Loe raamatut: «Folgen einer Landpartie»
TatortOst
Folgen einer Landpartie
Ein historischer Halle-Krimi
von
Bernhard Spring
mitteldeutscher verlag
Bernhard Spring wurde 1983 in Merseburg geboren, wo er das Domgymnasium besuchte. Seit 2005 studiert er Literatur und Geschichte in Halle und Leipzig. Erste eigene Essays und Kurzprosa erschienen u. a. in den Altmark-Blättern und im Blättchen. Seit 2008 arbeitet Spring als freier Mitarbeiter der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien. Im selben Jahr wurde ihm der erste Literaturpreis des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt e. V. verliehen. Spring lebt in Halle.
Die Reihe »TatortOst« bietet fesselnde Regionalkrimis aus Deutschlands Osten. Ob historischer Kriminalroman oder Gegenwartskrimi: Von Dresden über Leipzig, durch die Altmark bis Berlin und an die Ostsee ziehen dunkle Verbrechen Liebhaber von Spannungsliteratur in ihren Bann.
Mehr im Internet unter www.tatortost.de
2010
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Konzeption: Momo Evers
Covergestaltung unter Verwendung zweier Fotografien von Franziska Berthold sowie Motiven aus der Postkartensammlung Gerth Kunstmann
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
ISBN 9783954621996
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Kapitel V.
Kapitel VI.
Kapitel VII.
Kapitel VIII.
Kapitel IX.
Kapitel X.
Kapitel XI.
Kapitel XII.
Kapitel XIII.
Kapitel XIV.
Kapitel XV.
Kapitel XVI.
Kapitel XVII.
Kapitel XVIII.
Kapitel XIX.
Kapitel XX.
Kapitel XXI.
Kapitel XXII.
Kapitel XXIII.
Kapitel XXIV.
Kapitel XXV.
I.
Das Stück war elend langweilig.
Ein blindes, fast hilfloses Agieren auf der Bühne, das den angereisten Studenten im Parkett unruhig auf seinem Platz herumrutschen ließ. Dafür also hatte er den zweistündigen Ritt durch die Aue auf sich genommen, hatte die Landesgrenze passiert und sich durch die Schkopauer Wiesen geschlagen. Nur um sich die Frage zu stellen, was wohl schlimmer sei: das preußische Halle, das sämtliche Theater auf Druck der Frömmler geschlossen hatte, oder das altehrwürdige Merseburg im Sächsischen, das mit Inszenierungen dieser Art nur zu deutlich zeigte, wie viel Größe der ehemalige Bischofssitz inzwischen eingebüßt hatte.
Der junge Mann zupfte in Gedanken versunken und nur noch mäßig an dem Dargebotenen interessiert an seinen Pantalons und ließ hin und wieder den Blick durch die Reihen schweifen. Da saßen die faszinierten Merseburger, als würde ihnen hohe Kunst geboten, die nicht einmal auf Goethes Theater in Lauchstädt zu finden sei. Provinzielles Philistervolk! Selbst in Breslau wurde der Kotzebue anständiger gewürdigt.
Dabei hatte er bisher einen so positiven Eindruck von der Stadt bekommen. Mit heißer Schokolade und Kuchen hatte er sich nach dem unbequemen Ritt gestärkt, war anschließend durch die engen, gewundenen Gassen bis zu dem Domplatz gelangt, wo er mit Staunen diesen uralten Kirchbau betrachtet hatte. Solche Imposanz war in Halle nirgends oder höchstens vielleicht in der Marienkirche zu finden. Hier aber, im Dom zu Merseburg, hatte nicht nur Doktor Luther selbst von der reich verzierten Kanzel gepredigt, hier lag auch Kaiser Heinrich begraben, wie ihm ein gemieteter Führer versichert hatte. Zwischen all den teueren Reliquien der Heiligen, die in dem Dom ausgestellt worden waren, hatte ihn, den Fremden, nichts so sehr bewegt wie der katholische Altar, der die Reformation und das Ende des Bistums unbeschadet überstanden hatte. Dass er als Katholik in dieser protestantischen Region auf so alte Zeugnisse seines Glaubens gestoßen war, hatte einen Anflug von Heimweh in ihm aufkommen lassen. Doch im selben Moment schon hatte er über sich lächeln müssen, schließlich hatte er doch erst vor wenigen Wochen die Abgeschiedenheit des heimischen Schlosses Lubowitz gegen das wilde Studentenleben im unübersichtlichen, beengten Halle eingetauscht. Und wohnte er nicht Stube an Stube mit seinem Bruder Wilhelm, der sich auf so liebevolle Weise um den Jüngeren kümmerte, dass dieser ihm manchmal fast die größeren Lernerfolge verzieh? Heimweh, so dachte der junge Mann selbstkritisch, war mehr als unangebracht.
Dann hatte er in den Schlossgarten hinabgesehen, wo die Frühblüher entlang der Brunnen das Grün des Rasens aufhellten. Er hatte auch den Salon am Ende des Gartens erblickt, und als er erfahren hatte, dass man an diesem Nachmittag den großen August Friedrich Ferdinand Kotzebue geben würde, hatte er einfach dabei sein müssen.
Nun kämpfte er mit dem dringenden Wunsch, den Saal zu verlassen. Weder das Stück, noch das Publikum konnten ihn fesseln.
Lauter eintönige, hinlänglich entzückte, aber nichts verstehende Gesichter. Hier und da ein Kommilitone, der wie er einen schöner gedachten Nachmittag nun in Merseburg verlor. Der Rest war eine austauschbare, einfältige Masse.
Erst da erblickte er die Rothaarige. Ihre unter dem rüschenverzierten Kiepenhut hervorlugende griechische Frisur war der Mode um ein paar Jahre hinterher und auch ihre von der vor ihr Sitzenden verdeckte Kleidung würde ebenso wenig aktuell sein. Alles, was er davon sehen konnte, war der Kragen des Kleides, der verriet, dass sie dem städtischen Patriziat oder dem niederen Landadel des Umlandes angehörte. Dieser Stand pflegte seine althergebrachten Bräuche, die er sich nicht mehr leisten konnte. Politisch und wirtschaftlich hatte er längst ausgedient. Der junge Mann kannte die finanziellen Nöte des Landadels nur zu gut, schließlich entstammte auch er einer Familie mit solcherlei Sorgen.
Was ihn nun an dieser Person, von der er wenig mehr als das Gesicht sehen konnte, faszinierte, waren vor allem ihre Augen, die trotz der gespielten Konzentration ihres Gesichts verrieten, dass sie das dargebotene Lustspiel ebenso langweilig fand wie er. In ihr mussten zwei Seelen ruhen: die eine, die sich zu verstellen wusste und dieses kulturelle Martyrium über sich ergehen ließ. Und eine zweite schließlich, die sich nur in ihren Augen offenbarte und voller Leidenschaft und Ironie zu sein schien. Erstere war für eine gewöhnliche, spärlich begüterte Adelige durchaus gewöhnlich und uninteressant. Letztere hingegen, in ihrer hemmungslosen Ehrlichkeit, würde dieselbe Person unmöglich machen und ihr einen obszönen Ausdruck verleihen. Nur die Verbindung des anständigen, erzogenen und des geheimen, heißeren Temperaments bildete das Besondere, das der junge Mann in ihrem Gesicht angedeutet zu finden glaubte.
Aber er war tatsächlich jung, siebzehn Jahre zählte er erst, und abgesehen von einer gewissen Caroline Pitsch, seiner ersten, und zwei albernen Breslauer Gören nach ihr, die er sich mithilfe seiner Rhetorikstunden am katholischen Gymnasium hatte zu eigen machen können, war ihm das Wesen der Frauen nur aus romantischen Schmökereien bekannt. Vielleicht verfiel er aus diesem Grund der fixen Idee, jener Frau, die kaum älter als er sein dürfte, unbedingt vorgestellt werden zu müssen.
Aber leider kannte er in Merseburg niemanden, der ihm diesen Gefallen hätte erweisen können, und so wendete sich der junge Mann seufzend von dem Anblick des Fräuleins ab. Es war tatsächlich ein Jammer.
II.
Vor dem Salon kündete eine über wolkenfreiem Himmel strahlende Sonne einen angenehmen Mainachmittag an, sodass es viele Besucher nach dem Stück, dem wenig Applaus beschieden war, in das nahe liegende Kaffeehaus zog. Der junge Mann hingegen stand unschlüssig zwischen den Säulen des klassizistischen Baus und wusste nicht recht, ob er sich dem allgemeinen Sog anschließen sollte oder nicht. Er könnte auch durch den Park schlendern, vielleicht am Ufer der Saale entlang, oder auf direktem Weg über Schkopau und all die kleinen Dörfer zurück nach Halle reiten. Aber keine der Möglichkeiten schien ihn wirklich zu überzeugen. Hätte ihn doch nur sein Bruder begleitet, dann würde er nun nicht so verlassen herumstehen. Aber Wilhelm war zu bequem gewesen, um Halle zu verlassen und an einem so frühlingshaften Tag über die staubige Landstraße bis nach Merseburg zu reiten.
Inzwischen waren die meisten Theatergäste aus dem Salon getreten und hatten sich über den Park verstreut, führten Damen spazieren oder redeten bei Kuchen und leichtem Wein über das gesehene Schauspiel. Der junge Mann sah sich um und stellte fest, dass es einem anderen genauso ging wie ihm. Dieser Jemand, von strammer, wenn auch schlanker Statur, trat von einem Fuß auf den anderen und schien ganz offensichtlich auf jemanden zu warten. Als sich ihre Blicke kreuzten, nickte ihm der andere freundlich zu. Der junge Mann erwiderte den Gruß, und dadurch ermuntert, kam der Fremde auf ihn zu.
»Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen so plump bekannt mache«, erklärte er ohne Umschweife und streckte dem jungen Mann die Hand entgegen. »Mein Name ist Heinrich von Botfeld.«
Froh über eine willkommene Unterhaltung ergriff der junge Mann die ihm dargebotene Hand und nannte nun auch seinen Namen: »Joseph von Eichendorff.«
»Verzeihen Sie, dass mir dieser Name nicht geläufig ist. Sie stammen nicht aus dieser Gegend?«
Eichendorff nannte den oberschlesischen Ort Lubowitz bei Ratibor und fügte, da dieser Botfeld unbekannt war, hinzu: »Mich hat das Studium hierher verschlagen.«
Damit war das Zauberwort gefallen, denn dort, wo sich junge Leute als Kommilitonen erkennen und noch dazu als solche derselben Fakultät, werden sie sich schnell vertrauter. So plauderten auch diese zwei Studenten bald ganz versonnen über den neuesten Roman August Heinrich Julius Lafontaines und den letzten Krawall in dem Gasthaus Drei Könige, wo sich ein Hallenser Bürger mit einem Studenten aus Stendal angelegt und ein blaues Auge kassiert hatte. Er hatte noch Glück gehabt, dass kein Degen gezogen worden war! Die Stadt Halle lag eindeutig in der Hand der Studenten, die aus aller Herren Länder hierher kamen, um zu lernen, vor allem aber auch, um fernab der Heimat in Ausgelassenheit und Freiheit zu leben. Die Bürger mochten sich über das haltlose Treiben der Studiosi mokieren, wie sie wollten. Zuletzt waren sie doch auf die jungen Herren angewiesen, denn seit dem schleppenden Niedergang der heimischen Wollfabriken und Spinnereien waren es die Studenten und Garnisonssoldaten, die das Geld in die Stadt brachten. Sie waren Mieter, Wirtshausgäste und Flaneure, die über Lust und Geld genug für allerlei Zeitvertreib verfügten. Und schließlich waren sie die Anwärter auf die attraktiven Posten in der preußischen Verwaltung, bei den Gerichten des Landes und in den Regierungsräten. Letztlich galt es bei all der Freilebigkeit doch, sich für eine behagliche Zukunft zu qualifizieren. So hatten auch die beiden jungen Herren mehrere Seminare der Jurisprudenz belegt und wunderten sich nun, dass sie sich noch nicht bei dem alten Professor Schmaltz begegnet waren, und amüsierten sich so sehr über dessen Schrulligkeiten, dass sie darüber glatt die Zeit vergaßen.
Erst ein verhaltenes Räuspern und das kaum wahrnehmbare Rauschen eines Kleides brachten die beiden Männer von ihrem Gespräch ab. Da war sie wieder, diese märchenhafte Rothaarige, die Eichendorff im Theater aufgefallen war und die ihm nun als Botfelds Schwester Undine vorgestellt wurde. Er wollte ihr noch einmal so unverhohlen in die Augen sehen, doch auch als er sich zur Begrüßung vor ihr leicht verneigte, hielt sie den Blick dezent gesenkt. Hatte sie sich zuvor im Theater unbeobachtet gefühlt und offen ihr Gesicht gezeigt, hielt sie sich nun sittsam zurück, was Eichendorff umso reizvoller vorkam.
Als Botfeld vorschlug, gemeinsam das Kaffeehaus aufzusuchen, stimmte Eichendorff mit Freuden zu. Auf dem Weg durch den Park versuchte er, Undine näherzukommen, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber Botfeld, der wohl den neuen Bekannten in blinder Freundlichkeit zu unterhalten versuchte, nahm ihn mit einer ausschweifenden Aufzählung aller familiären Höhepunkte der Botfelds völlig in Beschlag. Außerdem schien Undine keinen übergroßen Wert auf die Gesellschaft Eichendorffs zu legen, sondern ging schweigend am Arm ihres Bruders neben den Männern her, und nachdem sie auf der Terrasse Platz genommen hatten, blickte sie von der Gesellschaft weg in den Park hinaus, sodass Eichendorff kaum mehr als ihre Haube zu Gesicht bekam. Botfeld hatte sich nun ganz in den unglaublichen Ereignissen seiner großartigen Ahnen verloren und Eichendorff fehlte es an Mut und Geschick, durch einen gekonnten Einwurf das Gespräch wie von selbst auf die stille Frau zu lenken, deren freundlicher, doch distanzierter Blick ihn ab und zu im Vorbeifliegen streifte, aber doch nie völlig traf.
Während Eichendorff zu allem, was ihr Bruder von sich gab, fleißig nickte, betrachtete er Undine unablässig aus den Augenwinkeln. Ihr Gesicht war unbewegt und verschlossen, gelangweilt ohne Zweifel. Ihr Temperament aber, das Eichendorff ganz sicher in ihr vermutete, lag tief verborgen irgendwo unter dem dunklen Baumwollkleid und hinterließ nun keine sichtbare Spur mehr auf ihrem Gesicht.
So verging fast eine Stunde, in der Undine eisern schwieg, ihre Schokolade nippte und lieber den Schlosspark in seiner farbenfrohen Blumenvielfalt als den Unbekannten betrachtete. Und so gab sich Eichendorff notgedrungen mit Botfeld zufrieden, beide kamen nach all den vorangegangenen Botfelds schnell wieder auf die Universität und das Gewühl der zwölfhundert Studenten zu sprechen und begründeten bei bitterem Merseburger Schwarzbier, von dem Eichendorff schon in Halle gehört hatte, ein freundschaftliches Verhältnis. Pfeife rauchend ließen sie den späten Nachmittag ausklingen. Bei der Verabschiedung schließlich, die vonseiten der Geschwister von Botfeld ähnlich wie die Begrüßung unterschiedlich herzlich ausfiel, lud Botfeld Eichendorff dringlichst für den nächsten Samstag auf eines der familiären Güter im nahen Geusau ein, was dieser dankend annahm.
Auf dem Heimweg nach Halle hatte Eichendorff genug Zeit, um über das Erlebte nachzudenken und sich Kommendes auszumalen, wobei sich immer wieder das Antlitz Undines in seine Gedanken schlich. Dabei hatte Botfeld nicht einmal erwähnt, ob Undine überhaupt in Geusau sein würde, es gab also keinerlei Gründe für Eichendorff, irgendetwas zu hoffen. Vor allem, wo sich Undine ihm gegenüber so reserviert verhalten hatte. Seufzend kam Eichendorff zu dem Schluss, dass die Frauen des Merseburger Landes geheimnisvoll, aber auch furchtbar kompliziert seien.
III.
Es begann bereits zu dämmern, als Eichendorff endlich durch das Rannische Tor Halle erreichte. Nachdem er nahe der Stadtmauer die gemietete Stute zurückgegeben hatte, beeilte er sich, zum Domplatz zu gelangen, wo er und sein Bruder in der Residenz Quartier bezogen hatten. Sicher wartete Wilhelm schon auf den Jüngeren, denn durch die unerwartete Bekanntschaft mit den Botfelds hatte sich sein Aufenthalt in Merseburg erheblich verlängert.
Als er aber die Residenz erreichte, fand er beide Stuben leer. Wilhelm war, wie eine Notiz verriet, mit einigen Verbindungsstudenten ausgegangen. Eichendorff vermutete die Freunde in der Goldenen Rose oder einer Kaschemme in der Kleinen Ulrichstraße. Sie würden dort zechen, bis Wilhelm weit nach Mitternacht von Kommilitonen gestützt nach Hause kommen würde. Er vertrug nicht viel, hatte es noch nie getan. Doch er kannte seine Grenzen nicht, war ausgelassen und auch ein wenig prahlerisch, sodass er den anderen in nichts nachstehen wollte.
Eichendorff war es ganz recht, dass er allein geblieben war, und er verspürte auch kaum Lust, nach den anderen in den zahlreichen Wirtshäusern der Stadt zu suchen. Er fühlte sich viel eher in einer rätselhaft romantischen Stimmung und genoss die Einsamkeit, in der er sich befand. Von Anfang an hatte er sich in der Neuen Residenz aufgehoben gefühlt, vielleicht weil es die einzige katholische Glaubensinsel in einem Meer des Protestantismus war. Hier hatte die durch die in Halle stationierten, altgläubigen Garnisonssoldaten um einiges angewachsene Gemeinde Unterschlupf gefunden, in den Flügelsälen des Gebäudes wurden das tägliche Abendlob und die sonntäglichen Messen abgehalten. Da vor Kurzem zu allem Unglück das Pfarrhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite niedergebrannt war, wohnte nun auch das gesamte Gemeindepersonal in der Residenz, sodass zu allen Tageszeiten fromme Gesänge einzelner Stimmen oder kleiner Chöre aus dem Hof zu Eichendorffs Fenster klangen. So hörte er auch in diesem Moment einen Mann vor sich hin summen und erkannte in der einbrechenden Dunkelheit den kahlen Kopf des Subdiakons, bei dem die Eichendorffs ihre Stuben angemietet hatten und der sich nun auf dem Weg zu der kleinen Kapelle befand. Eichendorff sah dem Kirchendiener nach, bis dieser aus seinem Blickfeld verschwand. Dann machte auch er sich auf. In Gedanken verloren verließ Eichendorff die Residenz, flanierte über den Domplatz und kehrte in ein kleines Wirtshaus in der Klausstraße ein. Dort nahm er ein bescheidenes Abendbrot zu sich, verstärkte mit Rotwein sein melancholisches Gemüt und ging bald, da es ihm zu laut in dem Saal wurde, wieder zurück auf die dunkle Straße. Er hätte Jakob Schöpp, seinen treuen Diener und Gefährten, mitnehmen können, so wie er es sonst beinahe jeden Abend tat. Doch ihm war nicht nach einer Begleitung, er wollte allein sein.
Ihm ging die Rothaarige nicht aus dem Kopf, Undine von Botfeld. Warum hatte sie ihm nicht das geringste Interesse entgegengebracht? Er hätte sie gern verschmäht für ihr ablehnendes Verhalten, doch sah er ihr Gesicht, ihre Augen so klar vor sich, dass er es nicht über das Herz brachte, sie, die er kaum kannte, so streng zu verurteilen. Was war geschehen, hatte sie ihn in diesem kurzen Augenblick verzaubert? Oder hatte sie ihn unabsichtlich eingefangen? Ein wehmütiges Lächeln trat auf Eichendorffs Lippen. Sein Vater würde ihn mit einem nachsichtigen Blick bedenken, Wilhelm würde Scherze reißen. Der Seppel hat sich in eine kleine Minke vernarrt, alberne Gefühlsduselei. Der Vater, der ehrenwerte Freiherr Adolf Theodor Rudolf von Eichendorff, war ein kühler Kopf, der mit schmalem, doch verdientem Profit die Familiengüter verwaltete. Den klaren Verstand und den Sinn für die Wirtschaft hatte er an Wilhelm vererbt, beiden blieb Eichendorffs sensibles Empfinden der Poesie verschlossen, und auch wenn Wilhelm jetzt in Halle einige Vorlesungen der Geisteswissenschaft besuchte, so doch nur, weil er fest daran glaubte, durch sie eine mögliche Erklärung für die sich wandelnde Gesellschaft und deren Wirtschaftskraft zu entdecken. Doch über mehr als eine geringfügige musische Laune, die er im Privaten pflegte und in allen öffentlichen Angelegenheiten vollkommen verbarg, verfügte Wilhelm nicht. Sicher würde er, der Ältere, den geschickteren Gutsherrn abgeben. Ihm würde es gelingen, die Stellung der Eichendorffs im Oberschlesischen fester abzusichern und ganz im Interesse des Vaters das elterliche Erbe zusammenzuhalten und sogar zu vermehren. Der Jüngere hingegen bliebe ja doch der kindlichen Kurzweil verhaftet und könnte höchstens bewahren, was der Vater ihm eines Tages hinterlassen würde.
Eichendorff wanderte durch die nächtliche Stadt, durch das untere Steintor, bis er zu dem Martinsberg gelangt war und in dessen Nähe den düsteren Stadtgottesacker betrat. Nein, er war nicht verliebt, er fühlte nicht die begehrende Unruhe in sich wie damals, erstmals und bislang zum einzigen Mal, in Breslau, in den Armen der Caroline Pitsch. Wenn er an Undine dachte, so doch nur, weil sie ihm ein Mysterium war, das nicht preisgeben wollte, was es in sich verborgen hielt. Er wollte ihr nahe sein, ohne sie zu lieben. Er wollte sie kennenlernen, doch auf eine Weise, wie sonst niemand Undine kannte. Aber war dieser Wunsch nicht doch ein stilles Zeichen der noch jungen Verliebtheit? Von Sehnsucht gepackt, setzte sich Eichendorff auf eine der hölzernen Bänke, die die Grabzeilen des Friedhofs umrahmten, und blickte auf die Stadt hinab.
Was hatte Botfeld ihm gesagt? Am Sonnabend sei eine Entenjagd und er herzlich dazu eingeladen, auf dem Gut zu übernachten. Von Merseburg aus würde ein verstaubter und gewundener Weg nach Geusau hinausführen, vorbei an Atzendorf und durch ein teils sumpfiges, lichtes Waldland. Wo aber wohnte Botfeld während des Studiums in Halle? Eichendorff war es entfallen, oder hatte er gar nicht danach gefragt?
Schuld an seinen verwirrten Gedanken musste die Neuheit der kleinen, doch heftig pulsierenden Stadt Halle sein, ihr buntes Markttreiben, die Enge der oft mit Grasnarben bewachsenen Gassen, vor allem aber der neblige Dunst, der aus den Salzkoten im Tal aufstieg und sich mit seiner Bitterkeit weit über die Ränder der Stadt als übler und widerlicher Gestank ausbreitete. Dazu kam der Wirrwarr der jungen Universität, an der die Größen der Zeit lehrten und die Sprosse zahlreicher Adelsfamilien studierten, all die verschiedenen Burschenschaften mit ihren Farben und Trachten, ihren Ansichten und Parolen. Kurz, die Stadt war ein fantastisches Durcheinander von Sinneseindrücken, die Eichendorff aufwühlten, sodass er sich nur allzu bewusst war, dass das Bild, das er sich von Undine ausmalte, wesentlich aus Illusionen und Fantasterei bestand. Aber gerade dies machte ihn so neugierig auf die Wirklichkeit hinter der Maske aus seinen Gespinsten und ihrer reservierten Höflichkeit.
Ein frischer Wind fuhr dem in seine trüben Gedanken versunkenen Mann durch die Kleider und er begann zu frösteln. Es würde Zeit für den Heimweg werden, wollte er sich hier draußen nicht verkühlen. Als er zwischen den Grabsteinen umherging, dem Tor, durch das er den Gottesacker betreten hatte, entgegen, dachte er an den jüngst verstorbenen Dichter Novalis und dessen sehnsüchtige Verse, die er seit einigen Jahren immer wieder gern las. Wie langsam würde die Zeit bis zum Sonnabend vergehen, fragte sich der junge Mann. Ihm war trotz oder vielleicht gerade wegen der fortgeschrittenen Stunde an diesem morbiden, beinah schaurigen Ort unerwartet musisch zumute und mit halblauter Stimme reihte er spielerisch die Worte aneinander, die ihm gerade einfielen. Diesen Zeitvertreib hatte er schon oft betrieben, auch wenn ihm keine dieser Reime erhalten geblieben waren. Doch als er in dieser Nacht das hallische Stadttor erreichte, hatte er den Vierzeiler bereits fest im Gedächtnis:
In der stillen Pracht
In allen frischen Büschen und Bäumen
Flüstert’s wie Träumen
Die ganze Nacht.