir Gott, wenn das länger dauert.“
Zu meinem Glück kamen wir pünktlich bei dem Ferienhaus an, nach irgendwas zwischen vierzig Minuten und einer Stunde.
ZWEITES KAPITEL
„Meine Güte, da hast du mal einen echten Glücksgriff gemacht!“, freute sich Tine über das Haus und den Schuppen und alles Grüne drum herum. „Hier sieht es ja ganz wie im Märchen aus, so ganz ohne modern times und so.“ Ich strahlte ebenfalls, aber vor Stolz, weil es ihr so sehr gefiel. Es war ja ihre Idee gewesen, irgendwo in der Abgeschiedenheit Urlaub zu machen, wo es keinen Strom gab. Aber dass es hier dann auch tatsächlich so aussah wie unberührte Nostalgie, überraschte uns nun doch ein bisschen.
Wir setzten unsere Rucksäcke ab und ich schloss das Gartentor auf. „Darf ich bitten?“, fragte ich und machte einen standesgemäßen Diener. „Darfst du, Kindchen, solange kein andrer vorbeikommt.“
Mit federnden Beinen tanzte sie durch das Gatter, über die Wiese und auf die Terrasse vor das Haus. Dann ein Staunen. Das gute, alte Haus guckte uns ganz einladend durch ein großes Fenster an. „Das ist es“, präsentierte ich ihr unser Domizil. „Schön ist es, Himmel!“, raunte Tine und gab mir einen Kuss. „Aber jetzt sperr die Tür auf und spann mich nicht so auf die Folter!“ Also schloss ich, statt zu spannen. Und ich führte sie durch die Zimmer, die ich vom Prospekt her kannte, und überraschte uns beide mit der Wirklichkeit. Da war erst einmal ein schmaler Flur, der wie ein L im Haus lag. Am Hals vom Flur, etwas versetzt zur Haustür, kamen wir in das Wohnzimmer und fanden es perfekt. Die wichtigsten Erfindungen der Menschheit waren in diesem Raum versammelt: eine breite Bank, die um zwei Ecken ging, ein dicker Tisch, ein Bücherregal und, das Beste überhaupt, ein kleiner Steinofen für die Abende. Ich stellte mir schon einiges vor, während Tine die Küche am kürzeren Ende vom Flur-L inspizierte. „Junge, hier müssen wir mit Gas kochen. Da lass man lieber nur mich ran, sonst brauchen wir gar nicht erst auspacken“, rief sie durch das L.
Hinter der Haustür, gleich links, führte eine schmale Treppe in das Dachgeschoss rauf, wo wir nur geduckt stehen konnten, so zuvorkommend kam uns die Decke entgegen. Da lagen drei Matratzen nebeneinander und sonst gähnte uns nur die Weite der Holzdielung an. Tine entdeckte den winzigen Balkon, der gehörig knarrte, als wir beide feststellten, wie weit man von ihm aus sehen konnte. Da lagen die anderen Berge unserem gegenüber, und zwischen allem, was wir aber vor lauter Bäumen nur ahnen konnten, schwabberte die Unstrut durch. „Hier kann man’s aushalten“, stellte Tine überzeugt fest. „Sogar mit dir.“
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, uns häuslich einzurichten. Während ich die Rucksäcke über die Treppe hievte, zählte Tine das Besteck in der Küche ab und fand heraus, dass wir spätestens am nächsten Tag einkaufen müssten, um nicht zu verhungern. Dann half sie mir, die frisch gespannten Laken zu zerknittern, indem sie eine Kissenschlacht anordnete. „Wehr dich doch ma endlich!“, forderte sie, als ich schon fast am Kapitulieren war. „Trauste dich nich?“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich stürzte mich auf sie und schnappte mir ihre süßen Handgelenke. Dann musste sie sich abküssen und kitzeln lassen, bis wir nicht mehr konnten. Von draußen schien die Sonne durch zwei Fichten zu uns rein, es war so gegen halb fünf und wir dösten etwas weg.
Als wir wach werden, brummen unsere Bäuche und wir versuchen uns zu erinnern, wann wir zuletzt etwas gegessen haben. Viel zu lange her. Also folgt dringend die erste Bestandsaufnahme. Brot haben wir, aber keine Wurst, wegen der Wärme im Rucksack und in der Reiseluft. Butter auch nicht. Zwei Dosen hatte Tine mir mitzubringen befohlen; mit Bohnensuppe die eine und die andere mit Kartoffelsuppe. Tine liebt Suppen und würde dafür töten und sterben. „Dann können wir ja loslegen“, diagnostiziert sie und macht sich am Herd zu schaffen. Nebenbei knabbern wir trocken Brot und witzeln. Als Kavalier mache ich ihr die Büchsen auf, aber da wird Tine plötzlich nachdenklich. „Sag mal, wo waschen wir uns denn eigentlich, wenn’s nicht mehr auszuhalten ist vor lauter Katzenwäsche?“ Ich bin spontan ratlos. Daran habe ich nicht gedacht und sie wirft mir nun vor, dass ich das Naheliegendste immer aus den Augen verliere. So viel Welt ohne Technik ist uns beiden dann doch nicht so ganz geheuer.
Weil es uns jetzt aber wirklich interessiert, lassen wir die Büchsen stehen und machen uns auf die Suche nach einer Wasch gelegenheit. Im Haus ist nichts zu finden, nicht einmal ein Wasseranschluss. Auf der Terrasse vor dem Haus bräunen sich ein Tisch und bemalte Klappstühle. Aber unter dem Dachvorsprung neben dem Haus finden sich ein paar Hilfsmittel für das klassische Zeltlager. Die Hauswand ist von außen mit Holzscheiten angestapelt, daneben ein kleiner Steinplattenweg und dort, wo das Dach aufhört, neben den Stützbalken, stehen zwei dicke Regenfässer. Wie wir feststellen, sind sie randvoll, hauptsächlich mit Wasser, ein paar Blätter schippern darin. Tine rümpft die Nase, aber nur kurz. Sie sieht sich weiter um und der Blick zum Himmel bringt die erwünschte Erleuchtung. Unter dem Dach hängen eine Sense, ein Rechen und weitere Gartenpflegeprodukte – und eine Zinkwanne, an ihren Henkeln stranguliert. „Holste die ma runner?“, fragt Tine ganz höflich und zeigt auf den Bottich. Mit einer bereitstehenden Leiter erfülle ich ihren Herzenswunsch und zerre das sperrige Ding bis auf die Terrasse, wo es uns seine gesamte Verdrecktheit schamlos präsentiert. Wir sehen uns und die Wanne kritisch an. Dann beschließt Tine, die immer praktischer als ich ist, dass ich nach Freibach zurückgehen möchte, um Scheuermilch und einen rauen Schwamm zu kaufen. Und noch zwei Flaschen Wein, wo ich schon mal dort unten bin. Und vielleicht auch etwas zum Knabbern, Schokolade für die Zähne und Nerven. Sie gibt mir einen Kuss mit auf den Weg und verspricht mir, während ich weg bin, darüber nachzudenken, was sie gleich noch einmal an mir so liebt, dass sie dieses Höhlenleben mitmacht. Sie meint, ich könne mir ruhig Zeit lassen.
DRITTES KAPITEL
Ich scheuere den Bottich für Tine und mich, ganz gründlich, damit sie sich wohlfühlt. Tine setzt in der Küche Wassertöpfe auf den Herd, um uns ein Bad einlassen zu können. Aber unser Bad muss getrennt konsumiert werden, weil der Bottich zu klein für uns beide ist. Dafür hat man beim Sitzen im Wasser einen schönen Blick in die Welt hinein, die hier aus Tal und Berg und Burg besteht.
Als der Bottich sauber ist, dämmert es langsam und eine kleine Brise kommt auf. Ich versuche mich als Prometheus im Wohnzimmer, um noch mehr Wasser heiß zu bekommen. Wir kippen die ganze Wanne voller Wasser, dann stell ich ihr noch ein paar Töpfe daneben, rechts die mit warmem, links die mit kaltem Wasser. Dann muss ich ins Haus und eine viertel Stunde die Bohnensuppe umrühren, während Tine wannt. Wenn ich aus dem Fenster sehe, legt sie mich übers Knie, weil sich das für ein Kind in meinem Alter nicht gehöre, sagt sie.
Dann bade ich, aus Platzgründen mit angewinkelten Beinen. Das Wasser ist schon feuchte Seife und meine Haare werden struppig. Eine Mückenleiche treibt durch die Chemie. Ich schnipse sie über die Terrasse. Ruhe sanft im Gras!
Weil es jetzt wirklich langsam frischlich wird und die Sonne in einem lila Wolkenbrei verschwindet, husche ich ins Haus, wo Tine mir am Handtuch zupft und kichert. Sie hat so schön den Tisch gedeckt, dass mir ganz romantisch ums Herz wird. Da sind zwei Teller mit dampfender Suppe, ein Brotbrett und ein paar angegraute Kerzenstumpen, die auf die Tischplatte tropfen. Wir bröckeln Brotscheiben in die Suppe und stoßen mit Wein aus Plastikbechern an.
„Jetzt sind wir Besitzer eines Hauses ohne fließend Wasser und Strom“, proste ich Tine zu.
„Und von einem Schuppen“, ergänzt sie, weil sie sich alles merkt.
„Also, auf den Schuppen!“
„Und auf uns, Kindchen.“
Wir kommen aus dem Essen und Weinen gar nicht mehr raus, bis wir bei der Schokolade angelangt sind. Im Ofen knacken die Scheite und kleine Funken hupsen auf das Eisenblech vor der Luke. Wir versuchen Karten zu spielen, aber von der Hitze um uns und vom Weinbechern wird uns ganz schummrig. Auch haben wir eigentlich gar keine Lust, jetzt an Canasta zu denken und Punkte zu zählen.
Draußen heult irgendein Vogel. „Biste dolle böse, wenn ich jetz schon ma die Oochn zumache?“, flüstert mich Tine an und ich küsse ihre Nasenspitze. „Wollen wir hochgehen?“, frag ich zurück und denke kurz an die drei Matratzen, die da auf uns warten.
„Nee, lass ma“, gähnt Tine ab. „Da oben is keen Ofen.“ Sie schmiegt sich an mich und ich halte sie ganz nah an meiner Brust. Da merk ich, wie ihr Herz gegen die Außenwände pocht, ganz ruhig und verhalten. Und dann schläft sie auch schon ein, halb auf mir und halb neben mir und ich spüre, dass sie mir eine große Welt bedeutet. Warum kann das nicht immer so sein, frage ich mich. Man hat doch viel zu wenig Zeit füreinander allein. Da komm ich mir ziemlich altklug vor für einen Moment und muss ein bisschen über mich lächeln. Ich rutsche vorsichtig auf den Deckenstapel zurück, ganz langsam, dass Tine mir nicht aufwacht. Das Rückenliegen mag ich nicht so, aber heute ist es schön, weil sie bei mir liegt und träumt. Und ich mag sie, ich mag sie sehr, weil sie so eine Wucht ist. Und weil sie mich auch so lieb hat. Obwohl sie mich kennt.
VIERTES KAPITEL
Wir frühstücken in aller Ruhe auf der Terrasse, mit Blick in die Weite. Die Sonne guckt uns an und blendet etwas. Wenn die weiter so am Ball bleibt, wird es wohl ein ziemlich ballernd heißer Tag werden.
Tine kaut ein Marmeladenbrot und reibt ihre Füße an meinem Bein. Wir haben bestens geschlafen, wir sind beide der Meinung, dass das von der wilden Luft kommt. Oder vom Wein, den Tine sonst nicht so süffelt.
„So. Erster Tag im Freien“, stellt sie jetzt ganz richtig fest. „Dann üben wir das mal mit der Liebe. Und wehe, du strengst dich nicht an!“
„Was wollen wir zuerst machen?“, frage ich, worauf Tine augenblicklich die Stirn in Falten schlägt und dann auch schon etwas weiß: „Wir gehen erst mal baden, irgendwo da unten. Und dann machen wir gar nichts.“ Ich finde den Vorschlag genial, und weil wir aufgegessen haben und das Brot eh alle ist, ziehen wir uns die Badesachen an. „Immer nackt man hier rum mit dir“, meckert Tine dabei aus der Dachetage. „So schnell kann ich mich gar nicht hübsch für dich machen, wie ich mich wieder umziehen soll. Du bist ein richtiger Leuteschinder.“
„Und trotzdem hast du mich lieb“, rufe ich nach oben, wo ich durch die Luke ihre Beine rumlaufen sehen kann.
„Da bild dir ma nüschd droff ein, Kindchen“, rumpelt Tine und hüpft in ihren Mini. „Das ist zum größten Teil mein Verdienst.“
Wir machen uns auf den Weg. Mit den Resten von Wasser medium und ein paar Handtüchern im Rucksack schließen wir Haus und Gartentür ab und schlendern Hand in Hand den Weg entlang. Wir kommen uns schon richtig einheimisch vor in dieser Gegend: Da verschluckt uns der Wald, da kommt dann die Sonne durch, ein Stück Weizenfeld, dann wieder Wald und dort träumt Freibach im Tal. Die Unstrut gluckert lauter und Tine fragt mich, ob wir darin baden können, was ich nicht weiß. Auf der Karte hatte ich einen Badesee gesehen, den suchen wir jetzt und finden stattdessen den Lebensmittelladen, in dem ich schon am Abend zuvor war. Wir sind ja nicht auf den Kopf gefallen: Wir kaufen nur das Nötigste, was Schokoladenkekse, Orangensaft und ein neues Magazin für Tine ist. Den richtig großen Haufen holen wir erst auf dem Heimweg ab, den schleppen wir nicht durch den Tag. Tine erkundigt sich beim Bezahlen bei der Verkäuferin, die mehr als nur Preise weiß, nach dem See: Da die Straße runter, dann links, hinten dort da lang und schon sind Sie da. Können Sie gar nicht verfehlen. Viel Spaß. Danke, bis später.
Am See gähnt herrschende Leere. Nicht einmal niemand ist da. Scheinbar, weil es noch vor Mittag ist und alle anderen einen Alltag haben. Und wer freihat, ist nicht in Freibach, sondern weg.
Wir schlüpfen aus den Sachen und rennen in das kühle Wasser. Es spritzt uns an, wir tauchen ab. Tine zieht mich zu sich heran und gibt mir einen U-Boot-Kuss. Als ich wieder auftauche, spuckt sie mir einen großen Teil vom See ins Gesicht und lacht. Dann haschen und bewellen wir uns, bis ihr die Arme schwer werden. „Ich will ja keinen Muskelkater haben“, erklärt sie, als sie in Richtung Ufer rudert. Eine Gänsehaut und blaue Lippen hat sie schon, trotz der Hitze, weshalb sie zurück zum Handtuch möchte. Außerdem interessiert sie sich für die kranken Bekannten in dem neuen Magazin.
Ich drehe meine Kreise, tauche nach glitschigen Steinen – und manchmal bin ich mir sicher, dass das keine Algen sind, die mir um die Knöchel streifen. Wenn man nur wüsste, wie man so einen Fisch richtig ausnimmt und ob ihn Tine überhaupt essen würde … Weil es aber im Wasser ohne sie bald ziemlich alleinsam ist, tauche ich noch ein paar Mal ab und klettere dann auch aus dem See, um mich brav neben Tine zu legen.
Eincremen, lachen, kitzeln und ein gekichertes „Lass das“: Daraus besteht unsere aktuelle Haut- und Beziehungspflege. Dann feuert die Sonne eine schläfrige Stille zu unseren beiden Handtüchern runter, auf denen wir etwas halbschattig liegen. Nichts passiert. Ich habe die Augen geschlossen, die Sonnenstrahlen betasten meinen nackten Rücken. Manchmal schlägt Tine eine Seite ihres Magazins um und löst damit jedes Mal einen Urknall in dieser zirpenden Graslandschaft aus. Wir halten uns aus, das ist schön. Selbst wenn wir nichts sagen, spüren wir uns, ohne dass es stört. Wir schaffen das mit uns, wir sind ja schon groß und werden bald erwachsen. Gott, bin ich heute romantisch angeknackst! Um mich wieder in Schuss zu bringen, denke ich gleich mal ein bisschen an das Institut, mein geliebtes Büro Nummer 305, den Schimmel im Keller, die kaltschnäuzige Sekretärin – und heute kann mich das alles mal aus der Ferne grüßen.
Die Wiese sieht milchig und wie überbelichtet aus, als ich die Augen vorsichtig öffne. Da hätte ich mich wohl nicht auf den Rücken drehen sollen, mein Bauch wird eh nie braun. Stattdessen bleichen die Augen aus. Die Zeit hat uns einfach liegen gelassen und ist schon mal etwas weitergegangen. Wie weit genau, ist schwer zu schätzen, die Sonne steht immer noch da ganz weit oben und lacht sich eins. Also kein Halbschatten mehr, dafür eine sengende Affenhitze. Tine ist eingeschlafen oder döst, das lässt sich leicht feststellen. Ich zupfe eine Gänseblume aus dem Rasen und verpflanze sie kunstvoll in Tines blonden Wuschelschopf. Nichts passiert. Eine und zwei Blumen und noch einige später sieht Tine wie meine Privatwiese aus. Weil sie immer noch nicht mit mir spielen will und lieber schlummert, muss ich ihre Nase mit einem Grashalm abreiben. Tine rümpft, knurrt leise und dreht sich. Jetzt muss ich sie ganz wecken, damit ich sie später weiterärgern kann. Ich kuschle mich an sie heran, ohne dass sie es merkt, und küsse ihr Ohr. Nur mit den Lippen, mit ganz wenig Berührung. Und ohne Reinatmen, sonst krieg ich eine auf den Deckel wegen ihrem Tinnitus.
Immerhin zieht sich ihr Nacken leicht zusammen. Aha, das kitzelt also. Weitermachen, aber woanders. Meine Finger tippeln über ihren Rücken, langsam und federleicht. Keine Reaktion. Da will wohl jemand mit aller Macht seinen Mittagsschlaf halten. Mein Mittelfinger ist schon fast an diesem einen Bändchen vorbei, da hält ihn der Zeigefinger zurück. Du, warte mal, raunt er und begutachtet das Bändchen etwas genauer. Was könnte das wohl sein? Der Mittelfinger sagt, lass es lieber, das bringt nur Ärger. Aber der Zeigefinger, dieser Schelm, ist neugierig und überredet den Daumen, an der Bändchenschleife zu rütteln. Das macht die Tine wach!
„Was wird’n das?“, fragt sie und prüft mit einem verbogenen Arm den Halt ihres Bikinis. „Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass du keine Ahnung von so was aufmachen hast.“ Ich will noch nicht aufhören und sehe sie mit kleinem Schmollmund an, während meine Hand ihren Rücken streichelt. „Na gut“, seufzt Tine und grinst. „Wenn du einen Kuss haben willst, dann hol ihn dir hier unten ab. Aber ich stehe dafür nicht auf.“ Zu Befehl! Ich lege mich neben sie und küsse ihre warmen Lippen. Ich denke an das bisschen Schilf am See, aber da ist das Ufer so glitschig und nass. Dann lieber zu den Bäumen dort! Plötzlich bekommt das efeuumrankte Unterholz eine ganz erotische Bedeutung. Aber Tine möchte ja gar nicht aufstehen, auch nach dem Küssen nicht, und auch nicht, obwohl ich ihr das mit dem Unterholz erklärt habe. Die Sonne hat sie vollkommen schlapp gemacht und so richtig in Fahrt kommt sie erst, als ich sie aufhebe und ins Wasser schmeiße.
Der verschlafene Gesichtsausdruck ist weg, die alte Tine wieder da. „Du olle Pappnase!“, flucht sie und entsteigt als Venus von Freibach den Fluten. Dass sie mich nicht ins Wasser kriegt, ärgert sie. Dafür meckert sie auf dem Heimweg bis zu dem Lebensmittelladen wie ein Rohrspatz und gibt mir Klapser auf den Hintern, damit alle Freibacher hinter ihren Gardinen hören, was für ein ungezogenes Kindchen ich bin, wie sie sagt.
Mit dem Rückweg ist das ja so eine Sache. Eigentlich sollte er ja kürzer sein als der Hinweg, aber manchmal hält er sich einfach nicht daran. Da verbündet er sich mit dem Einkauf in den Rucksäcken und mit den schweren Füßen und der bleiernen Hitze. Die Luft wird erst dünn, dann flackert sie, dann geht sie aus. Tine japst und ist selbst zum Nörgeln zu fertig. Der Wald kühlt uns die Erlösung. Zwei Pausen haben wir bis zum Haus zurück gebraucht, an der Gartenpforte tritt Tine in den Sitzstreik. „Wenn du mich heiraten willst, dann huck mich iwwer de Schwelle, Kindchen“, schnauft sie und plumpst nach hinten ins Gras. Was bleibt mir übrig, als die Rucksäcke in das Haus zu tragen. Auspacken können wir auch später, jetzt muss erst mal die Tine wieder aufgepäppelt werden. Also bewaffne ich mich mit ein paar Äpfeln, Schokolade, Wasser medium und einer Decke aus dem Wohnzimmer und trottele dann zur Tine zurück. Die guckt neugierig aus dem Wildwuchs hoch. „Nicht heiraten?“, fragt sie überrascht, weil es nicht auf die Terrasse geht.
„Nicht im Urlaub“, erkläre ich diplomatisch und breite die Decke auf der Wiese vor dem Gartenzaun aus, zwischen Moos und Grashalmen. Dann baggere ich Tine an, um sie auf die Decke zu verfrachten. Schöner Halbschatten, dazu saftige Äpfel, Schokolade und sonst nichts. Ein kleines Lüftchen geht durch das Gras, maximal einen viertel Meter hoch. Die Äpfel restaurieren uns langsam. Tine hat schon wieder Kraft, um zu gucken, ob sie von dem Mittagsschläfchen braun geworden ist. Mit der Sonne und ihrer Haut ganz zufrieden, hockt sie sich plötzlich neben mir auf.
„Jetzt will ich was spielen“, sagt sie.
„Canasta?“, frage ich und hoffe dabei was anderes.
„Nee, das olle Schachspiel da von aus das Regal neben die Bücher“, macht Tine belehrend, weil sie weiß, dass mich das immer etwas auskühlt, wenn sie sich sprachlich so viel Mühe gibt. Und schon ist sie auf und davon, kommt mit dem Spiel wieder und baut die Figuren zwischen uns auf.
Nach zwei Runden schraubt sich Tine Locken in die Strähnen, weil sie verliert und dringend einen moralischen Halt braucht. Der König sieht der Königin aber auch verdammt ähnlich! Normalerweise hat sie nichts dagegen, schachmatt gesetzt zu werden, aber beim zweiten Mal ist es äußerst knapp und sie flucht wie ein Kesselflicker und setzt mir statt einer Pistole ihren nackten Fuß auf die Brust. „Du bist ein ganz mieser Typ“, sagt sie, als ich den letzten Zug mache, und drückt das Bein durch. Ich lande im Gras, muss mich gegen die hinterherhuschende Tine notwehren und so kullern wir bald über die Decke und drüber hinaus. Weil das trockene Gras Tines Bikinihaut pikst, gibt sie sich schnell geschlagen und fordert eine ultimative Revanche.